3 Verstand und Vernunft bei Hegel
3.1 Differenzierender und abstrahierender VerstandErinnern wir uns daran, dass die Bedeutung eines Begriffs sich aus seiner Rolle im Entwicklungsgang erklärt. Verstand und Vernunft sind aufeinander folgende Stufen des sich entwickelnden Bewusstseins. Sie tauchen als Lösung von vorherigen Widersprüchen auf, enthalten selbst Widersprüche und werden deshalb aufgehoben (negiert, höher gehoben, aufbewahrt) in der weiteren Entwicklung. Verstand und Vernunft werden bei Hegel in der Entwicklung des Bewusstseins eines Individuums abgehandelt. Dies geschieht in der Schrift „Phänomenologie des Geistes“ (HW 3) und, etwas verändert, im dritten Teil der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse“ (HW 10).
Bevor wir verständig denken können, haben wir unmittelbare sinnliche Empfindungen. Diese nehmen wir wahr, sobald wir qualitativ inhaltlich bestimmen können, WAS wir da wahrnehmen. Wir bilden die Vorstellung von Dingen und Eigenschaften, indem wir die gegenseitige Vermittlung dieser qualitativen Bestimmungen erfassen. Wahrnehmung ist aufgrund der Vermitteltheit des Wahrgenommenen eine höhere Form des Bewusstseins als die bloß unmittelbare Empfindung (vgl. HW 3: 82 ff., HW 10: 207f.). Wir beginnen das Wahrgenommene zu verstehen, wenn wir lernen, die Vielfalt der Erscheinungen auf etwas den Erscheinungen gemeinsam Zugrundeliegendes zu beziehen. Verschiedene einzelne Phänomene haben etwas miteinander gemein, sie werden durch etwas Allgemeines vereint. Insbesondere das Verstehen der Phänomene als Wirkung von Kräften ist eine Leistung des Verstandes. Der Verstand erkennt auch die jeweiligen inneren Gesetze, die bei allem Wandel identisch bleiben.
Die zweite Aufgabe des Verstandes ist das Urteilen. Ein Urteil benennt die Identität von zwei selbständigen Bestimmungen: einem Subjekt (dem Namen dessen, um was es hier geht) und einem Prädikat (das ausdrückt, was das Subjekt ist) (HW 6: 302f.). Ein Urteil unterscheidet sich von einem einfachen Satz dadurch, dass nicht zwei einzelne Bestimmungen miteinander identifiziert werden (wie z.B. im Satz: „Aristoteles ist mit 73 Jahren verstorben“), sondern sich immer ein Einzelnes bzw. Besonderes im Verhältnis zu einem Allgemeinen befindet (z.B. „Aristoteles ist sterblich“). Im verständigen Denken betrachten wir beim Einzelnen nur das, was mit dem betrachteten Allgemeinen identisch ist; vom dem, was nicht damit übereinstimmt, wird abstrahiert (HW 5: 93). Diese Eigenart des verständigen Urteilens und Verallgemeinerns ist es auch, die dem Denken ganz allgemein häufig vorgeworfen. T.W. Adorno etwa betont immer wieder das Recht des Nicht-Identischen. Aus Hegels Sicht ist ein Einzelnes, das bei der Verallgemeinerung seine nicht mit dem Allgemeinen übereinstimmenden Besonderheiten verliert, ein „abstraktes Einzelnes“ und es entsteht ein „abstrakt Allgemeines“.
Im Verstand wird das, was doch im Gegenstand miteinander verbunden ist, zuerst voneinander getrennt und in unterschiedlichen Bestimmungen erfasst: Subjekt und Prädikat. Im verständigen Urteil werden die beiden wieder zusammen gebracht (vermittelt)- aber auf noch unvollkommene Weise.
Es gilt hier die oben genannte Eigenart des verständigen Vorgehens, bei dem dasjenige, was in der Wirklichkeit durchaus eine widersprüchliche Einheit bildet, in klar unterschiedene (und vor allem algebraisch voneinander unabhängige) Variablen aufgeteilt wird und dann im Naturgesetz auf äußerliche Weise wieder zusammen gebracht wird. Dabei gilt dieses Naturgesetz durchaus in der realen Natur - aber nur insofern wir es mit den entsprechenden Messgrößen beschreiben.
Wir finden die verständige Denkform auch in einer Gesellschaftstheorie, bei der auf der einen Seite die Interaktionen der Akteure betrachtet werden, auf der anderen Seite die entstehende überindividuelle Struktur systematisch untersucht wird.
Obgleich Hegel die Beschränktheit des bloß Verständigen sieht (und überwindet ), schätzt er seine Bedeutung hoch ein. Er spricht vom Verstand als der „der verwundersamsten und größten oder vielmehr der absoluten Macht.“ (HW 3: 34f.) und sieht in ihm „ein notwendiges Moment des vernünftigen Denkens“ (HW 10: 286).
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