Neue Arbeit für Mühlheim

Institut für Neue Arbeit

Wege aus der Krise der Arbeit

... und anderswo

 

 

Utopie als Praxis

Interview mit Rainer Kippe von der SSM
Das Interview führte Werner Ruhoff, Köln
(CONTRASTE - Nr. 146, Nov. 96)

Utopie als Praxis. Im Stadtteil Köln-Mülheim hat die Sozialistische Selbsthilfe Mülheim, kurz SSM, ihre Heimat. Auf dem Gelände einer ehemaligen Schnapsfabrik haben sich Menschen ihre Wohnungen selbst gebaut, nachdem sie das Gelände besetzt hatten. Sie leben mit teilweise antrengender Arbeit, mit der sie sich selbst versorgen aber auch das benötigte Geld verdienen, weil nicht alles selbst produziert werden kann. Draußen, zwischen den vier Wohn- und Wirtschaftsgebäuden gibt es Bänke, Tische, einen bunt bemalten Wohnwagen, Bäume, eine Wiese und einen Sandkasten mit Spielzeug. Aus dem Gemeinschaftstraum bekomme ich meinen Kaffee. Das schöne Wetter am Spätnachmittag lädt uns nach draußen ein, und aus dem Interview wird ein fast dreistündiges Erlebnis.

Werner: Kannst Du mir etwas zum SSM und seiner Geschichte erzählen?

Rainer: Der SSM kommt aus dem SSK (Sozialpädagogische Sondermaßnahme Köln). Er hat sich 1985 abgespalten, weil wir gesagt haben, wir lassen uns nicht vorschreiben, was wir in den einzelnen Gruppen zu machen haben. Wir kommen aus dem SDS und gehören nicht zu dem Teil, der sich später in Parteien organisiert hat. Der andere Teil hat sich auf die Arbeiter orientiert, hat sich die Haare schneiden lassen und sich ordentlich angezogen und das andere beiseite geschoben. Wir haben viele grundsätzliche Positionen der Achtundsechziger bis heute nicht revidiert. Wir haben das weitergemacht, während die Parteien, die sich gegründet haben (die K-Parteien d.I.), das negiert haben. Wir hatten Fürsorgezöglinge.Das waren eben auch junge Arbeiter. Und wenn man heute schaut, die jungen Leute, die auf der Domplatte sitzen und sich die Nadel in den Arm stechen, das ist auch Arbeiterjugend. Das war unsere Zielgruppe. Und da haben wir gekämpft für ganz allgemeine bürgerliche Ziele. Wir haben dafür gekämpft, daß jedes Kind ein Recht auf Erziehung hat. Wir haben auch gesagt, die Zustände in der Psychatrie, die Knäste und Heime, das ist nicht zulässig. Wir haben jahrelang Jugendliche vor dem Staat versteckt, wir haben mit denen Häuser besetzt. Wir haben Hunderte von Jugendlichen illegal in Familien untergebracht. Wir hatten breite Unterstützung in der Öffentlichkeit bis hin zu Heinrich Böll, der in einer schweren Existenzkrise des SSK zur Rettung des SSK aufgerufen hat. Wir haben Teile der Gesellschaft, die nazistischen und wilhelminischen Obrigkeitstaatsanhänger mit der Verfassung konfrontiert. Dabei sind wir von modernen bürgerlichen Leuten unterstützt worden. Wir haben dabei aber durchaus unsere sozialistsichen Vorstellungen gehabt. Wir schließen uns zusammen und wir kämpfen für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch einen Wert und jeder Mensch seine Lebenschancen, seine Freiheit und seine Entwicklungschancen hat und natürlich auch Arbeitsmöglichkeiten. Seit 1974 hatten wir eine eigene Firma. Wir haben die Leute aus der Psychatrie aufgenommen und geschuftet. Wir haben im Landeskrankenhaus Düren im Verwahrungshaus die Abteilung besetzt, um Leute rauszuholen. Das waren alles strafbare Handlungen. Wir hatten 'zig Prozesse am Hals, aber die meisten Verfahren gegen uns wurden eingestellt, weil wir denen ihre Verbrechen vorgeführt haben. Das hat damit geendet, daß wir soviel Straftaten in der Psychatrie aufdecken konnten, daß zum Schluß die Leiter verhaftet wurden. Und da waren auch die Reformer. Da war dann der Punkt, wo das Landeskrankenhaus Brauweiler dicht gemacht wurde. Wir hatten zwei Sachen: Wohnungskampf und Häuserkampf. Wir hatten ganze Straßenzüge besetzt. Wir wollten auch in den Sanierungsprozeß eingreifen, bevor da ganze Straßenzüge abgebrochen wurden. Und hier sind wir beim Thema new work. Es ging ja nicht nur um Wohnraum, sondern auch um Arbeit. Wir haben dabei auch die Fürsorgezöglinge immer als Teil des Proletariats angesehen, als Menschen, die aus der Produktion ausgegliedert wurden.

Was ist denn bei Euch neu an der Arbeit?

Zunächst muß man sehen, das sind Menschen, die ausgegliedert werden, weil die Produktion im Kapitalismus brutal ist. Sie spaltet die Menschen ab. Deswegen werden sie verrückt. Für solche Leute gab es damals schon keine Arbeit. Wenn man sich die Geschichte der Arbeit anschaut, so gab es immer schon Ausgrenzungen. Als Beispiel: die Abschaffung der Kinderarbeit war ja nur deswegen ein Fortschritt, weil die Arbeitsbedingungen selbst so unmenschlich waren. Auch Kinder arbeiten total gerne, nur im Kapitalismus ist es unmenschlich zu arbeiten. Unser erstes Buch haben wir »Ausschuß« genannt. Fürsorgezöglinge sind Ausschuß aus der Produktion von Arbeitern. Die werden exemplarisch fertiggemacht, damit jeder sehen kann, was passiert, wenn er die Arbeitsbedingungen nicht akzeptieren kann. Die Psychatrie, die Knäste, das sind ja alles Disziplinierungsinstrumente. Und in der modernen Geschichte läßt sich nachweisen, immer wenn es wenig Arbeit gab, gab's volle Knäste, stieg die Kriminalität. Die Selbstverblödung in den Wissenschaften hat das Ganze auf simple Straftatbestände oder auf die Begriffe Angebot und Nachfrage reduziert. Wir haben versucht, das Recht auf Arbeit ein Stück weit auch für solche Menschen zu verwirklichen.

Was versteht ihr denn nun unter neuer Arbeit?

Wir müssen viel und hart arbeiten, körperlich. Das liegt daran, daß wir vom Staat kein Geld nehmen, obwohl wir Behinderte und Obdachlose aufnehmen. Aber dieses Geld wird vom Staat so gegeben, daß es zerstörerisch wirkt. Bei uns erhalten alle das gleiche Geld aus dem, was wir erwirtschaften. Die Produkttionsmittel gehören allen und bei uns kommt alles in einen Topf. Wir haben Gemeineigentum in der Rechtsform eines Vereins. Wir haben uns überlegt, ob wir uns ABM-Maßnahmen anschließen, aber da taucht schon das Problem der unterschiedlichen Bezahlung auf. Wir verstehen Arbeit auch in einem neuen Sinn. Alles ist für uns Arbeit: die Kindererziehung, die Beratung bei Prozessen, die Erstellung und Verteilung von Flugblättern, der Verkauf gebrauchter Kleider, Umzüge usw. Alles ist gleichwertige Arbeit. Und jeder macht jede Arbeit. Das Zweite ist die Selbsthilfe, das ist, was Professor Bergmann (In einem Seminar zu New Work) mit »self-providing« meinte. Zu einem Teil sind wir im traditionellen Wirtschaftskreislauf und verdienen damit unser Geld, und zum großen Teil sind wir Selbstversorger, das heißt, wir besetzen zum Beispiel Häuser und richten die dann selbst her. Wir kaufen alle so gut wie keine Kleider, wir haben alle gebrauchte Kleider. Wir haben auch ein Gebrauchtmöbel-Lager. Jeder kann sich daraus etwas nehmen. Zeitweise hatten wir sogar eine eigene Landwirtschaft. Das Holz, das wir zum Heizen brauchen, holen wir gemeinsam. Wir wohnen direkt am Arbeitsplatz und brauchen kein Auto. Wir haben einen LKW, mit dem wir unsere Arbeit machen. Und aus der Gemeinschaftskasse kochen wir das Mittagesssen.

Wie organisiert Ihr dann Eure Arbeit?

Wir haben keinen Chef und auch keine Verwaltung. Bei der Arbeitsaufteilung gibt' s natürlich auch Auseinandersetzungen. Jeden Morgen, also die beste Zeit vom Tag, haben wir unsere Besprechung. Einer übernimmt für einen Tag die Verantwortung. Jeder sagt, was er oder sie gemacht hat und dann wird besprochen, was wir weiter arbeiten, welche Probleme auftauchen, wer Urlaub bekommt usw. Es werden auch persönliche Probleme besprochen, soweit sie die Gemeinschaft betreffen. Dann gibt's persönliche Anträge, wenn jemand z.B. einen Fernseher haben will. Und dann achten wir darauf, daß nicht jeden Tag nur körperliche Arbeiten anfallen, damit wir unsere Knochen nicht so kaputt machen. Und wenn einer einen Zwölf-Stunden-Umzugstag hinter sich hat, dann macht der eben was anderes.

Wie holt Ihr Eure Aufträge rein?

Was Umzüge betrifft, so machen wir überhaupt keine Werbung. Wir leben vom Weitersagen. Manche Leute kommen im Laufe der Jahre immer wieder zu uns. Sie wissen, wer wir sind, was wir machen, und mit Leuten, die über uns die Nase rümpfen, mit denen wollen wir eh nichts zu tun haben. Wir machen gute Arbeit, und wie wir das machen, das finden die Leute auch o.k. Im Laufe der Jahre haben wir unsere eigene Professionalität entwickelt. Wir konnten sogar unsere Preise erhöhen und haben trotzdem mehr Aufträge.

Wieviel Leute seid Ihr denn jetzt?

Wir sind immer so zehn bis zwölf Erwachsene und dann haben wir noch fünf Kinder. Jetzt kommt noch ein Kind hinzu, zu einem Vater, der seinen Sohn jetzt zu sich geholt hat. Es kann vorkommen, wenn irgend jemand von der Platte kommt und jetzt hier lebt, daß auf einmal ein Kind von dem hier auftaucht. Das könnte ja ein Modell für andere sein. Warum habt Ihr Euch in dem VHS-Seminar (s.o.) so zurückgehalten?

Die Entwicklung der achtziger Jahre hat auch uns als gesellschaftliches Modell an den Rand gedrückt. Wir haben versucht, uns als Gruppe zu festigen und sind nicht mehr durch die Lande gelaufen, um uns als Modell vorzuführen. Wir waren auch bei diesem Seminar vorsichtig und wollten den SSM da nicht in den Vordergrund stellen. Ich war eigentlich der Meinung, wir sind gar kein Modell. Ich sehe das inzwischen, nachdem ich Bergmann kennengelernt habe, anders. Allerdings müssen wir oft hart arbeiten. Das, was Bergmann gesagt hat, do what you really really want, das ist hier bei uns nicht. Wir sind noch nicht aus dem Reich der Notwendigkeit in's Reich der Freiheit gelangt.

Was macht Ihr denn in Mülheim?

Wir stecken hier mitten in einem Sanierungsgebiet und wir arbeiten in diesem Viertel. Wir kümmern uns um das Böcking-Gelände (ehemaliges Industriegelände auf dem jetzt Wohnungen errichtet wurden). Dort stehen zwei Wohncontainer, wir beteiligen uns am Kulturbunker, wir beteiligen uns jeden Winter an den Notschlafstellen für Obdachlose und unterstützen jetzt zwei Familien, die Kirchenasyl erhalten. Neu ist das Projekt »Bauen Wohnen und Arbeiten«, das wir angeleiert haben. An all diesen Projekten haben wir einen erheblichen Anteil.

Was steckt hinter »Bauen, Wohnen und Arbeiten«?

Es gibt Leute, die werden einfach nur für teures Geld versorgt, die kriegen Sozialhilfe, werden in teuren Hotels untergebracht, bekommen Kleider und so weiter. Jetzt sagen wir, es gibt so viel leerstehenden Wohnraum. Warum gibt man den Leuten nicht 'ne Schaufel in die Hand und läßt sie sich ihre Wohnungen selber bauen? Dann stellt sich raus, die Stadt will das nicht. Die Leute sollen in den Hotels bleiben. Die Stadt will die Leute nicht hier ansiedeln. Aber trotzdem ist es für die Stadt schwer, nein zu sagen, weil das alles gegen den gesunden Menschenverstand spricht. Jetzt haben wir Leute mit Sachverstand zusammengeholt, Vereine, die mit Obdachlosen zusammenarbeiten. Es gibt die Grundstücke und die entsprechenden Fördertöpfe vom Land. Alles ist da, alle sind da, aber es passiert nichts. Wir helfen, solche Projekte anzuleiern. Menschen, die sich selbst Wohnraum schaffen wollen, werden mit den vorhandenen Mitteln zusammengebracht. Wir haben auch selbst gebaut. Wir haben hier auf unserem Grundstück selbst 800 m2 Wohnraum geschaffen. In der Holweider Straße haben wir durchgesetzt, daß die Leute ganz normale Modernisierungsmittel bekommen haben, und die Leute haben dann 40% Eigenleistung erbracht. Bis zum Sonnenkollektor haben die Leute dort alles selbst geschaffen. Die haben gar nicht mehr aufgehört zu bauen. Das waren Arbeitslose. Die haben einen Verein gegründet, der das Grundstück für siebzig Jahre in Erbpacht nutzen kann. Und die Leute zahlen jetzt 8,00 bis 10,00 Miete pro Quadratmeter und in 30 Jahren zahlen die das immer noch. Die wohnen dann fast mietfrei dort. Hier sind ja viele arbeitslos geworden. Andererseits hat die Stadt viele leerstehende Gebäude. Das könnte man überall so machen. Nicht jeder will das, aber die Stadt könnte das überall den Leuten anbieten. Die meiste Energie brauchten wir, um der Stadt so etwas abzuringen. Jetzt wollen wir, daß auch Obdachlose einbezogen werden. Wir suchen auch nach weiteren Arbeitsmöglichkeiten, wenn die Wohnungen fertig sind. Wie seid Ihr denn an eure Grundstücke gekommen. Wir haben die leerstehnden Häuser besetzt.

Welchen Anspruch hättet Ihr denn an die so vollmundig propagierte Politik des sozial-ökologischen Umbaus?

Die müssen von den vorhandenen Ideen und Projekten erst einmal ausgehen. Die Projekte müsen dann so gefördert werden, daß die Leute auf die eigenen Beine kommen. Das muß dann genau analysiert werden, um das in der Gesellschaft zu disutieren. Am Anfang geht das ganz langsam. Getreide wächst am Anfang auch ganz langsam und am Schluß steht ein ganzes Feld da. Da muß bei den Verantwortlichen, beim Wohnungsbauminister Vesper, Überzeugungsarbeit geleistet werden. In diesen Erfahrungsprozeß müssen die erst einmal einsteigen. Wir selbst verzichten auf staatliches Geld, weil der Staat kein zuverlässiger Partner ist. Die sagen heute so und morgen so. Wir müssen begreifen, und da habe ich von Bergmann gelernt, jenseits der traditionnellen Arbeitsgesellschaft, der die Erwerbsarbeit ausgeht, die Fähigkeiten und Talente der Menschen in Bewegung zu halten und zu fördern. Der SSM hat allerdings auch Ansprüche auf staatliche Unterstützung geltend gemacht. Gebt uns einen langfristigen Mietvertrag für dieses besetzte Grundstück. Gebt Ihr uns den nicht, dann müßt Ihr das besetzte Grundstück gewaltsam räumen. Wir haben das jetzt billig für dreißig Jahre gekriegt. Sie haben uns den Vertrag gegeben, weil sie gemerkt haben, daß sie uns hier nicht rauskriegen.

Wie würdest Du Eure Arbeit in den Gesamtzusammenhang dieser Gesellschaft einordnen?

Dazu muß ich persönlich sagen, so wie ich die DDR als Unterdrückungssystem gesehen habe, so habe ich auch dem Kapitalismus nie getraut. Ich wundere mich nicht, daß hier die Krise ausbricht. Ich wundere mich, daß die Krise nicht schon viel länger viel größer ist. Ich wundere mich nicht, daß Arbeitsplätze wegrationalisiert werden, ich wundere mich, daß die Fabriken nicht schon viel länger ohne Arbeiter funktionieren. Ich wundere mich nicht, daß sie so fortgeschritten sind, sondern ich wundere mich, daß sie so primitiv sind. Die Zahl der Leute, die noch produzieren wird ja immer weniger, und der ganze Dienstleistungssektor, da ist ja im Grunde nichts dahinter. Das brauchst Du auch nicht wirklich. Die Kapitalisten tun mir eigentlich leid. Aber wenn das ganze Ding hochgeht, dann stehen die Ärmsten wieder vorne und die anderen hinten. Und ich hab Angst, daß das hochgeht. Für mich gibt es zwei Sachen: einmal lebe ich jetzt, ich muß jetzt was tun, ganz praktisch. Ich bin jetzt Sozialist und nicht wenn die Produktionsverhältnisse, dann bla bla bla. Das ist jetzt die Erfüllung meiner Existenz und das macht trotz aller Schwierigkeiten jetzt Spaß. Das ist zwar eine Antwort für jetzt, aber da sind im Kern auch Antworten auf grundsätzliche Fragen enthalten. Das heißt nicht, ich hab' jetzt das große Modell, wie damals die Parteien (K-Gruppen d.I.), aber ich hab' Ansatzpunkte, die vor allem an wesentlichen Widersprüchen hier ansetzen, z.B. eben, daß die Leute keine Arbeit haben, daß die Leute keine Wohnung haben und die Verelendung zunimmt. Und wir machen das ohne staatliches Geld. Ich muß was vormachen, das viele Leute aufgreifen und verbreiten können. Da kann ich viel mehr machen als ein Minister. Das ist es, was mich auch mit dem Bergmann verbindet.

Rainer, ich danke Dir für dieses interessante Interview. ***

 

 

weitere Texte:

 

Aus der Satzung von INA e.V.

 

Berichte

 

Grundlagentexte

 

Veranstaltungen

 

siehe auch:

 

 

Keime für Neues Arbeiten

 

e-Mail-Kontakt

Home-Page