Begreifendes Denken als
Besserwisserei?
Das Fortschreiten der Bestimmungen von der Seinslogik über die Wesenslogik zur Begriffslogik führt auch dazu, die jeweils folgenden als umfassendere zu betrachten. Dies negiert und kritisiert jeweils die Vorhergehenden. Das "nur" seinslogische Denken, d.h. das Verhaftetsein im Unmittelbaren, dem Sinnlichen wird kritisiert und negiert vom verständigen, wesenslogischen Denken, das Dinge und Erscheinungen qualitativ unterscheidet; Ordnungen findet, gesetzmäßige Zusammenhänge zwischen unterschiedenen Aspekten. Aber auch diese Denklogik ist wiederum negierbar und aufhebbar durch das begriffslogische Denken, das Denken der Einheit von Einheit und Unterschieden der Momente einer Totalität. "Begriffen" ist etwas erst, wenn sich seine unterscheidbaren Momente aus sich selbst entwickeln, sie sich sogar widersprechen und gegenseitig enthalten. Also sehr kompliziert zu denken. Etwas vereinfacht (und nicht ganz hegelsch, weil Hegel historische Prozesse nicht zum Thema hatte) kann dieses begriffslogische Denken "übersetzt" werden als "Denken in Entwicklungszusammenhängen", "alles in seinem umfassenden Entwicklungszusammenhang sehen".
Daraus könnte sich nun ableiten lassen, dass begriffslogisches Denken "besser" oder "mehr wert" sei als wesenslogisches oder gar seinslogisches. Wer "begriffslogisch denkt" wüsste es also besser... Allerdings ergibt sich bereits aus dem typisch Hegelschen Verständnis von "Aufhebung" und "Negation", dass das Negierte und Aufgehobene niemals nur negativ zu betrachten ist, sondern sogar als notwendig vorausgesetzt wird, um die jeweils weiteren Stufen zu erreichen. Schon das verbietet eine Abwertung.
Da es Hegel auch grundsätzlich nicht um den Erkenntnisprozess einzelner Individuen geht, kann auch nicht bei Hegel gesucht werden, ob er die verschiedenen Stufen unterschiedlich "bewertet". Dass wir es beinahe automatisch hineininterpretieren, mag an unserer vorzugsweisen Sozialisation und Gewohnheit liegen, nicht an Hegel!
Ein Hinweis, wie Hegel mit unterschiedlichen Erkenntnisformen bei einzelnen Menschen umgeht, gibt eine Stelle in seiner Religionsphilosophie:

Es kann der Fall sein, daß die Religion durch die philosophische Erkenntnis im Gemüte erweckt wird; aber es ist nicht notwendig und es ist nicht die Absicht der Philosophie zu erbauen, sowenig sie sich dadurch zu bewähren hat, daß sie in diesem oder jenem Subjekte die Religion hervorbringen müsse. Denn die Philosophie hat wohl die Notwendigkeit der Religion an und für sich zu entwickeln und zu begreifen, daß der Geist von den anderen Weisen seines Wollens, Vorstellens und Fühlens zu dieser absoluten Weise fortgehen muß; aber so vollbringt sie das allgemeine Schicksal des Geistes, - ein anderes ist es, das individuelle Subjekt zu dieser Höhe zu erheben. Die Willkür, Verkehrtheit, Schlaffheit der Individuen kann in die Notwendigkeit der allgemeinen geistigen Natur eingreifen, von ihr abweichen und versuchen, sich einen eigentümlichen Standpunkt zu geben und sich auf demselben festzuhalten. Diese Möglichkeit, sich in Trägheit auf dem Standpunkt der Unwahrheit gehenzulassen oder mit Wissen und Wollen auf demselben zu verweilen, liegt in der Freiheit des Subjekts, während Planeten, Pflanzen, Tiere von der Notwendigkeit ihrer Natur, von ihrer Wahrheit nicht abweichen können und werden, was sie sein sollen. Aber in der menschlichen Freiheit ist Sein und Sollen getrennt, sie trägt die Willkür in sich, und sie kann sich von ihrer Notwendigkeit, von ihrem Gesetze absondern und ihrer Bestimmung entgegenarbeiten. Wenn also die Erkenntnis wohl die Notwendigkeit des religiösen Standpunktes einsähe, wenn der Wille an der Wirklichkeit die Nichtigkeit seiner Absonderung erführe, so hindert das alles nicht, daß er nicht auf seinem Eigensinn beharren und sich von seiner Notwendigkeit und Wahrheit entfernt halten könnte.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. In: G.W.F. Hegel Werke in 20 Bänden Suhrkamp Verlag 1970, Band 16. S. 14

Es ist also geradezu ein Kennzeichen menschlicher Freiheit, sich auch gegen bestimmte Denkformen entscheiden zu können, die für Hegel durchaus mit Notwendigkeit und Wahrheit verbunden sind. Dieser Wahrheitsanspruch führt also explizit nicht dazu, alle Menschen zwingen zu wollen, so zu denken.
Dass Hegel selbst von einem Fortschritt im Gang seiner Überlegungen überzeugt ist, wird auch ihm nicht wegzuzwingen sein. Er jedenfalls bietet Argumente und Gründe für jeden seiner Schritte an.
Für jedes menschliche Denken ist dann zu entscheiden, ob es sich ebenfalls aufs Feld des Argumentierens und der Begründungen begeben will. Dann hat es die Chance, aus den Erfahrungen Hegels Nutzen zu ziehen. Oder auch nicht. Dann befindet es sich aber in einem anderen Denk- bzw. Sprachspiel...

 
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