1. Die Mensch-Werdung

Die Historische Methode *
Die Zweck-Mittel-Verkehrung *
Exkurs: Entwicklungs-"Niveaus" *
Dominanzwechsel *
Exkurs: 5-Schritt-Qualitätssprung *

Wir werden uns in den folgenden Kapiteln noch ausführlich damit beschäftigen, was das Psychische ganz allgemein ist, und wie es sich im Verlaufe der Evolution der Organismenarten mit entwickelte. Dabei entwickelte sich nach und nach alles, was jetzt gleichzeitig in unserer komplexen Psyche wirkt. Durch die historische Zurückschau können wir den Weg vom Einfacheren zum Komplexeren nachverfolgen. Zurückschau bedeutet jedoch, daß man bereits einen Standpunkt am Gegenwartspunkt hat, von dem aus wir zurückschauen. Dieser Standpunkt ist für uns durch das Erreichen des Mensch-Seins - und eines bestimmten Entwicklungsniveaus der Gesellschaft - gekennzeichnet.

Was macht denn nun das Menschliche im Vergleich zu allen anderen Lebewesen aus? Es wird heute oft abgelehnt, im Menschen etwas allzu Herausgehobenes gegenüber der restlichen Natur zu sehen. Das wird als Überheblichkeit angesehen. Wir wissen heute, daß die meisten unserer Gene mit denen von Tieren übereinstimmen. Allerdings: Biotische Wesen werden – entgegen manchen Werbesprüchen der Gentechnik – in ihrer Natur nur zu einem geringen Teil von der Sequenz der Gene bestimmt. Wichtig sind darüber hinaus biochemische Prozesse in Zellen, die Funktionsweise der Organe und des ganzen Organismus und auch das Verhalten der jeweiligen Organismen. Aus gleichen Genen können diesbezüglich sehr unterschiedliche Wesenszüge der jeweiligen Arten und Organismen entstehen – sie helfen uns nur sehr bedingt bei der Bestimmung des Besonderen jeder Art oder Gattung.

Es gibt andere Unterscheidungsmerkmale: Früher wurde z.B. angenommen, daß nur Menschen ein Bewußtsein haben. Inzwischen hat man Tiere beobachtet, die vieles anscheinend viel "verstehen" und sich viel cleverer verhalten, als man bis dahin angenommen hatte. Im Prinzip weiß man auf diese Weise gar nicht, was Bewußtsein ist – die Kriterien dafür sind recht willkürlich.

Es macht wohl nicht viel Sinn, ein Tier und einen Menschen nebeneinander in einen Käfig zu stecken und zu beobachten und daher erfahren zu wollen, was bei Menschen anders ist. Sie sehen anders aus. Aber daß man daran erkennen kann, wer Mensch und wer Tier ist, wußten wir ja vorher. Falls sie vorher bei Menschen aufgewachsen sind, werden die Menschen wohl sprechen. Aber macht nur die Sprachfähigkeit den Menschen? Stumme Erdenbürger sind auch Menschen!

Das Bewußtsein als Unterscheidungsmerkmal zu nehmen hat so lange keinen Sinn, wie wir über seine willkürliche Definition nicht hinauskommen. Wir sehen einem Tier oder Menschen ja nicht an, ob es "bewußt" agiert, wenn sie im Käfig herumhantieren. Es könnte ja immerhin sein, daß das Tier nur nicht darüber sprechen kann. Und wenn "das Denken" die Menschlichkeit definieren würde – würden wir viele Menschen ausschließen, die von menschlichen Frauen zwar geboren, aber selbst nicht so weit entwicklungsfähig sind, in diesem Sinne zu denken (das sind jene, die dann "behindert" genannt werden, aber nichtsdestotrotz menschliche Wesen sind).

Die Historische Methode

Hören wir auf mit diesen vergeblichen Versuchen und überlegen uns eine andere Methode zur Unterscheidung von Tier und Mensch (ein Vergleich mit Pflanzen oder Pilzen macht wohl eh wenig Sinn). Wenn wir voraussetzen, daß sich Menschen in Verlaufe der Evolution aus tierischen Vorfahren entwickelt haben, gibt es irgendeine Stelle im Stammbaum, wo die letzten Vorfahren als Tiere zu kennzeichnen sind und die nächsten Generationen dann Menschen waren. Genaugenommen ist dies keine punktförmige "Stelle", sondern ein zeitlich langandauernder Prozeß im sogenannten "Tier-Mensch-Übergangsfeld".

Hier haben wir es aber fast noch schwerer, genau zu sehen, wodurch sich die ersten Menschen von den letzten Vor-Menschen unterscheiden. Es gibt diese Vormenschen ja nicht mehr. Die Schimpansen und Bonobos als unsere engsten Verwandten sind ja nicht die Vorfahren der Menschen, sondern eher ihre Geschwister. Wir sind auf archäologische Funde angewiesen. Ihre Datierung ist inzwischen gut möglich. Wenn man sich die Knochen aus verschiedenen Zeiten ansieht, kann man auch gut die Entwicklung verfolgen. Berühmt wurde "Lucie", eine Sammlung von Knochen, der man ansieht, daß dieses Wesen bereits aufrecht lief. "Lucie" lebte vor ca. 3,5 Millionen Jahren. Neuerdings gibt es einen analogen afrikanischen Fund, der sogar 4 bis 6 Millionen Jahre alt sein soll. Der aufrechte Gang ist ein häufig verwendetes Unterscheidungsmerkmal in einer solchen historischen Betrachtung, weil er auch das einzigste Merkmal ist, das aus den Knochen ablesbar ist. Ein anderes Merkmal bezieht sich auch auf archäologische Werkzeugfunde. Solche Dinge wie Faustkeile, Speerspitzen oder ähnliches stellt und stellte kein Tier auf der Erde her. Die ersten Funde stammen auch aus einer Zeit von vor ca. 1,6 Millionen Jahren. Aha, "Menschen" gab es also seit ca. 1,6 Millionen Jahren... oder? Dies ist die derzeitige Standardmeinung.

Der Zweck der historischen Betrachtung war, den Unterschied am Punkt der Menschwerdung auch inhaltlich besser bestimmen zu können. Es geht nicht nur darum zu sagen, ab wann die Vor-Menschen zu Menschen wurden, sondern auch, was an ihnen dann anders war, was sie anders machten. Wenn wir sehen, was sie anders machten, was neu durch sie in die Welt kam, haben wir auch Merkmale, die nur Menschen kennzeichnen.

Was haben wir gefunden: Aufrechter Gang, Werkzeugherstellung. Aber Hoppla: Woher wissen wir, daß nicht auch Tiere, die es heute nicht mehr gibt, schon mal aufrecht gehen konnten? Wir schleppen ja bei der Interpretation, daß aufrechter Gang mit freiwerdenden Händen, also der Fähigkeit zur Handbenutzung bei der Werkzeugherstellung verbunden war, immer schon eine Vor-Annahme mit: daß es so war. Aber das wissen wir ja nicht. Es könnte sein. Und es wird seit 150 Jahren in fast allen Büchern immer wieder wiederholt, so daß es fast jede/r als selbstverständlich annimmt. Aber es könnte auch anders gewesen sein. Z. B. spricht mindestens genausoviel für die Annahme, daß die Vormenschen über Jahrmillionen – die Geologie des Gebietes legt das auch nahe - in flachen Wasserbereichen lebten und sich durch die Hilfe des tragenden Wassers langsam aufrichteten, ihr Haarkleid (bis auf den aus dem Wasser ragenden Kopf) verloren usw., usw.. Dies soll nur deutlich machen, wie unsicher unser Wissen über die realen Prozesse in dieser Zeit ist.

Siehe dazu im Internet (1998): Der aufrechte Gang der Menschenfrau - - Matriarchatsforschung und Visionen partnerschaftlichen Zusammenlebens - http://www.thur.de/philo/frauen.htm (2001)

Aber bleiben wir bei den Werkzeugen. Wir wissen inzwischen, daß auch Tiere vorhandene Gegenstände als Werkzeuge benutzen (Äste und Stöcke zur Armverlängerung benutzen, um hoch angebundene Bananen abzuschlagen; Ästchen in Termitenlöcher stecken, um dann hängengebliebene Termiten daran abzulecken...). Dann dachten wir eine Weile, daß wenigstens die Werkzeugherstellung den Menschen vorbehalten sei. Aber nein: auch Tiere basteln sich z.B. den Ast für das Termitenloch so zurecht, daß er hineinpaßt. Faustkeile haben sie zwar noch nicht gemacht – aber wo soll nun das Kriterium sein, die eine von der anderen Werkzeugherstellung zu unterscheiden?

Erstaunlicherweise finden wir weder in der Fachliteratur zur Anthropogenese (Menschwerdung), noch der Biologie oder Archäologie hier eine Antwort, sondern in der "Grundlegung der Psychologie" von Klaus Holzkamp (Ausgaben 1983 und 1985). Er brauchte derartige Überlegungen eigentlich "nur" für seine Untersuchung der Entwicklung des Psychischen und präzisierte und verbesserte dabei wichtige Grundlagen in anderen Wissenschaftsbereichen. Wir werden später öfter darauf zurückkommen.

Die Zweck-Mittel-Verkehrung

Was ist nun das Besondere der Werkzeugherstellung und –benutzung durch Menschen? Es waren unsere tierische Vorfahren, "Vor-Menschen", die bereits anders mit den hergestellten Werkzeugen umgingen als Tiere es jemals tun. Tiere schnappen sich einen Ast und beißen ihn sich zurecht erst in jenem Moment, wo sie Hunger verspüren und die Termiten im Loch wissen. Der konkrete Bedarf und die konkrete Befriedigung dieses Bedarfs sind miteinander verbunden. Wenn der Affe dann satt ist, fällt der Ast aus seinen Händen und wird vergessen. Beim nächsten Mal wird der nächstbeste Ast benutzt – das kann nur zufälligerweise vielleicht derjenige vom letzten Mal sein. Zuerst kommt der Zweck (helfen bei der unmittelbaren Nahrungsaufnahme) – dann wird das Mittel benutzt oder hergestellt (das Stöckchen). Und beim nächstenmal in derselben Reihenfolge...

Es geht aber auch anders: Die gut geeigneten Stöckchen werden wieder verwendet – durch das gleiche vor-menschliche Wesen oder auch durch ein anderes aus der sozialen Gemeinschaft. Das Mittel wird nicht mehr nur unmittelbar zum Gebrauch genommen und gemacht – sondern es wird aufgehoben, falls es mal in derselben Weise notwendig oder günstig zu verwenden sein wird. Das Mittel trägt den Zweck in sich. Das Stöcken ist "zum Termitenangeln" – ganz allgemein, nicht mehr nur hier und jetzt. Der lange Stab ist "zum Schlagen". Das Mittel (geeignetes Stöckchen) ist nun vor dem konkreten Auftreten des Zwecks (Termitenangeln) vorhanden. Es kam zu einer Zweck-Mittel-Verkehrung (vgl. bei Holzkamp 1983, S. 173)..

Aber diese allein macht die Vor-Menschen noch nicht zu "fertigen" Menschen. Wir nennen einen solchen Wandel Funktionswechsel. Dabei bildet sich das Neue schon heraus, aber es wird noch nicht bestimmend für die Existenz und weitere Entwicklung. Die Entwicklung verläuft noch nach herkömmlichen Prinzipien, das Neue gibt es nur "nebenher", es kann auch – in langen Zeiträumen - wieder verschwinden.

Das betrifft die Werkzeugherstellung vor und nach der Zweck-Mittel-Herstellung und auch die Arbeit , die dadurch möglich wird. Diese Werkzeuge werden nämlich nicht mehr nur zur unmittelbaren Bedarfsbefriedigung hergestellt und eingesetzt, sondern auch ohne aktuellen Hunger – "für den Fall" späteren Gebrauchs – nicht nur für den, der es herstellt, sondern auch für andere. Es wird nicht mehr nur der unmittelbare Bedarf befriedigt (oder nur instinktiv "gehamstert"), sondern die Werkzeugherstellung und –benutzung bezieht sich auf eine vorsorgende Veränderung der Umwelt.

Aus tierischem Bedarf werden Bedürfnisse, in denen nicht nur individuelle Mangelzustände beseitigt werden, sondern von vornherein eine kooperativ-vorsorgende Schaffung von günstigen Lebensbedingungen enthalten ist. Die Arbeit ist von vornherein auf solche kooperativ-vorsorgende Bedürfnisse bezogen.

Viele vor-menschliche Gruppen erreichten einen solchen Stand der Entwicklung – sicher gehörte auch "Lucie" einer solchen an. Waren sie aber schon Menschen? Bisher wurde als Kriterium, welcher archäologische Fund "schon Mensch" war, verschiedene Faktoren verwendet: Aufrechter Gang, Gehirnvolumen, Werkzeugfunde etc., etc. Alle diese sind eigentlich recht willkürlich und eher sekundär (zweitrangig) gegenüber der wichtigeren Frage: Wodurch ist das Mensch-Sein inhaltlich gekennzeichnet? Wir müssen uns ein inhaltlich bestimmtes Kriterium überlegen, was festlegt, ab wann die Vormenschen zu Menschen wurden - die jeweilige anatomische Eigenart oder die Werkzeugfunde müssen dann entsprechend diesem Kriterium bewertet werden. Woher bekommen wir ein solches Kriterium? Schauen wir uns einmal an, wie qualitativ Neues entsteht.

Exkurs: Entwicklungs-"Niveaus"

Bei der Erklärung des Funktionswechsels tauchte eben folgender Satz auf: "Die Entwicklung verläuft noch nach herkömmlichen Prinzipien, das Neue gibt es nur "nebenher", es kann auch – in langen Zeiträumen - wieder verschwinden"

Wir meinen hier Neues, das grundlegend neue Ebenen des Seins erzeugt. Die wohl gröbste Unterteilung alles Seienden ist jene in drei Gruppen:

  1. physisch-(anorgansich-)chemische Körper, Gegenstände etc.

  2. biotische Organismen, Arten etc.

  3. menschliche Individuen und Gesellschaft

Abbildung 1: Entwicklungsniveaus

Bereich A)
Letztlich bestehen alle stofflich-energetischen Dinge aus physikalisch-(anorganisch-)chemisch wirksamen Objekten. Auch Bakterien, Pflanzen und Tiere. Wenn eine Katze vom Tisch springt, wird das physikalische Fallgesetz (Beziehung zwischen zurückgelegter Höhe und Geschwindigkeit) durchaus eingehalten. Aber daß die Katze immer auf den Füßen landet, kann man mit Physik nicht erklären.

Übergang in den Bereich B)
Das ist eine Fähigkeit der Katze als biotischer Organismus und läßt sich nur aus der biologischen Funktionalität (Sinn für die Überlebensfähigkeit) des Katzenverhaltens erklären. Die Entwicklung der Organismen verletzt wiederum auch keine physikalischen Gesetze – läßt sich aber nicht auf diese zurückführen oder durch sie erklären. Dafür gibt es zusätzliche biologische Zusammenhänge, die völlig neue Zusammenhänge, z.B. zwischen Mutation und Selektion erfassen. Für das Besondere, das Spezifische, das Typische oder das Wesentliche des Biotischen reichen physikalisch-chemische Zusammenhänge nicht aus – hier wirken besondere, spezifische, typische, wesentliche neue biotische Zusammenhänge (die die Biologie erforscht). Diese spezifischen (die anderen Worte für die Besonderheit auf der neuen Ebene lasse ich ab jetzt weg) Zusammenhänge kennzeichnen die jeweils obere Ebene (das Biotische über/auf Grundlage des Physikalisch-Chemischen) – eine Reduktion auf die Zusammenhänge der unteren Ebene kann nichts auf der oberen Ebene erklären oder begründen. Dasselbe wie im Verhältnis von Physikalischem zu Biotischem geschieht beim Übergang vom bloß-Biotischen zum Menschlichen.

Übergang zum Bereich C)
Hier entstehen neue, spezifische, besondere, wesentliche Zusammenhänge, die sich nicht aufs Biotische oder gar Physikalische reduzieren lassen. Solange Atome nur physikalische Körper wie Sterne oder Planeten bilden, gelten für sie physikalische Gesetze. Solange sich Organismen im Bereich des Biotischen aufhalten, wird ihre Existenz und Weiterentwicklung von biotischen Zusammenhängen bestimmt – die physikalischen Gesetze werden zwar nicht verletzt, sie kennzeichnen aber nicht mehr das Typische, Spezifische, Besondere und Wesentliche des biotischen Organismus und seiner Entwicklung. Sobald hier z.B. nicht mehr nur physikalische atomare Gesetze für die Entwicklung wichtig sind, sondern Mutation und Selektion sich als neue Entwicklungsfaktoren so weit durchsetzen, daß die Organismen sich immer weiter entwickeln und nicht mehr alle aussterben, hat sich die biotische Ebene als dominant durchgesetzt. Dasselbe gilt beim Übergang zum Mensch-Sein. Solange biotische Evolutionsfaktoren wie Selektion und Mutation noch bestimmend sind, ist die neue Stufe nicht erreicht. Und bestimmend sind diese Faktoren mindestens so lange, wie Vor-Menschen-Gruppen durch Umwelteinflüsse ausstarben, "herausselektiert" wurden.

Wirklich menschliche Gruppen haben die Dominanz des Biotischen überwunden, sie können Umwelteinflüsse so weit durch gesellschaftliche Vorsorge und Umweltveränderungen beinflussen, daß zwar noch einzelne Gruppen sterben - aber nicht mehr die Zivilisation als Ganzes. Dies ist das Kriterium, nach dem wir suchen. Erst nach diesem
<i>Dominanzwechsel</i> ist die neue Qualität, das gesellschaftliche Sein, für die Existenz und Entwicklung dominierend, sie kann nicht mehr verschwinden, ohne daß die Menschen selbst verschwinden. Die Menschen können gar nicht mehr ohne diese neue Qualität, die neue Funktion, das neue Verhältnis der Gesellschaftlichkeit leben und überleben.

Dominanzwechsel

Nach dem Funktionswechsel mit der Zweck-Mittel-Umkehrung und der Entstehung der Arbeit verlief für die Vor-Menschen die Entwicklung "noch nach herkömmlichen Prinzipien, das Neue gibt es nur "nebenher"...", denn auch vor ca. 1 Million Jahren oder 500 000 Jahren starben jene Gruppen, die als unsere Vorfahren bekannt wurden, noch aus biologischen Gründen aus. Das Gesellschaftliche dominierte bei ihnen noch nicht.

Allerdings geschah in dieser langen Zeit etwas Wichtiges: Bereits in der Entwicklung der tierischen Organismen hatten sich wichtige Verhaltensmerkmale und psychische Fähigkeiten herausentwickelt. Auf der Grundlage von kognitiver (erkennender) Orientierung, Emotionalität als zustandsabhängiger Wertung von (erkannten) Umweltgegebenheiten und Kommunikation als reziprokem (wechselseitigem) Aufeinanderwirken von Organismen entfalteten sich Sozialstrukturen. Neben weitestgehend angeborene Verhaltensweisen tritt das individuelle Lernen der Tiere. In der niederen Form des Lernen, dem subsidiären Lernen, ist die Reihenfolge der z.B. bei der Nahrungsbeschaffung auszuführenden Aktivitäten festgelegt und es können durch Umwelteinflüsse nur einige Aktivitäten weggelassen werden (z.B. bei der Gewöhnung). Die Reihenfolge der Aktivitäten kann dann bei der höheren Lernform, dem autarken Lernen, noch weiter verändert werden. Die Ablauffolgen, z.B. beim Fangen von Mäusen durch Katzen, können entsprechend verschiedenen Situationen jeweils anders aussehen. Zu lernen, was in welcher Situation günstig ist, erfordert eine gewisse "Spielzeit" und eine Einübung. Die Kindheitsphase im Sozialverband wird gebraucht. Jedes Tier kann nicht nur, es muß lernen, weil nicht mehr alles angeboren ist.

Dies alles sind Eigenschaften und Fähigkeiten, die die Vorfahren der Vormenschen schon mitbrachten. Die Werkzeugnutzung, -herstellung und ihre Verallgemeinerung "für den allgemeinen Fall", d.h. die Zweck-Mittel-Umkehrung kann nur auf dieser Basis entstehen und sich weiter entwickeln. Kulturelle Tradierung beginnt. Jedes einzelne Vor-Menschen-Kind lernt, daß "dieses Ding da" nicht irgendein Stein ist, sondern "gemacht ist zum Schlagen". Es lernt die Kooperation der verschiedenen Gruppenmitglieder zu durchschauen und seinen Platz darin einzunehmen. Sicher wird es dutzende oder hunderte Gruppen gegeben haben, bei denen nach dem bereits erfolgten Funktionswechsel diese Errungenschaften wieder verloren gingen. Und andere, die nur Pech hatten, in einer ungünstigen Region zu wohnen und durch Umwelteinflüsse umkamen, ehe sie durch gesellschaftliche Arbeit genügend Vorsorge und Umweltbeeinflussung erreichten.

Erst jene, die bis heute überlebt haben, weil sie sich weiter entwickeln konnten, waren "Menschen" - der letzte übriggebliebene Zweig, von dem wir alle abstammen: Homo Sapiens. Die letzte vorher ausgestorbene, also noch nicht menschliche Gruppe waren die Neandertaler. Seit ca. 30 000 Jahren sind jene, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Lebensweise überlebten, erst Menschen. Diese Interpretation unterscheidet sich von der üblichen Aussage, daß es Menschen gegeben hätte, seit es Werkzeuge wie Faustkeile gab. Wir haben eben begründet, warum dort noch viele Jahrhunderttausende die biologischen Faktoren dominierten und noch nicht das gesellschaftliche Sein, also der Dominanzwechsel noch nicht stattgefunden hat.


Abbildung 2: Bild Anthropogenese
Vollständiges Bild aus Spektrum der Wissenschaft, Dossier: Die Evolution des Menschen, S. 45 (373 kB!)

Was passierte in der ganzen Zeit bis zum Dominanzwechsel - also in der Zeit von mindestens 1.2 Millionen Jahren bis vor einigen Hundert- oder Zehntausenden Jahren? Warum dauerte es bis dahin so lange? Ganz einfach deshalb, weil biotische Entwicklungsfaktoren eine lange Zeit brauchen. Das Neue kam ja nicht einfach zusätzlich zur biotischen Lebensweise hinzu, sondern es schrieb sich, wie alle in der Tierentwicklung entstehenden jeweiligen neuen Lern- oder Verhaltensfähigkeiten, in die Gene hinein.

Es könnte durchaus sein, daß diese Anfänge sich an verschiedenen Stellen des Erdballs vollzogen - aber nur beim Homo Sapiens bis zum Dominanzwechsel führten. Während dieser Prozesse starben die Pre-australopithecus afarensis, Australopithecus africanus und Australopithecus robustus sowie Paranthropus und auch die Neandertaler aus. Die Ausgestorbenen konnten, entsprechend unserem Kriterium für den Dominanzwechsel, noch keine Menschen gewesen sein.

Nur bei den Homo sapiens konnte die Dominanz des Biotischen durch "aktive Anpassung des gesellschaftlichen Lebensprozesses an die Außenweltanforderungen" (Holzkamp 1983, S. 180) überwunden werden. Diese Homo sapiens gibt es als alleinige Art seit ca. 30 000 Jahren, anscheinend fand die Trennung der Homo sapiens von den Neandertalern bereits vor ca. 600 000 Jahren statt (Eberl 1998, S. 53).

Exkurs: 5-Schritt-Qualitätssprung

Die eben durchgeführte Unterscheidung von Funktionswechsel und Dominanzwechsel taucht bei allen Entwicklungsprozessen auf, in denen etwas grundlegend Neues entsteht. Der sogenannte "Qualitätssprung" wurde vor allem Gegenstand des dialektischen Denkens. Holzkamp weist auch im Bereich der Phylogenese - die er zwecks Erkundung der Evolution des Psychischen genau untersucht - nach, daß alle Entwicklungsprozesse mit Qualitätsänderungen 5 typische Phasen/Schritte haben (vgl.: http://www.thur.de/philo/5_schritt.htm):

  1. Auf der jeweils früheren Stufe müssen die Voraussetzungen für das sich entwickelnde Neue gegeben sein: für die Anthropogenese muß z.B. das Psychische im Bereich der individuellen Lernfähigkeit weit entwickelt sein und es müssen hochkomplexe tierische Sozialverbände existieren. Gleichzeitig sind hier schon Keimformen von Merkmalen, Verhaltensweisen oder Prozessen (gelegentliche Werkzeugnutzung und -herstellung) vorhanden, die später einmal die Entwicklung bestimmen werden - aber jetzt noch unwichtig sind.
  2. Diese Keimformen entwickeln sich nicht von alleine zur dominanten Form - sondern daß sie wichtig und bedeutsam werden, wird befördert durch Veränderungen der Außenweltbedingungen für das jeweils sich-Entwickelnde. Vor ca. 8 Millionen Jahren veränderte sich die Geologie in Afrika - und viele Affenpopulationen mußten erleben, daß ihre frühere Lebensweise nicht mehr genügend an die nun vorhandenen Steppen angepaßt waren. Viele starben aus - andere hatten genügend Voraussetzungen, um sich erneut anzupassen.
  3. Allerdings war diese Anpassung für einige dieser Populationen nicht mehr nur eine biologische Anpassung - sondern Keime zu aktiver Umweltveränderung, Werkzeugbenutzung und -herstellung, wurden nun plötzlich wichtig für das Überleben und entwickelten sich immer weiter. Der Funktionswechsel setzte mit der Zweck-Mittel-Verkehrung und der "Erfindung" der Arbeit ein, was wohl in vielen Populationen stattfand (bei allen - auch den ausgestorbenen - als Hominiden bezeichneten Lebensformen). Diese neuen Prozesse wurden jedoch nicht sofort zu den ausschlaggebenden Lebens- und Entwicklungsprozessen, sondern existierten neben den noch dominierenden biologischen. Sie "schrieben sich in die Gene ein" - weil die biologischen Selektionsmechanismen noch weiter dominieren und die Arbeit die Umwelt noch nicht ausreichend entsprechend den Lebensbedürfnissen der Vor-Menschen verändern kann.
  4. Sobald die neuen Prozesse wesensbestimmend werden (d.h. die Existenzform und die weitere Entwicklung dominierend bestimmen), ist der Dominanzwechsel vollzogen. Solange auf dem Weg dahin auch Rückfälle in die jeweils früheren Zustandsformen und Prozessformen möglich waren (die gestrichelten Linien in der Abbildung), war der Dominanzwechsel noch nicht vollzogen. Erst bei einer irreversiblen (nicht mehr rückgängig zu machenden) Durchsetzung des Neuen als dominantem Entwicklungsfaktor ist der Dominanzwechsel und damit der Qualitätssprung endgültig vollzogen. Sobald die Menschen ihre Umwelt aktiv entsprechend ihren Bedürfnissen so verändern, daß sie als Art nicht mehr durch Umwelteinflüsse aussterben, ist dies für die Anthropogenese erreicht.
  5. Auf der Grundlage dieses Neuen verändert sich der gesamte Prozeß des betreffenden sich entwickelnden Systems. Differenzierungen, innere Umgestaltungen etc. Auch die sozialen Strukturen verändern sich z.B. grundlegend. Arbeitsteilung beginnt, das Soziale ist zum Gesellschaftlichen geworden. Die Beziehungen der Menschen untereinander sind nicht mehr durch direkte Kontakte und unmittelbare Kooperation gekennzeichnet, sondern durch übergemeinschaftliche, mittelbare gesellschaftliche Reproduktionszusammenhänge... aber dazu später noch mehr.

Abbildung 3: Allgemeine Struktur von Qualitäts-"Sprüngen"

 

Diese allgemeine Struktur der Qualitätssprünge gilt für die "großen" Sprünge zwischen den drei Hauptniveaus (siehe Abb. 1) - aber auch für die jeweils "kleineren" qualitativen Veränderungen innerhalb der Niveaus ("fraktale Anthropogenese").

Wer die Bestimmungen der Dialektik in Erinnerung hat, wird sie hier auch wiederfinden:

  • Widersprüchlichkeit als wichtigste Voraussetzung für Entwicklung: einerseits steht das im ersten Schritt auftauchende keimförmige Neue im Gegensatz zum Alten (sonst wäre es nicht "neu genug"), andererseits führen die Umweltveränderungen im zweiten Schritt zu Widersprüchen von Innen und Außen.
  • Umschlag vom Qualitativen ins Quantitative und umgekehrt: alle Qualitäten treten in verschiedenen Quantitäten auf, sie bilden Maßverhältnisse, die bei Veränderungen dieser Verhältnisse zu einem "umkippen" der Qualitäten führen können (was sich auch an ihrer quantitativen Verteilung zeigt). Der qualitative Umbruch/Sprung ist vollendet, wenn nicht nur eine hohe Anzahl der Dinge/Akteure die neuen Qualitäten verkörpert, sondern alle, wenn eine Existenz ohne das Neue für keins der Dinge, keinen der Akteure, mehr möglich ist: wenn kein Mensch mehr ohne Gesellschaft leben kann.
  • Negation der Negation: Das einfachste Beispiel dafür ist: ein Baum "negiert sich", indem er Samen in die Welt setzt. Einige Samen "negieren sich" wieder, indem sie auch zu Bäumen werden. Die neuen Bäume sind die "Negation der Negation" der alten. Etwas genauer:
    Das neu Entstandene realisiert in irgendeiner Weise auch die Existenz des Früheren - führt sie in neuer Form weiter. Aber ihre Funktionsmechanismen und Evolutionsprinzipien haben sich verändert (das ist beim Baum nicht so deutlich). Das Soziale beispielsweise aus den tierischen Gemeinschaften hat in der Gesellschaft völlig neue Funktionen und Formen. Es wurde einerseits in dem Sinne negiert, daß sie in den alten Formen nicht mehr existieren - aber andererseits wurde auch die Nichtexistenz wieder negiert - weil sie in neuen Formen und Funktionen wieder im Gesellschaftlichen "aufgehoben" sind.
Schließen wir noch eine kleine Spekulation an: Wir hatten oben geschrieben, daß der Dominanzwechsel bei der Anthropogenese vollzogen war, "sobald die Menschen ihre Umwelt aktiv entsprechend ihren Bedürfnissen so verändern, daß sie als Art nicht mehr durch Umwelteinflüsse aussterben". Nun kann es durchaus noch passieren, daß die Menschheit entweder durch kosmische Einflüsse (Asteroid!) oder durch ihre eigene Dummheit (Klimakatastrophe...) auf der Erde umkommt. Das negiert nicht ihre Menschlichkeit in der Gegenwart. Vielleicht ist die Überlebensfähigkeit aus "kosmischer Sicht" ein Kriterium für "kosmische Zivilisationen" - was wir also noch lange nicht erreicht haben, sondern erst, wenn die Menschheit auch kosmisch gesehen nicht mehr aussterben kann.

Warum haben wir jetzt so auf der Erkenntnis herumgehackt, daß der Dominanzwandel bedeutet, daß die neue Qualität des Menschlichen nicht mehr reversibel (rückgängig zu machen) ist? Weil das einiges aussagt über das, was Mensch-Sein bedeutet. Es bedeutet vor allem, daß Menschen nur als gesellschaftliche Wesen existieren. Es gibt keine nicht-gesellschaftlichen Menschen. "Ein Mensch ist kein Mensch". Jeder Mensch hat das Gesellschaftliche in sich. Jeder Mensch ist natürlicherweise immer gesellschaftlich.

Literatur:
Eberl, Ulrich (1998): Provokation aus dem Labor. In: bild der wissenschaft 3/1998, S. 53-55
Holzkamp, Klaus (1983,1985): Grundlegung der Psychologie
 

Weiter: Jeder Mensch ist natürlich gesellschaftlich

  Dieser Text als Open-Theory-Projekt

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