Verschiedene Denktypen
in den Wissenschaften

Für das Verständnis der menschlichen Denkformen ist der erste Teil des Systems von Hegel, die Wissenschaft der Logik, grundlegend. Logik ist bei Hegel gerade nicht auf die formale Logik beschränkt, sondern entwickelt die Formen dialektisch-spekulativen Denkens anhand abstrakter – aber sich inhaltlich immer weiter bestimmender - Gegenstände. Gerade die Unterscheidung der drei Grundtypen logischer Gegenstände – des Seins, des Wesens und des Begriffs - erweist sich als Kernprinzip hegelschen Philosophierens. Jedes Denken hat sich zu fragen, in welcher der drei Typen, bzw. Logiken es sich gerade befindet, weil zwar die Logik der Übergänge abstrakt gesehen ähnlich ist, der Gegenstand selbst jedoch fundamental anders gesehen wird.

  1. Seinslogik
  2. Wesenslogik
  3. Begriffslogik

Die bisher abstrakte Unterscheidung dieser Denktypen wird vielleicht in einem Beispiel deutlicher und ist bereits einmal beschrieben worden.

Nun ein Beispiel aus der Wissenschaftsentwicklung, der Biologie:

  1. Die ersten biologisch interessierten Menschen sammelten Unmengen von Beobachtungen an Tieren und Pflanzen und beschrieben ihre Beobachtungen noch ziemlich unsystematisch oder jede/r mit einer anderen Systematik.
  2. Erst Linné fand ein relativ eindeutiges System zur Einordnung aller bis dahin erbrachten Beobachtungen, konnte es aber noch nicht selbst rechtfertigen, ableiten oder begründen. Mit diesem System konnte durchaus beantwortet werden: "Warum hat diese Pflanze eine weiße Blüte?" - nämlich: "Weil sie zu den Sorten gehört, die weiß blühen."
  3. Durch das Verständnis der biotischen Evolution durch Darwin konnten die systematischen Ähnlichkeiten in und zwischen den Arten aus der Evolution begründet werden. Die "Warum"-Frage hat nun eine andere Art von Antwort, sie geht nicht nur auf die auf abstrakte Systematik bzw. abstrakte Beziehungen zurück, sondern den konkreten Entwicklungsgang. Der Artbegriff enthält diese evolutiven Zusammenhänge und ist schon von anderem Charakter als der des vorhin erwähnten Elefanten. Die "Art" existiert nicht als gegenständliches, empirisch wahrnehmbares Ding, sondern als Entwicklungszusammenhang in den meisten biotischen Objekten. Sie führt nicht nur zu Bezeichnungsveränderungen gegenüber der früheren Systematik, sondern auch zu inhaltlichen Veränderungen und Verschiebungen.

Aufgrund des weiter entwickelten Theorieanteils ist die Physik etwas schwieriger zu diskutieren:

A)
  1. Beobachtungen wie: "Ein Stein fällt immer zu Boden" und "Jetzt ist der Mars an diesem Ort und einen Monat später an jenem Ort" sind Beobachtungen aus dem Bereich der Physik. Auch hier unmittelbar und in der Wahrnehmung mehr oder weniger gegeben. Tyche de Brahe erarbeitete einen umfangreichen Katalog von Bahndaten des Mars am Himmel.
  2. Kepler fand als erster mathematische Beziehungen zwischen diesen Bahndaten und fand auf diese Weise die berühmten drei Keplerschen Gesetze. Sie stellen mathematische Beziehungen nicht zwischen ganz beliebigen Variablen (wie es in der Mathematik wäre), sondern zwischen Bahndaten von Planeten des Sonnensystems dar (sie sind also implizit durchaus auch qualitativ bestimmt). Die Frage "Warum ist der Mars jetzt hier?" wird mit der abstrakten Abhängigkeit von seinem Ort zu einem früheren Zeitpunkt beantwortet. Betont werden muß, daß die Naturwissenschaft nicht eindeutig nur der Wesenslogik (und damit dem Verstand) zuzuordnen ist, sondern nicht vollständig abstrakt ist, da ihre Größen in Abhängigkeit von qualitativ durchaus konkret bestimmten Äquivalenzmöglichkeiten gebildet werden. Typischerweise hängt der Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik, vom Verstand zur Vernunft mit dem Übergang zum historischen Denken zusammen, einerseits in bezug auf die Geschichte der Wissenschaft, andererseits in bezug auf die Geschichte ihrer Gegenstände.
  3. Die Ebene des Begriffs gehört zu den modernen Wissenschaften notwendig dazu:
Mit dem Newtonschen Graviationsgesetz in Verbindung mit dem 2. Newtonschen Axiom wurde klar, daß die Keplerschen Gesetze auf der Wirkung der gegenseitigen Anziehung (Gravitation) von Sonne und Planeten beruhen - ebenso wie der freie Fall von Körpern auf der Erde. Beide Gesetze lassen sich aus dem Newtonschen Gravitationsgesetz ableiten. Das "Warum" zielt jetzt auf die Begründung des Keplerschen und des Fallgesetzes in einem anderen, umfassenderen Gesetz. "Gravitation" wäre jener Begriff, der diese Leistung erbringt und gegenüber der vorigen abstrakten Wesenslogik die konkrete Begriffslogik darstellt. Die Physik (wie alle Naturwissenschaften) will üblicherweise nicht auf Letztbegründungen hinaus und stellt, wie schon Newton betonte, keine Hypothesen über eventuelle "okkulte Qualitäten", die diese "Gravitation" bewirken, auf. In diesem Verständnis besteht die weitere Entwicklung der Physik darin, immer umfassendere Theoriesysteme zu entwickeln, wobei die neueren gegenüber den früheren durch jeweils einen Übergang von der Wesens- in Richtung der Begriffslogik gebildet werden. Typischerweise werden tatsächlich jedes Mal auch die vorherigen Bezeichnungen und auch die Art und Weise des Beobachtens und Vorstellens dabei grundlegend verändert (d.h. von der Begriffsebene her neu strukturiert).Beim Übergang von der Newtonschen Physik zur Feldphysik in der Elektrodynamik oder den Einsteinschen Theorien wird das besonders deutlich. Die bekannten Paradigmenwechsel lassen sich so verstehen. Die jeweils neuen Konzepte, die durch den Übergang von der Wesens- zur Begriffslogik entstanden sind, rutschen quasi in eine neue Wesensebene zurück und werden durch weitere Übergänge aufgehoben. B) Die Naturwissenschaften beruhen darauf, dass in ihnen selbst von ihrer Entstehung abstrahiert wird. Ihre Meßgrößen und Methoden werden als vorausgesetzt genommen und führen in ihren Anwendungen durch beliebige Menschen (Erkenntnissubjekte) zu objektivem Wissen. Den Wissenschaften ist (zumindest in ihren jetzigen Entwicklungsstadien) nicht bewusst, dass durch die Bildung der Meßgrößen gerade Invarianzen und Äquivalenzen herausgehoben werden, die die dialektischen Widersprüche in der Welt zum Stillstand bringen. Erst wenn wir diese Tätigkeit der Abstraktion als wissenschaftliche Praxis mit in Betracht ziehen, können wir in diesem Bereich zu einer begriffslogischen Untersuchung der Wissenschaften kommen.

Auch die Gesellschaftswissenschaften erheben sich über den Beschreibungen der Phänomene in mindestens zwei Stufen:

Politische Ökonomie:

  1. Auch hier wurden und werden empirische Phänomene gesammelt, beispielsweise Zahlenreihen über verschiedene Tauschakte und Preise.
  2. Bürgerliche Ökonomen erkennen bereits typische Gesetzmäßigkeiten in der Vielfalt der ökonomischen Prozesse. Beispielsweise erkennt Adam Smith, daß "gleiche Arbeitsquantitäten [...] zu allen Zeiten und an allen Orten für den Arbeiter selbst denselben Wert haben". Die Größen, zwischen denen diese Beziehungen bestehen, wurden durch verschiedene Definitionen gebildet und führten zu vielfältigen Konfusionen, besonders wenn es um die Unterscheidung von Wert und Preisen ging. Sie beschreiben Prozesse auf der Zirkulationsebene ziemlich gut - können aber die Herkunft und tiefere Zusammenhänge der Größen nicht mehr erklären. Dieser Status der Theorie entspricht durchaus der Realität - in einer speziellen Gesellschaftsform. "Es ist dies kein Mangel dieser Form, sondern macht sie umgekehrt zur adäquaten Form einer Produktionsweise, worin sich die Regel nur als blindwirkendes Durchschnittsgesetz der Regellosigkeit durchsetzen kann." (MEW 23, S. 117): Problematisch wird es, wenn die Gesetze dieser Regellosigkeit in einer bestimmten Gesellschaftsform als "allgemein-ökonomische" betrachtet werden.
  3. Marxens Anliegen war die "Kritik der politischen Ökonomie", nicht nur die Kritik der kapitalistischen politischen Ökonomie. Die Theorieform der politischen Ökonomie selbst wurde von ihm aufgehoben und durch begreifendes Erkennen der je konkret-historischen Gesellschaftsform ersetzt. Dies gelingt nur bei einem Übergang von der Zirkulations- zur Produktionssphäre und dadurch auch zur historischen Konkretisierung. Besonders in den "Grundrissen" (MEW 42) formulierte Marx sein dialektisches Forschungsprogramm im "Aufstieg vom Abstrakten zum Konkreten". Aus der Totalität der konkreten Produktion ergeben sich ihre jeweils notwendigen Momente - und damit auch die angemessenen Bezeichungen der nun gefundenen Grundbegriffe einer kritischen Theorie. Aus dieser Sicht wird dann z.B. (gegenüber Smith und eigenen früheren Schriften von Marx) auch klar, daß nicht die Arbeit an sich Wert darstellt, sondern genauer nur die Arbeitskraft (vgl. MEW 23, S. 61 Fußn.). Und speziell die Ware Arbeitskraft erweist sich in der Sphäre der Produktion als Quelle des Mehrwerts und durchbricht damit die Begrenztheit der Wesenslogik, die mit abstrakt äquivalent gesetzten Werten auf der Zirkulationsebene arbeitet.
    Diese Erkenntnis wird aber erst möglich, wenn wir die konkrete Art und Weise der kapitalistischen Produktionsweise untersuchen und dabei feststellen, dass sie erstens auf Privatarbeit (d.h., die einzelnen Produzenten arbeiten voneinander isoliert und "vergesellschaften" sich erst über den Markt) und zweitens auf der Trennung von Arbeitskräften und wichtigsten Produktionsmitteln beruhen. Diese tiefere Begründung erfasst die "Bedingungen der Möglichkeiten" des Kapitalismus, ist deshalb Kritik und begreifende Begriffslogik.

Individualwissenschaft:

  1. Für die empirische Psychologie ist eine Fülle von Fallbeispielen typisch.
  2. Als Wissenschaft bemüht auch sie sich um Definitionen von Größen, die sich als geeignet erweisen, allgemeine Zusammenhänge im psychischen Befinden und Verhalten von einzelnen Menschen zu beschreiben.
  3. Eine begriffliche Form in diesem Bereich gelang meines Wissens nach nur Klaus Holzkamp, der in seiner "Grundlegung der Psychologie" (siehe Kritische Psychologie) die Begriffe seiner Wissenschaft mit Hilfe einer "historischen Kategorialanalyse" rekonstruiert.
Die sogenannten Allgemein- oder Strukturwissenschaften (System-, Informations-, Selbstorganisations-, Komplexitäts-, Chaostheorien) bilden einen besonderen Fall. Ihre Besonderheit ist ihre Universalität und diese besteht gerade darin, dass sie von den qualitativen Besonderheiten ihrer Objekte abstrahiert. Während die Naturwissenschaften wenigstens noch in der jeweiligen die Art ihrer Grundgrößen wichtige qualitative Merkmale ihrer Objekte beinhaltet (z.B. Trägheit der physisch-mechanischen Körper in der Grundgrösse "Masse"), zielen die Allgemeinwissenschaften auf noch höhere Abstraktheit ab. Mit neueren Systemtheorien, wie den Selbstorganisationskonzepten ist zwar auch Evolution ist abbildbar (Verhalten zwischen und an Bifurkationsphasen), aber nur in ihren abstrakten Mechanismen. Sobald konkrete qualitative Momente untersucht werden, befinden wir uns ja wieder in den einzelnen Fachwissenschaften selbst.


 

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