Noch einmal zur "Totalität"

1. Totalität bei Hegel und Marx

Hegels Philosophie wird vor allem deswegen abgelehnt, weil sie in ein starres System einzumünden scheint. Ihr Ergebnis soll ein geschlossenes System sein, in dem alles Gewesene und zukünftig Mögliche eingeschlossen ist, in dem und aus dem heraus nichts Neues mehr möglich ist.

Bei genauer Betrachtung zeigt sich jedoch Folgendes: Hegels Kreis von Kreisen der Entwicklung der Begriffsmomente könnte zwar an jedem beliebigen Punkt beginnen - nichtsdestotrotz zeichnet Hegel eine Richtung der Entwicklung als Fortentwicklung aus - jene, die - soweit man das verallgemeinern kann - jeweils von Unmittelbarem über (verständig) Abstraktes zu (vernünftig) Begriffenem führt. Das vernünftig Begriffene ist also die höchste Form der Erkenntnis und gleichzeitig der Entwicklung der Sache, die dann identisch mit ihrem Begriff geworden ist. Gerade das Fortschreiten vom wesenslogischen zum begriffslogischen Denken ist es auch, das bezweifelt wird, denn es führt zu einem "wahren Ergebnis", es kann nicht mehr unentschieden in verschiedenen, nur-negierenden abstrakten Reflexionen verharren. Ist das dann nicht schon Totalitarismus?

Ist die Totalität tatsächlich solch ein gefürchtetes geschlossenes System? Die Seins-, die Wesens- und die Begriffslogik sind verschiedene Denktypen, die einander im Verlauf der Entwicklung aufheben. Die Seinslogik entspricht in gewissem Sinne der antiken Denkweise, bei der einzelne Dinge mit ihren Eigenschaften untersucht wurden (und dabei diese Eigenschaften substantiviert wurden: das Schöne, das Wahre, das Gute) (vgl. Wahsner 1996a). Neuzeitliches Denken berücksichtigt, dass es keine wirklich isolierten Dinge mit nur in/an ihnen haftenden Eigenschaften gibt, sondern das Verhalten der Dinge in ihren Wechselbeziehungen zum Gegenstand des Denkens werden muß. Dies entspricht der Wesenslogik. Das Verhalten, und die Beziehungen, d.h. die Bewegung selbst wird zum Gegenstand. Manchmal geht das dann so weit, dass davon abstrahiert wird, was sich eigentlich verhält und bewegt (Strukturalismus, abstrakte Systemtheorie). Auch wenn nicht dieses Extrem vorliegt, ist es für die Wesenslogik typisch, dass sich zwei Seiten gegenüber stehen und dann durch ihnen äußerliche Beziehungen miteinander wechselwirken. Die Seiten können die einzelnen Teile eines Ganzen selbst sein. Oder die Seiten sind Teile und Ganze. Eine Seite wird vorausgesetzt und es wird geschaut, wie sie die andere hervorbringt, beeinflusst. Das Ganze geht dann auch andersherum. Aber beide Seiten sind einander äußerlich - sie lassen sich als zwei getrennte "Kästchen" nebeneinander schematisieren und zwischen ihnen gibt es verbindende Pfeile in beide Richtungen.

Hegels Konzept reicht jedoch noch weiter. In der Begriffslogik verbinden sich das unmittelbar-Konkrete und das allgemeine Beziehungsgeflecht auf nicht mehr äußerliche Weise. Hier ist eine Seite in der anderen Seite enthalten, was sich nicht mehr angemessen durch ein Kästchen im Innern eines anderen Kästchens "vorstellen" läßt, denn als Getrenntes gibt es die Kästchen gar nicht mehr. Wir sind in der Begriffslogik, dem begreifenden Erkennen. Außerdem geschieht noch etwas anderes Wichtiges: Die Dinge sind nicht mehr als statische denkbar. Sie sind selbst Bewegungen (sich selbst bewegend) und diese Bewegungen sind unauflöslich ineinander verflochten. Jede gedankliche Auflösung zerstört das Begreifen und führt zurück zur Wesenslogik.

Hegel führt diesen Weg vom Unmittelbaren (sinnlich-konkretem-Einzelnen) über das wesenslogische abstrakt-Allgemeine zum als sich selbst widersprüchlich vermittelnder bewegender begriffenen konkret-Allgemeinen in seinem Gesamtkonzept viele Male durch - für jeden Gegenstand, den er betrachtet.

Mit Marx ist zu ergänzen (R. Wahsner machte darauf aufmerksam - vgl. Wahsner 1993/1996, S. 196ff.), dass im Unterschied zu Hegel der "Kreis von Kreisen" des schöpferischen Durchlaufs der Begriffsmomente das Gegenständliche ("Materie") nicht vollständige in seinen Beziehungen aufgeht.

Diese Bewegung des Erkennens von der sinnlichen Gewissheit über die Wahrnehmung der Dinge und ihrer Erscheinungen zum verständigen Unterscheiden der Teile bis hin zum Begreifen der in sich verflochtenen Entwicklungszusammenhänge meint zwar bei Hegel primär den großen Kreis der Selbst-Erkenntnis des Göttlich-Absoluten - gilt aber für jedes Begriffsmoment (für jede Sache) selbst auch (wie bei einer fraktalen Selbstähnlichkeit).

Nicht nur "Gott" oder "die ganze Welt und ihr Grund" sind also eine Totalität, sondern: jede Entität, wenn man sie nur in dieser Art und Weise begreift.

2. Totalität bei Nikolaus von Cues

Ich verdanke Renate Wahsner eine Verdeutlichung der Vorstellungen, auf die Hegel sich mit seinem Totalitätsbegriff stützt (ohne dass er das explizit ausführt). Gemeint ist die Vorstellung des "Jegliches ist in Jeglichem" (Cues, S. 96). Nach Wahsner besagt diese Vorstellung" dass jedes Geschöpf, jedes Einzelne innerhalb der Grenzen, die ihm durch seine Sondernatur gesetzt sind, in sich vollendet ist." (Wahsner 1996b., S. 217)

Eine solches in sich Vollendetes ist aber - nach Hegel - kein starrer Kristall, keine die Besonderheit ihrer Bestandteile auslöschende Ganzheit (wie es Schellings Absolutes ist, dem Hegel vorwirft, dass bei ihm alle Kühe schwarz seien), sondern das sich durch die konkreten Widersprüche seiner sich gegenseitig enthaltenden Momente unaufhörlich selbst Bewegende - eben die "Totalität" im Hegelschen Sinne.

Das Begreifen dieser Art Totalität, des konkret-Allgemeinen, löst den Gegensatz zwischen isoliert-Einzelnem und Allgemeinem; es ist - nebenbei bemerkt - auch der Ausweg aus dem ewigen Entgegensetzen von Individuum und Gesellschaft. Die beiden vorher entgegengesetzten Seiten werden zu einer Einheit vermittelt, nicht so, dass sie danach logisch identisch wären. Das Individuum ist nicht die "ganze Gesellschaft/Welt"; die "ganze Gesellschaft/Welt" zieht sich nicht in ein Individuum zurück. Aber: die ganze Gesellschaft/Welt ist in jedem Individuum und jedes Individuum "spiegelt" die ganze Gesellschaft/Welt.

Dabei ist das Individuum nicht mehr "außer" dem Ganzen vorgestellt und dann eine äußere Beziehung, ein äußeres Medium (quasi als "Leim") gesucht. Das Individuum bekommt das Ganze nicht mehr "aufgedrückt" (in der "Sozialisierung") oder "hat Teil" an dem Ganzen, sondern - mit Cuesschen auf Gott bezogenen Ansatz - "Der menschliche Geist wird zum Symbol des göttlichen Seins. Dies wird er aber nicht als dessen Abdruck oder als Teilhabe, sondern einzig in seinem Werden, seiner Selbstentfaltung und Selbstgestaltung." (Wahsner 1996b, S. 218; Hervorheb.v.A.S.).

Literatur:

Cues, Nicolaus von: Von der Wissenschaft des Nichtwissens (De Docta Ignoratia). In: Des Cardinals und Bischofs Nicolaus von Cusa wichtigste Schriftten in deutscher Übersetzung von F. A. Scharpff, Freiburg im Breisgau: Herder,1862.
Wahsner, Renate (1993/1996): Gott arbeitet nicht. Zur Notwendigkeit, Karl Marx einer optimalen Messung zu unterziehen. In: Wahsner, Renate: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis. In: HEGELIANA. Band 7. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Peter Lang, 1996. S. 175-202.
Wahsner, Renate (1996a): Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis. In: HEGELIANA. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 7. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Peter Lang
Wahsner, Renate (1996b): Skizze des neuzeitliches Denkens nach dem Konzept des Nikolaus von Cues. In: Wahsner, Renate: Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis. In: HEGELIANA. Band 7. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Peter Lang, 1996. S. 216-222.


 


 

 
 

 

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