Franz Fühmann:
Saiäns-Fiktschen.

Hirnstorff Verlag. Rostock. 1981. 1979
Es war zu DDR-Zeiten ein Geheimtip: "Saiäns-Fiktschen". Ich habe es damals irgendwoher geborgt, gelesen und wieder vergessen - vielleicht verdrängt. Ich habe eine Erinnerung an Verwirrung, an Ent-Täuschung, denn ich las gern utopische Literatur (die bei uns sowieso nicht oft "Science Fiction" genannt wurde) und fand diese natürlich bei Fühmann nicht. Aber er hatte ja solches auch nicht versprochen, sondern eben "Saiäns-Fiktschen".

In der ersten Erzählung "Die Ohnmacht" erleben wir mit, dass ein Wissenschaftler eine Erfindung gemacht hat, die es uns ermöglicht, einige Minuten in die Zukunft zu sehen. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass genau das geschieht, was wir gesehen haben, auch wenn wir beschließen, etwas anderes zu tun. Den freien Willen gibt es nicht - alles ist vorherbestimmt. Ich kann mir gut vorstellen, dass ich mich damals hilflos fragte, was ich damit soll. Später las ich eine Erzählung von Sartre, in der ein Gestorbener die Chance bekommt, wieder zu leben - und er ist absolut nicht in der Lage, seine Situation zu ändern, das Ergebnis ist immer Dasselbe. Da fragte ich mich dann, wieso ausgerechnet Sartre so etwas geschrieben hat - Sartre ist ja nun einer der Hauptvertreter der Ansicht, dass man immer eigene Entscheidungen zu treffen hat, dass das immer etwas verändert. Bei Sartre konnte ich mir die deterministische Geschichte als Mittel der Provokation vorstellen, bei Fühmann war ich dazu noch nicht in der Lage gewesen.

Die alte Frage, ab wievielen zusammen gelegten Elementen ein Haufen tatsächlich ein Haufen ist (die sog. SORITES-Frage), wird von Fühmann als Ausgangspunkt einer humorvollen Charakterisierung von dogmatischer Wissenschaft und Philosophie genommen. Der Neutrinologe, der übrigens an der Aufgabe arbeitet, die per definitionem nicht nachweisbaren Neutrinos als nicht nachweisbar nachzuweisen, besucht seinen Kollegen Philosophen, der zuerst experimentell versucht, aus dem Zusammenlegen einzelner Schräubchen einen Haufen zu erzeugen und zu bestimmen, aber wieviel Schräubchen der Haufen entstanden war. Aber warum überhaupt experimentieren? Die beiden stellen fest, dass man versuchen könnte, die Lösung aus den Schriften der "Kameraden Klassiker" herauszubekommen. Oder noch besser. Das Haufenproblem ist ja ein Problem der alten klassischen griechischen Philosophie. Daraus folgt: "Die Kameraden Klassiker hätten immer recht, die Kameraden Klassiker hätten auch in bezug auf Probleme der griechischen Sophistik recht; der SORITES sei ein Problem der griechischen Sophistik; Probleme der griechischen Sophistik seien Probleme der Philosophie der Vorläufer der Kameraden Klassiker; Probleme der Philosophie der Vorläufer der Kameraden Klassiker seien durch die Philosophie der Kameraden Klassiker aufgehoben; die Philosophie der Kameraden Klassiker habe den Rang einer Wissenschaft; was in der Wissenschaft aufgehoben sei, habe seine wissenschaftliche Lösung erfahren; also habe auch der SORITES seine wissenschaftliche Lösung erfahren"

Leider wird der Philosoph dabei verrückt, eine Art Betriebsunfall. Das zeigt sich nicht zuletzt in einer seinem letzten Schrei: "Ich will eine echte Lösung!". Sein Physiker-Kollege ist da schon klüger: Unsre Ahnen von Galilei bis Einstein haben drei Jahrhunderte lang auch nur echte Lösungen gesucht, nur die Lösung ihrer Probleme, nichts weiter, und was daraus geworden ist, wissen wir ja: die beiden Atomkriege, und danach unsre Ächtung, und die Eltern warnen seitdem ihre Kinder: Seid hübsch fleißig und ordentlich, sonst mußt du einmal freiwillig Physik zwangsstudieren! Seitdem sitzt ein Kamerad vom Befreiungskontrolltrupp in jedem Labor und wacht, daß wir nur mehr Schon-Bekanntes entdecken, immer reihum Schon-Bekanntes, und glaube mir, es ist weise so! Es ist diese Art zu schreiben, die das Lesen zum Genuss macht, obwohl der Inhalt aller Erzählungen spätestens im Nachhinein aus dem vielleicht erst leisen Unbehagen in ein stärkeres Schauern führt. Erschauert lege ich das Buch beiseite, die Erschütterung klingt lange nach - vielleicht ist das das Beste, was ein Buch erreichen kann.

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