Hypatia - Symbol einer Zeitenwende

Der Jahreswechsel 2006/2007 ist gezeichnet von einer ungewöhnlichen Wettersituation, die sich natürlich nicht eindeutig auf den Klimawandel zurückführen lässt und auch von Bemerkungen in Jahreswechselbriefen, wie sie vorher kaum geäußert wurden: "Mir macht es mitunter Angst, dass die Dinge, die Du schon vor ca. 8 Jahren vorausgesagt hast, nun alle nach und nach in voller Stärke eintreten (Energiekosten steigen, Erderwärmung, ...)." Es sind meist die kritischen Zeiten, in denen wir in den Erfahrungen der Vergangenheit eine Orientierungshilfe erwarten. So schrieb der christlich-sozial engagierte Schriftsteller Charles Kingsley (1819-1875) seinen Roman "Hypatia" in einer Zeit, in welcher der Frühkapitalismus in seiner Heimat England enorme soziale Verwerfungen aufriss. Viele politische Strömungen wetteiferten um Strategien, die Arbeiterbewegung entstand und viele auch christlich motivierte Reformer wurden aktiv. 1853 erschien Charles Kingsleys Roman "Hypatia", der die letzten Monate im Leben einer Vertreterin des untergehenden antiken Reiches ausmalt.

Hypatia vertrat um 400 u.Z. den Platonismus, wahrscheinlich die neuplatonische Lehre von Plotin. In ihrem Heimatort Alexandria trafen nicht nur soziale und machtpolitische Interessen mit Gewalt aufeinander, sondern auch geistige Orientierungen kämpften um Einfluss. Hypatia stellte sich - in der Darstellung von Kingsley - beinah verzweifelt gegen den Untergang der letzten antiken Positionen - gegen das aufstrebende Christentum, deren Zwiespältigkeit zwischen Machtwille und sozialem Engagement Kingsley ausdrucksstark beschreibt. Im Altertum war Hypatia die einzige Frau, die im Reigen antiker Größen genannt wurde und gleichzeitig die letzte Vertreterin, nach deren Tod der Untergang der Antike besiegelt war. Vor allem wegen ihrer grausamen Ermordung durch den Mob im Zuge der durch die Zerstörung der antiken Tempel und Bibliothek im Jahr 391 angeheizten Heidenverfolgung ist sie heutzutage noch bekannt. Alle ihre Werke gingen verloren - zeitgenössische Berichte betonen vor allem ihre Aktivität in einer Art "philosophischem Salon", bei der sie auch physikalische Experimente vorführte und durch die Stärke ihrer Persönlichkeit beeindruckte.

Gerade weil wenig Konkretes historisch verbürgt ist, eignet sich das Leben von Hypatia als Projektionsfläche für vielfältige Deutungen, die ihre Bedeutung aus jeweils zeitgenössischen Problemstellungen gewinnen. So berühren die daraus erwachsenden Assoziationen den lebensmüden Depressiven, der aus der Beschäftigung mit Hypatia neuen Lebensmut gewinnt (Khan Amore (a)), wie auch den christlich-sozial engagierten Kingsley. Bei ihm gibt es neben den Konflikten zwischen Juden und Christen, zwischen Kirchenoberen und Präfekten, in denen Hypatias Position fast wie zwischen Mühlsteinen zermahlen wird vor allem auch den Konflikt zwischen den ehrlich-bemühten Christen und den machtgeilen christlichen Kräften. Denn für Kingsley steht es fest, dass der Übergang vom Heidentum zum Christentum nicht nur eine Verlustgeschichte ist, sondern er sieht in jenen frühen Turbulenzen die Wurzeln für jene christlichen Traditionen, die er in seinem sozialen Engagement zu bestärken sucht ebenso wie die Wurzeln für den christlichen Fanatismus. Den Niedergang Hypatias sieht er vor allem in dem Kontext, dass das antike philosophische Denken lebensfremd, abgehoben und elitär war, während sich die Christen - wenigstens von ihren Grundsätzen her - für die Nöte der Menschen einsetzten. Dies sieht Khan Amore anders, für ihn war das Ende der freidenkerischen Vernunft und die Durchsetzung des Glaubens ein Verlust, den er heute wieder versucht rückgängig zu machen (Khan Amore (b)).


Bildquelle: http://hypatia-lovers.com/FreeImages.html (2007-01-04)

Ich selbst las das Buch von Kingsley vor mindestens über 20 Jahren zum ersten Mal. Es gehört in die Zeit meiner Selbstfindung als Wissenschaftlerin und Philosophin. Ich las insgesamt viele Lebensgeschichten von Wissenschaftlern - Wissenschaftlerinnen wie Caroline Herschel oder Marie Curie waren dabei auffallend selten. Besonders berührt haben mich aber eher tragische Geschichten von Frauen, die nicht so berühmt werden konnten. So fühlte ich mich verwandt mit einem polnischen Mädchen aus dem 14. Jahrhundert, die lernen und studieren wollte und dies nur in männlicher Verkleidung im Kloster konnte. Nachdem sie erkannt worden war, wurde sie ins geistlosere Frauenkloster abgeschoben. Eine ähnliche, im 20. Jahrhundert angesiedelte Story fand ich wieder im Film "Yentl", in dem Barbara Streisand sich ebenfalls als Jüngling verkleidet den Zugang zu Wissen erschleichen musste. Den Wahrheitsgehalt der alten, in einer Jugendzeitschrift gedruckten Geschichte konnte ich nie prüfen, aber ich war immer froh und glücklich, in einer Welt geboren zu sein, in der mein Geschlecht keinerlei Rolle spielte in meiner Entwicklung zur Physikerin. Dass ich später hinter meinem Rücken als "Hausfrauen-Philosophin" bezeichnet wurde, erinnerte mich allerdings nachdrücklich daran, dass andere durchaus noch andere als individuelle Unterschiede sehen wollen. Das Lesen von "Hypatia" von Kingsley hatte damals für mich vor allem eine bestärkende Rolle, ebenfalls des Weg einer lernenden und vielleicht auch einmal lehrenden Frau zu gehen.

Viele Jahre später, 1990, erlebte ich eine Zeiten"wende". Zwar hätte ich die alte Weise der sozialistischen Praxis nicht weiter führen wollen, aber der Kapitalismus schien mir nie eine lebenswerte Alternative. Trotzdem waren die ersten Jahre danach von Neugier auf westliche links-alternative Erfahrungen gekennzeichnet. Es erschlossen sich neue Welten, neue Freundeskreise wuchsen. Aber irgendwann kam das ins Stocken. Was wir vor 15 Jahren vorausgesagt hatten: die globale Klimaerwärmung mit allen katastrophalen Folgen zeigt sich immer deutlicher - aber es erfolgt kein Umdenken, wie wir es erhofft hatten. Einige Industriezweige profitieren von einem teilweisen Umbau z.B. der Energiewirtschaft zur regenerativen Energien - aber der große notwendige Richtungswechsel kann so lange nicht wirklich erfolgen, wie die ökonomische Erfolge an Gewinne, Rendite und Profite gebunden sind und dabei die Lebensgrundlagen der Menschheit zerstören. Es gibt seit 1999 endlich auch wieder so etwas wie eine weltweite Widerstandsbewegung gegen die Verursacher der sozialen und ökologischen Disaster, große Protestaktionen, Linksregierungen in Südamerika, Sozialforen allerorts... Gleichzeitig jedoch gibt es noch nicht wirklich einen Aufstand gegen die Zumutungen dieses Lebens, unter den Linken wird dann schon mal mehr Aktionismus betrieben, als wirklich konzeptionell und strategisch gearbeitet. In dieser Zeit sind oft Texte aus den 70er bis 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts die intelligentesten - aus dem Westen wie teilweise auch aus dem Osten. Die neuere postmoderne Philosophie muss noch zeigen, ob sie mehr ist als Attitüde - während dessen geht vieles verloren. Vielleicht ist es gut so, weil damit auch der geistige Müll mit verschwindet. Aber immer wieder wird das "Kind mit dem Bade ausgeschüttet"; die Abwehr von aufklärerischer Rationalität als kapitalistisch-bürgerlich durchdrungen macht oft eher dumm anstatt gescheit. Jetzt erinnerte ich mich vor allem daran, dass das Leben und der Tod Hypatias ein Beispiel für eine Zeit ist, in der Wertvolles für lange Zeit verloren geht. Wie mag sich Hypatia gefühlt haben, als alles, was ihr wichtig und wertvoll war, immer weniger Anerkennung, schließlich sogar Ablehnung und Haß erfuhr? Kann es wirklich sein, dass die Zukunft nicht immer nur Fortschritt und Weiterentwicklung bringt? Kann tatsächlich alles, was Generationen erarbeitet haben, plötzlich wertlos und vergessen sein?

Ich denke, genau so wie der Name "Kassandra" für bestimmte menschliche Grunderfahrungen steht (für ungehörten Warnungen), steht auch "Hypatia" für eine Problematik, die heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts aktuell ist. Während das 20.Jahrhundert geprägt war von Fortschrittseuphorie - verbunden mit den schrecklichsten Barbareien, die zur Menschheit gehören und ihre Zukunft ewig beschatten -, wird das 21. Jahrhundert die Zeit des Abbruchs, des Verlusts und auch der Rettungen, des Versuchs, Wertvolles über die Zeitenwenden hinweg für neue Aufbrüche in Sicherheit zu bringen. Vielleicht haben wir in den nächsten Jahrzehnten wenig Neues zu erarbeiten, wir sind voll von alten Denkformen und wenn wir diese dann kritisieren bleiben vor allem unfruchtbare zerstörerische Haltungen übrig. So viel ist schon erdacht, geschrieben - aber viel zu wenig getan. So viel ist schon geist- und vernunftlos herumgewurstelt worden - aber eine neue Einheit von Vernunft und menschlicher Praxis ist noch nicht absehbar. Es werden wieder Tempel geschleift und die unmittelbare Zukunft, wie jene wie vor 1700 Jahren, ist dunkel. Vielleicht werden erst Spätere das Produktive auch unserer Zeit wieder aufgreifen können.

Mehr siehe unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Hypatia
Tanja zu Hypatia
Khan Amore (a) http://hypatia-lovers.com/page5.html
Khan Amore (b) http://hypatia-lovers.com/page4.html

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