Neue Arbeit für Mühlheim

Institut für Neue Arbeit

Wege aus der Krise der Arbeit

... und anderswo

 

 

"Neue Arbeit" und Nachhaltigkeit
bei der Sozialistischen Selbsthilfe Mülheim

von Heinz Weinhausen

Nachhaltigkeit fordert weltweit Wirtschafts- und Lebensweisen, die sicherstellen, daß auch spätere Generationen ihre Bedürfnisse von Lebensqualität in angemessener Weise befriedigen können. Konsequenterweise schließt dies mit ein, daß das globale Ökosystem zu bewahren ist, daß es dringliche Grenzen des Wachstums gibt. Die Verantwortung für eine solche Entwicklung haben nicht in erster Linie die Länder des Südens, sondern vielmehr diejenigen des Nordens, die sogenannten Wohlstandsnationen, welche aus ihrem Wachstums- und Energievergeudungskurs radikal umsteuern müssen.

Ein solcher Prozeß kann nicht gelingen, wenn dort nur äußerlich Umweltschutz eingefordert wird - etwa in dem der Müll getrennt wird. Vielmehr steht zur Erreichung des Ziels der Nachhaltigkeit ein grundlegender Wandel an, der neben der ökologischen Umsteuerung vor allem sozialer, ökonomischer und kultureller Innovationen bedarf. Ein solch umfassendes Verständnis von Nachhaltigkeit setzt sich allmählich gegen das Schmalspurdenken der gewöhnlichen Lokale-Agenda-Aktivitäten durch.

"Neue Arbeit" steht als jüngst entwickeltes Konzept zur Verfügung, die geforderte verknüpfte Nachhaltigkeit in verschiedensten Projekt-Formen Realität werden zu lassen. Das Kölner "Institut für Theorie und Praxis der Neuen Arbeit" (INA) ist nun keineswegs eine reine Denkwerkstatt, sondern fußt insbesondere auf den Erfahrungen des autonomen Projektes der "Sozialistischen Selbsthilfe Köln-Mülheim" (SSM). Hieraus lassen sich Dimensionen ganzheitlicher Nachhaltigkeit und deren gesellschaftliche Bedeutung aufzeigen.

Die "Sozialistische Selbsthilfe Mülheim e.V." - eine Blume der Nachhaltigkeit

Die SSM besetzte 1979 das Gelände einer ehemaligen Schnapsfabrik in Köln-Mülheim. Ziel war nun nicht in selbstverwalteter Weise, die Gesellschaft mit Alkohol zu versorgen, sondern überhaupt aus den gängigen Strukturen von Erwerbsarbeit und Betriebswirtschaft auszubrechen. Seitdem leben dort zehn bis zwanzig Menschen; Alte und Junge, Kinder und Erwachsene, Behinderte und Nichtbehinderte, ehemals Obdachlose, Arbeitslose, Psychiatriepatienten und ehemals Studenten und Beschäftigte zusammen. Sie wohnen in selbst-renovierten und ausgebauten Häusern. Sie verdienen Geld durch Umzugsaufträge, durch Wohnungsauflösungen und Entrümpelungen. Sie verkaufen Gebrauchtmöbel, Hausrat und Secondhand-Kleidung in ihrem Laden. Veranstaltungsräume können gegen eine Gebühr genutzt werden.
Gemeinsame Eigenarbeit und Selbstversorgung hat ebenfalls große Bedeutung. Die Mitglieder organisieren untereinander das gemeinsame Mittagessen, die Kinderbetreuung, das Renovieren, das Computernetzwerk und viele andere Gruppenbelange. Die SSM hat sich aber auch von Anfang an in das Stadtteilgeschehen eingebracht, indem sie sich mit anderen Initiativen gegen haarsträubende Auswirkungen der Sanierung in Mülheim gewehrt hat. Stets ist sie für mehr Lebensqualität im Stadtviertel eingetreten und hat mehrere Projekte - selbstbestimmtes Wohnen und Arbeiten, Kultur - initiiert und sich über Jahre hinweg eingebracht.
Jüngst gibt sie ihre Erfahrungen und gesellschaftlichen Vorschläge mittels dem "Institutes für Neue Arbeit" weiter.

Die ökologische Nachhaltigkeit

Die vier Gebäude wurden nicht der Abrißbirne zugeführt, sondern für Wohn- und Betriebszwecke renoviert und ausgebaut. Es wurden viele gebrauchte Materialien verwendet - vom Waschbecken bis zum Bauholz, vom Fenster bis zum Eichenparkett aus den dreißiger Jahren. Auch der Hausrat - vom Kugelschreiber bis zum Kühlschrank, vom antiken Schrank bis zum Klavier - stammt aus Wohnungsauflösungen und Spenden. Ebenso versorgen sich die Mitglieder auf diesem Weg überwiegend mit Kleidung oder Computern. Alles weitere Nutzbare wird über den Secondhand- und Hausratladen wieder in den gesellschaftlichen Kreislauf gebracht. Geheizt wird überwiegend mit Abfallholz, was aus kellern oder bei Firmen abgeholt wird.
Das Gelände selbst ist mit hohen Bäumen und Hecken durchwachsen, so daß es schon fast als Biotop zu bezeichnen ist. Einige Hühner nehmen sich der Essensreste an. Aus ökologischer Sicht ist besonders die Verkehrsreduzierung hervorzuheben. Dadurch, daß die Mitglieder der SSM am Arbeitsort wohnen, fällt die Teilnahme am Berufsverkehr weg. Als motorisierte Verkehrsmittel stehen nur der LKW und der Kasten-PKW zur Verfügung, die fast ausschließlich zu Betriebszwecken genutzt werden.

Die ökonomische Nachhaltigkeit

Die Existenz wird nur zum Teil über die Teilnahme am ersten Arbeitsmarkt gesichert, wo sich die SSM in dem beständigen lokalen Marktsegment von Umzügen und Wohnungsauflösungen etabliert hat. Weiter sichert der Laden und die Vergabe der selbsterstellten Veranstaltungsräume Geldeinkünfte.
Das zweite ebenso wichtige Standbein ist die gemeinsame Eigenarbeit und die Selbstversorgung. "Bei uns ist alles Arbeit.", dieser Leitspruch drückt die Gleichberechtigung beider Sektoren aus. Durch die Eigenversorgung mit günstigem Wohnraum und vielerlei alltäglichen Dingen werden die üblichen Marktzwänge aufgebrochen. So braucht es weniger Umsatz, um über die Runden zu kommen. Es gibt auch keinen Wachstumszwang wie etwa einen zweiten LKW anschaffen zu müssen. Der Alltag kann vielfältiger gestaltet werden. Sozial Benachteiligte können integriert werden. Die frei gewordene Zeit kann für gesellschaftliches Engagement genutzt werden. Darüber hinaus hat die SSM einen weites Netz von Gegenseitigkeit geknüpft. Beispielsweise hat ein arbeitsloser Ingenieur ehrenamtlich bei der Renovierung des neuen Veranstaltungsraumes geholfen. Als er selber Möbel brauchte, konnte er sich aus dem Bestand welche aussuchen. Die SSM lehnt Sozialhilfe und Arbeitslosengelder ab, ebenso ständige finanzielle Unterstützung, weil sie die Behörden als unbeständige Partner erlebt hat, die bei Konflikten dann den Geldhahn zuzudrehen drohen. In der Aushandlung des langfristigen Mietvertrages hat sie aber als Ausgleich für ihre sozialen Leistungen eine deutlich reduzierte Miete ausgehandelt. Schließlich bekommt die SSM auch durch den Förderverein "Mach mit!" finanzielle Unterstützung für Investitionen.

Die soziale Nachhaltigkeit

Zur dauerhaften Zufriedenheit in einem sozialen Gefüge zählt eine vielfältige Persönlichkeitsentfaltung in einem toleranten, solidarischen Klima. Dies wird bei der SSM groß geschrieben. So soll jedes Mitglied seine individuellen Schwerpunkte ausbilden. Möglichkeiten gibt es beispielsweise im handwerklichen Bereich, bei der Gestaltung des Ladens, es sind aber auch politische Herausforderungen möglich wie die Durchführung von Veranstaltungen oder das Schreiben einer Doktorarbeit. Bei der SSM gilt es aber auch als Arbeit, an einem Nachmittag der Woche mit Jugendlichen Segelflugzeuge zu bauen. Keiner muß jeden Tag Umzüge fahren. Keiner muß jeden Tag dasselbe machen. Das Korsett eines festen Berufes ist hier abgelegt.

Bei der SSM sind seit jeher auch körperlich oder geistig Behinderte, Obdachlose, Arbeitslose und andere sozial benachteiligte Menschen integriert. Von allen wird auch gefordert, sich nach ihren Möglichkeiten einzubringen, und sei es auch nur, die Kartoffeln zu schälen. So kann jeder mitmachen, jeder spürt, daß er gebraucht wird.

Die Diskussion der Gruppenbelange, die Arbeitseinteilung, die Entscheidungsprozesse finden auf der täglichen morgendlichen Sitzung statt, wo alle teilnehmen. An einem Tag der Woche nimmt sich die Gruppe vier Stunden und bei Bedarf noch länger Zeit dafür. Jeder weiß so Bescheid und jeder kann mitentscheiden.

Durch das Engagement im Stadtteil und anderswo wird der Horizont der Gruppe stets erweitert und es entstanden viele Kontakte und Beziehungen in einem politisch-solidarischen Netzwerk. Die SSM ist auch stets offen, Praktikanten oder sonstig Interessierte in ihren Alltag miteinzubeziehen.

Die gesellschafliche Dimension des Projektes zeigt sich in dem geistigen Fundament des Humanismus. Die SSM sieht sich als konsequent gelebtes, sichtbares humanistisches Beispiel, womit der Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben nicht nur für die eigenen Mitglieder, sondern letzlich für alle Menschen vertreten wird.

Schlußfolgerungen

Die SSM erreicht ein hohes Maß an Lebensqualität, in dem sie die drei Dimensionen von Nachhaltigkeit - ökologisch, ökonomisch, sozial - nicht isoliert voneinander zu realisieren sucht, sondern diese von vornherein miteinander verknüpft hat. Gerade deswegen ist eine ganz andere Effektivität möglich. So gelingt ihr das betriebswirtschaftliche Paradoxon, mit weniger Geld besser leben zu können.

Auch die Verknüpfung sozialer Dimensionen bringt mehr Lebensqualität. Die SSM steht für Toleranz und Solidarität, für Selbstentfaltung und Verantwortung.

Perspektiven "Neuer Arbeit"

Die Marktwirtschaft hat zwei grundlegende Fehler im Betriebssystem. Das erste ist der permanente Wachstumszwang, der zweite die vernichtende Konkurrenz. In der heutigen Krise der Arbeitsgesellschaft verschärft sich die Konkurrenz. Verlierer sind die Beschäftigten durch mehr Arbeitshetze und fremdbestimmte Flexibilität. Verlierer sind die Arbeitslosen durch Einkommensverluste und durch gesellschaftliche Ausgrenzung. Verlierer ist auch die Umwelt, weil die Regierungen und Kommunen sich zu viel größeren Zugeständnissen an die Unternehmen gezwungen sehen.

Wie ist der Widerspruch von Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit aufzulösen?

Eine Möglichkeit ist die eingebettete Ökonomie. Ein Wirtschaften, welches wieder in die sozialen Zusammenhänge eingebettet ist und von dort aus betrieben wird. "Neue Arbeit", nämlich die Verknüpfung von Erwerbsarbeit mit Selbstversorgung und gemeinsamer Eigenarbeit schafft soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit.

Als die Idee aufkam, man könne Sonnenlicht in Strom umwandeln, wurde dies von vielen belächelt. Aber die Pioniere auf diesem Gebiet zeigten durch erste Experimente, daß es wirklich funktioniert. Heute gibt es Sonnenkraftwerke.

Daß es möglich ist, zu wirtschaften und den eigenen Lebenszusammenhang zu gestalten, zeigt neben vielen anderen das Experiment der SSM seit 20 Jahren. Insofern stellt die SSM bereits eine reale Blume der Nachhaltigkeit dar.

Von hier läßt sich eine Perspektive denken: eine wilde, bunte Wiese vielfältigster Projekte und Initiativen von eingebetteter Ökonomie. Dies wäre schon ein wichtiger Schritt auf dem langem Weg hin zur globalen Nachhaltigkeit.

 

 

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