Neue Arbeit für Mühlheim

Institut für Neue Arbeit

Wege aus der Krise der Arbeit

... und anderswo

 

 

Zum Gründerzentrum für audiovisuelle Medien in Mülheim

Köln, den 19.12.04

Offener Brief von
Rainer Kippe,
Stadtteilgenossenschaft WiWAt

an

Jörg Frank
Vorsitzender des Liegenschaftsausschusses
im Rat der Stadt Köln

betr. Deine Äußerungen im Kölner Stadtanzeiger vom 10.12.04, S.30 und der Bericht über den Sender Viva in der gleichen Ausgabe auf S.3


Lieber Jörg,

mit Freude haben wir gehört, dass es Dir gemeinsam mit Deinen Kollegen aus der SPD und CDU gelungen ist, das neue Mediengründerzentrum NRW an die Schanzenstraße in Mülheim zu holen. Ich weiß, dass Du genauso wie Marc Jan Eumann von der SPD und andere dafür eine Menge Arbeit geleistet hast. Sicher war es nicht einfach, die Unterstützung der entsprechenden roten und grünen Landesministerien zu erhalten. Damit habt Ihr einen wichtigen Schritt für die Zukunft des Medienstandortes Mülheim getan und so die Voraussetzung für die Ansiedlung weiterer Medienbetriebe geschaffen. Wir freuen uns auch, dass Eure grüne Fraktion in der Mülheimer Bezirksvertretung bei den Bemühungen um die Arbeitsplätze beim Spaß- und Trash- Sender Viva die Initiative ergriffen hat. Vielleicht gelingt es Euch ja, einige der 290 Arbeitsplätze zu retten.

Wir hätten uns allerdings von Euch gewünscht, dass Ihr in den letzten Jahren, als Ihr mit der Bezirksvertretung (rot-grün), dem Stadtrat (schwarz-grün), dem Landtag (rot-grün) und dem Bundestag (rot-grün) auf allen vier parlamentarischen Ebenen in der Regierung gewesen seid, ein vergleichbares Engagement für die Entwicklung alternativer Arbeitsplätze auf der Industriebrache Mülheim gezeigt hättet. Die Pläne sind Euch seit vielen Jahren bekannt, die organisatorischen Voraussetzungen haben die Mülheimer mit Gründung der Genossenschaft WiWAt eG, der IG- Keupstraße und der Mülheimer Erklärung der Bürgerdienste seit Jahren geschaffen. Aber auch die Grundstückseigentümer- F&G und die Deutsche Bahn- waren und sind im Einflussbereich der Politik.

Erst im September dieses Jahres hat die Genossenschaft WiWAt eG gemeinsam mit dem Bund Deutscher Architekten, der IG- Keupstraße, den Mülheimer Bürgerdiensten und vielen Initiativen, Vereinen und Einzelpersonen in einer Planwoche gemeinsam mit dem ersten Preisträger des städtebaulichen Wettbewerbs die Planung auf der Industriebrache Alter Güterbahnhof weiterentwickelt und in einem Workshop unter Leitung der renommierten Kölner Architekturprofessorin Christl Drey gezeigt, wie die Kräfte des Veedels mit Projekten wie internationalen Gärten, einem deutsch- türkischen Basar und Recyclingprojekten des Möbelverbundes die Mülheimer Mitte gestalten und die Initiative auf dem Ausbildungs- und Beschäftigungsmarkt zurückgewinnen können.

Für diese Bemühungen fanden wir auch diesmal Eure Zustimmung. Das grüne Städtebauministerium fördert solche Veranstaltungen sogar mit eigenen Mitteln. Die Ergebnisse finden aber bei Euch keine Resonanz. Auf Bezirksebene genauso wenig wie auf Stadtebene, Landesebene oder Bundesebene. In der Theorie, auf Kongressen, in Denkschriften und Seminaren, interessiert Ihr Euch sehr wohl für lokale Ökonomie, alternative Betriebe und neue Modelle von Leben und Arbeiten. In der Praxis, da, wo die Ideen wirkungsmächtig werden, zeigt sich, dass Ihr den überkommenen Strukturen von Lohnarbeit und Kapital verhaftet bleibt, in denen sich Euer eigenes Leben abspielt, nicht anders als Eure Kollegen von SPD, CDU oder

FDP. Ich erinnere mich noch gut, wie Du uns, als wir vor zehn Jahren unsere Pläne von Wohnen und Arbeiten für die Industriebrache bei Euch im Mittwochskreis vorgestellt haben, die Frage stelltest, wie viele Arbeitsplätze wir auf der Industriebrache schaffen wollen. Und ich habe Dir geantwortet: Existenzmöglichkeiten viele, herkömmliche Arbeitsplätze wenige.
Jetzt, zehn Jahre später, nach zehn Jahren Wartens von unserer Seite, dürfen wir fragen, wie viele Arbeitsplätze Ihr mit Euren jeweiligen politischen Koalitionspartnern geschaffen habt. Auf der Brache keinen. Die Fläche liegt seit 40 Jahren leer. Auf dem wertvollsten Teil stehen Parkpaletten. Nebenan, in den ehemaligen Fabrikhallen, einige hundert an der Stelle von tausenden Industriearbeitsplätzen, die in den vergangenen 25 Jahren verschwunden sind. Und es sind diese hochgefeierten und laut bejubelten Arbeitsplätze in den neuen Medien, die jetzt abgebaut werden.

Wenn wir uns das von Euch so hoch gelobte Jobwunder an der Schanzenstraße näher betrachten, so müssen wir feststellen, dass es sich hier keineswegs um Arbeitsplätze handelt, die sich auch nur im geringsten mit den industriellen Arbeitsplätzen vergleichen ließen, die hier in den letzten Jahren verschwunden sind. Diese von Euch hochgepäppelte und hochsubventionierte Medien -“industrie“ unterscheidet sich von ihrer Vorgängerindustrie dadurch, dass sie ihre Arbeitsplätze schon wieder abbaut, bevor sie sie überhaupt aufgebaut hat. Es ist richtig, dass die Metallindustrie in Deutschland in den letzten 20 Jahren Millionen Arbeitsplätze wegrationalisiert oder ins Ausland verlagert hat; davor hat sie aber erst einmal über 100 Jahre lang Arbeitsplätze aufgebaut. Eure neue, schicke Medienindustrie verlagert ihre Arbeitsplätze schon, bevor sie überhaupt in nennenswerter Zahl entstanden sind. Die „Kampfmaßnahmen“ der Betroffenen passen dazu: während in Bochum 10 000 Opelarbeiter die Bänder anhielten, tritt in Mülheim eine (in Zahlen 1) Moderatorin in den Streik. Es sind also krisenhafte Arbeitsplätze die ihr da schafft. Sie bieten nicht im entferntesten Ersatz für die Arbeitsplätze, die verlorengegangen sind. Die Situation der Beschäftigten erweist sich als prekär. Deshalb geht auch bis heute von diesen Betrieben kein wirtschaftlicher Impuls aus, der die Beschäftigungs- und Auftragslage in Mülheim positiv beeinflussen würde. Mit anderen Worten: von Eurer neuen „Industrie“ haben wir Mülheimer nichts.

Das Mediengründerzentrum, das Ihr jetzt ansiedelt, habt Ihr, wenn man der Zeitung trauen darf, dem Coloneum in Ossendorf abgeworben. Dort scheitert bereits das zweite Medienzentrum in Köln, nach dem hochgelobten und jahrelang hochgejubelten Mediapark , auf dem sich nicht ein einziges Medienunternehmen angesiedelt hat. Das dritte Medienzentrum, die Industriebrache Alter Güterbahnhof, die in den Zeitungen schon als „Neues Medienzentrum“ gefeiert worden war, liegt gleich ganz brach. Auch der Eigentümer rückt jetzt von den hochfliegenden Plänen ab und wünscht, genau wie die Mülheimer Initiativen, eine Verbindung von Wohnen und Arbeiten. Diese Pläne für ein neues Medienzentrum von immerhin 15 Hektar Größe waren aber der Grund, warum alle Vorschläge und Planungen für alternative Arbeitsplätze, Selbsthilfebetriebe oder einen türkisch-deutschen Basar in den letzten 10 Jahren, allen schönen Versprechungen und allen Stadtteilforen zum Trotz, keine Chance auf Verwirklichung bekommen hatten.

Ich hoffe, Du erlaubst mir an dieser Stelle einige Worte zur Qualität Eurer Medienarbeitsplätze. Dass sie prekär sind, den Beschäftigten also keine Sicherheit bieten, habe ich bereits gesagt. Ich möchte nun einen Blick auf das Produkt dieser neuen „Industrie“ werfen: Wenn wir in Köln das Wort „Sender“ hören, denken wir zuallererst an den WDR. Wir stellen uns Studios vor mit tausenden Beschäftigen, Redaktionen, Filmproduktionen. Nichts davon bei Viva, MTV, Brainpool & Co. Während Viva noch einen entfernten Hauch von Sender bot, indem ein paar Talkshows produziert und einige Moderatoren beschäftigt wurden, begnügt sich MTV bekanntermaßen damit, die Videoclips abzuspielen, welche die Musikgruppen ihm zusenden. Was jetzt von den neuen Eigentümern geplant ist, ist nicht einmal mehr das. Vielmehr sollen jetzt die alten Big- Brother- Sendungen wiederholt werden. Dafür braucht man allerdings keine Arbeitskräfte mehr, schon gar keine Medienfachkräfte. Es reicht ein Computer, der das Zeug ausstrahlt.

Wenn ich früher gegen diese Art von Unterhaltung polemisierte, musste ich mich als elitär und als Kultursnob beschimpfen lassen; heute bestätigt uns die Pisa- Studie, dass unsere Kinder nicht mehr richtig lesen noch schreiben können, weil sie ihre Zeit vor dem Fernseh- Apparat zubringen und sich Sendungen auf dem untersten Niveau reinziehen. Big- Brother ist dafür das Synonym geworden. Ich finde es schlimm genug, wenn es so etwas gibt, zumal ich weiß, dass gerade in Mülheim viele Eltern damit überfordert sind, ihre Kinder von diesem Müll fernzuhalten; bedenklich wird es, wenn ich sehe, wie Politiker wie Ihr für die Erhaltung derartiger Programme kämpfen und Subventionen bewilligen, die anderen Projekten verweigert werden. Ich habe das Wort „Müll“ nicht verwendet, weil ich mich damit über VIVA, MTV und Co erheben will; ich benutze es lediglich als Verdeutschung des Wortes „trash“, ein Begriff, mit dem VIVA sich laut Stadtanzeiger schmückt („der Sender mit dem trash-appeal“).

Für Menschen, die gern betriebswirtschaftlich argumentieren, wie Du es zu tun beliebst, lieber Jörg, sage ich es noch mal ökonomisch: ich glaube, dass der volkswirtschaftliche Schaden, den die Emissionen dieser Sender in Form von Lernverhinderung und nervösen Störungen bei unseren Kindern (und nicht nur bei denen) anrichten, den volkswirtschaftlichen Nutzen in Form von Steuern und Abgaben bei weitem übersteigt. Und wenn Du es mir nicht glaubst, dann kannst Du dazu Deine Kollegin Barbara Moritz fragen, die ist Lehrerin.

Damit wir uns recht verstehen: ich habe nichts gegen ein Mediengründerzentrum in Mülheim. Vielleicht erreicht Ihr ja damit, dass die Qualität der Medienproduktion soweit gehoben wird, dass die Zahl der Kinder mit Lern- und Konzentrationsschwäche in Unendliche wächst. Es ist für mich aber gerade deshalb nur schwer verständlich, warum Ihr nicht bereit seid, Euer politisches Gewicht für Initiativen aus dem Viertel, wie den deutsch-türkischen Basar, Projekte des zweiten Arbeitsmarktes wie das Recyclingprojekt des Möbelverbundes, internationale Gärten, genossenschaftliche Wohnungen und Betriebe oder neue Formen von Wohnen und Arbeiten in die Waagschale zu werfen. Und warum Ihr nichts von einem Gründerzentrum wissen wollt, wie es der Workshop für die ehemaligen Güterhallen vorsieht. Es dürfte doch inzwischen dem verbohrtesten Arbeitsmarkt- Fanatiker klar geworden sein, dass sich Vollbeschäftigung in Lohn- Arbeitsplätzen nie wieder wird herstellen lassen, nicht einmal in Deutschland, geschweige denn in anderen, weniger begünstigten Zonen dieser Welt. Im Unterschied zu den alten „Lohnarbeitsparteien“, die allesamt noch aus der Zeit der Entstehung der Erwerbsarbeitsgesellschaft von Kapital und Arbeit stammen, und denen es, wie Müntefering oder Clemens, aufgrund historischer Gewordenheit einfach nicht möglich ist, Arbeit anders denn als Erwerbsarbeit in einem Lohnarbeitsverhältnis zu denken, habt Ihr GRÜNE die Möglichkeit, mit uns etwas Neues zu probieren; dazu muss man es aber erst mal politisch propagieren. Das ist mit der Neuen Arbeit nicht anders als mit der Windkraft oder der Gleichberechtigung der Schwulen.

Was ich Euch also vorhalte, ist theoretisch eine geistige Selbstblockade, eine unfreiwillige geistige Selbstkontrolle und praktisch eine Sozialdemokratisierung der grünen Politik, was Wirtschaft und Arbeit anbelangt. Das heißt nicht, dass Ihr Euch nicht für bestehende Projekte einsetztet. Da habt Ihr in Eurer Regierungszeit teilweise viel geleistet. Ich meine vielmehr, dass Ihr nicht über den Tellerrand guckt und dass Ihr in den ökonomischen Debatten Gefahr lauft, die Zukunft zu verspielen.

Dieser Brief an Dich, lieber Jörg, ist deshalb ein letzter Appell, aufzuwachen und Euch auch in der Ökonomie an die Spitze der notwendigen politischen Entwicklung zu stellen, indem Ihr, wie es gute grüne Tradition ist, beispielhaft Projekte an der Basis fördert und öffentlich die erforderlichen Auseinandersetzungen führt.

Für ein Gespräch und für die notwenige Zusammenarbeit stehen wir wie immer bereit.

Mit freundlichen Grüßen

Dein alter Freund

Rainer Kippe


 

 

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