3.3 Verstandes- und Aufklärungskritik

Ausgehend von dem, was die Vernunft zustande bringen kann, erweist sich nun die Mangelhaftigkeit des Verstandes deutlicher als vorher. Erst im Kontrast zur Vernunft zeigt sich, warum das verstandesmäßige Herangehen nicht „der Weisheit letzter Schluss“„ sein kann.

Wir hatten den Verstand als Vorstufe zur Vernunft bereits oben gewürdigt. „Der Verstand [….] bringt es zuwege, dem Allgemeinen aus dem beständigen Wechsel des sinnlich Wahrnehmbaren heraus Festigkeit („fixes Bestehen“) zu verleihen.“ (Taylor 1998: 401). Es ist „sein wesentliches Geschäft, die Welt einseitig zu machen, eine große und bewunderungswürdige Arbeit, denn nur die Einseitigkeit formiert und reißt das Besondere aus dem unorganischen Schleim des Ganzen…“(Marx 1842/1961: 118).

Oft wird angenommen, dies sei alles, was menschliche Erkenntnis leisten könne. Hegel beschreibt diese Situation drastisch:

„Aber der reflektierende Verstand bemächtigte sich der Philosophie. Es ist genau zu wissen, was dieser Ausdruck sagen will, der sonst vielfach als Schlagwort gebraucht wird; es ist überhaupt darunter der abstrahierende und damit trennende Verstand zu verstehen, der in seinen Trennungen beharrt. Gegen die Vernunft gekehrt, beträgt er sich als gemeiner Menschenverstand und macht seine Ansicht geltend, daß die Wahrheit auf sinnlicher Realität beruhe, daß die Gedanken nur Gedanken seien, in dem Sinne, daß erst die sinnliche Wahrnehmung ihnen Gehalt und Realität gebe, daß die Vernunft, insofern sie an und für sich bleibe, nur Hirngespinste erzeuge. In diesem Verzichttun der Vernunft auf sich selbst geht der Begriff der Wahrheit verloren; sie ist darauf eingeschränkt, nur subjektive Wahrheit, nur die Erscheinung zu erkennen, nur etwas, dem die Natur der Sache selbst nicht entspreche; das Wissen ist zur Meinung zurückgefallen.“ (HW 5: 38)
Marx spricht dann von einer „Verstandes-Borniertheit“ (MEW 1843/1961: 361). Der „gesunde Menschenverstand“ bleibt beispielsweise gefangen im Entweder-Oder, weil er „da, wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und dass er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht“ (Marx 1847/1959: 339). Es entsteht ein „Zirkel von Gegenseitigkeit, wodurch man nicht erfährt, was die Sache selbst, weder was die eine noch die andere ist“ (HW 3: 49).

Auch hier gilt die Feststellung des DDR-Dichters Volker Braun: Es genügt nicht die einfache Wahrheit. Bei Hegel heißt es: „Das Wahre ist das Ganze.“ (HW 3: 24). Im vernünftigen Begreifen, d.h. bei der nicht so einfachen Wahrheit begreifen wir jedes Phänomen nicht nur in äußerlicher Wechselwirkung mit Anderem, sondern als inneres Moment einer unendlichen Bewegung.

Demgegenüber ist der Verstand davon gekennzeichnet, dass er,

  • die „unmittelbar vereinten abstrakten Bestimmungen auseinanderreißt und vom Gegenstande abtrennt“ (HW 10: 286);
  • „... daß also im verständigen Denken der Inhalt gegen seine Form gleichgültig ist, während er im vernünftigen oder begreifenden Erkennen aus sich selber seine Form hervorbringt.“ (HW 10: 286). Verständiges Denken tendiert also zu Formalismus.
  • Der Verstand hat die „Gewohnheit, sich an das Identitätsprinzip zu binden“ (Taylor 1998: 164). „Everything is what it is and not another thing.“ (Ein Ausspruch von Joseph Butler (1692-1752))
Die Kritik von einseitigen Entwicklungen, die mit der Aufklärung verbunden sind, wurde nicht erst von der Kritischen Theorie oder der Postmoderne erfunden. Hegel stuft die mögliche Erkenntnisfähigkeit der Menschen ab in drei Stufen:
  1. Stufe „der unmittelbaren, unbefangenen Religion und des Glaubens“
  2. Stufe „des Verstandes, der sogenannten Gebildeten, der Reflexion und Aufklärung“
  3. Stufe der Philosophie (HW 17: 342)
Wenn auf der 2. Stufe stehen geblieben wird, überwiegen dann auch die Mängel dieser Erkenntnisart, weil sie nicht überwunden werden und führen zur „Gemeinheit des Verstandes“ und zu einer „eitle[n] Überhebung über die Vernunft“ (HW 2: 183). Da es die Aufklärung ist, die als abstrakte und verständige (HW 13: 407) für diese zweite Stufe steht, wird Hegels Aufklärungskritik verständlich. Er kritisiert sie jedoch nicht von der 1. Stufe aus, sondern von der 3.. Als Fortschritt über die 1. Stufe hinaus macht aufgeklärtes Denken durchaus klüger aber:
“Aufklärung des Verstands macht zwar klüger, aber nicht besser.“ (HW 1: 20)
Das heißt: „Was die Aufklärung erkennt, ist wahr, aber auf verhängnisvolle Weise partiell.“ (Taylor 1998: 525)

Philosophieren entsprechend der 3. Stufe überschreitet das rein abstrakte Identitätsdenken, das z.B. auch die ständige Zielscheibe der Autoren der Kritischen Theorie ist:

„Dies Denken ist nicht bloß dies Abstrahieren und Bestimmen nach dem Gesetz der Identität; dies Denken ist selbst wesentlich konkret, und so ist es Begreifen. Es ist dies, daß der Begriff sich zu seiner Totalität, zur Idee bestimmt. Es ist die fürsichseiende, freie Vernunft, die den Inhalt der Wahrheit entwickelt und rechtfertigt im Wissen, eine Wahrheit anerkennt und erkennt. Der rein subjektive Standpunkt, die Verflüchtigung alles Inhalts, die Aufklärung des Verstandes sowie der Pietismus erkennt keinen Inhalt und damit keine Wahrheit an […]“ (HW 17: 339)
Hegel kritisiert insbesondere die Aufklärung in Deutschland wegen ihrer Reduktion auf reine Nützlichkeitserwägungen. Ein rein verstehendes Erkennen der Welt hat keinen Maßstab für die Beurteilung von Handlungsabsichten und Wünschen.
„Wir sind bereit, die Welt zu beherrschen und sie zu formen, aber der Entwurf ist verloren gegangen. In unsrer Verzweiflung, eine Alternative zu finden, zerstören wir die Dinge.“ (Taylor 1998: 526)
Mit Hegels Philosophie der Vernunft ist es dagegen möglich, „über das bloß Gegebene hinauszugehen, über das, was Menschen zufällig wünschen, hin zu Zwecken, die vom rationalen Willen selbst hergeleitet werden“ (ebd.: 527). Der „rationale Wille selbst“ meint hier eine übergeordnete (mögliche, durch uns mit zu gestaltende) Ordnungsstruktur der Welt, des Universums… Im Einklang mit diesen Ordnungsstrukturen und den in ihnen enthaltenen Möglichkeiten vernünftig zu handeln ist etwas ganz anderes, als die Welt lediglich als passive Ressource für das menschliche Tun zu nutzen. Dem von der Aufklärung beförderte Nützlichkeitsdenken dagegen reicht ein Verstehen der Naturgesetze aus.

 
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