Klassische Deutsche Philosophie

Welche enorme Wirkung die Kantsche Freisetzung des Nicht-Naturgesetzlichen ausübte, hat Johann Gottlieb Fichte (1762 – 1814) in seiner Schrift "Die Bestimmung des Menschen") nachvollziehbar beschrieben. Wir erinnern uns an einen Satz Spinozas: "Der Geist erkennt, daß alle Dinge notwendig sind und durch eine unendliche Kette von Ursachen zum Existieren und Wirken bestimmt werden" (Spinoza 1677/1988, S. 301). Dieses Stadium des Denkens, durch das jeder wahre Denker nach Schelling und Hegel hindurchgegangen sein muß, kennt auch Fichte. Er beschreibt seinen damaligen Erkenntnisstand: "Die Natur schreitet durch die unendliche Reihe ihrer möglichen Bestimmungen ohne Anhalten hindurch; und der Wechsel dieser Bestimmungen ist nicht gesetzlos, sondern streng gesetzlich" (Fichte 1801/1976, S. 13). Der einzelne Mensch kann dann nur "ein Glied in der Kette der strengen Naturnotwendigkeit" (ebd. S.18) sein. Die Freiheit kann nur darin bestehen, "alles zu tun, was die Natur fordert" (ebd. S. 22). Dies ist nur die halbe Freiheit, die "einer fremden Kraft außer mir" (ebd., S. 29) folgt.

Später gibt sich Fichte damit nicht mehr zufrieden. Ohne den Versuch einer vernünftigen, methodisch klaren Begründung stellt er sich plötzlich auf den Standpunkt "Der Rang, welchen in jenem Lehrgebäude jede ursprüngliche Naturkraft einnimmt, will ich selbst einnehmen" (ebd.). Das einzigste Argument, das er hier nennt ist ein eher gefühlsmäßiges: "Das System der Freiheit befriedigt, das entgegengesetzte tötet und vernichtet mein Herz" (ebd., S. 33).

Fichte geht über Kant hinaus. Während Kant die Freiheit für das Praktische gesetzt hat, fundiert Fichte die gesamte Theorie auf diesem neuen Ansatz. Und während Kant für die Freiheit ein Refugium außerhalb der Welt der Erscheinungen – in der Welt der "Dinge an sich" begründen wollte, sieht Fichte darin nur Dogmatismus. Er will die Freiheit direkt aus einer absoluten Intelligenz ableiten, indem er bewusst von aller Erfahrung abstrahiert (Fichte 1797, S. 13).

Inhaltlich verwendet Fichte das Kantsche Argument, daß "alles Wissen lediglich ein Wissen von dir selbst ist, daß dein Bewußtsein nie über dich selbst hinausgeht..."(Fichte 1801/1976, S.57). Er leugnet die Welt der Objekte als selbständig existierende Dinge, um die Menschen von den Ängsten von den äußeren Notwendigkeiten zu befreien: "Du wirst nun nicht länger vor einer Notwendigkeit zittern, die nur in deinem Denken ist... (S. 74).

Nicht die Naturkraft bestimmt alles, sondern "ICH bin ICH und setze alles Nicht-Ich!", wie er später sagen wird. Die Negierung des Nicht-Ich durch das Ich bedeutet, daß die Macht des Äußeren über den Menschen geleugnet wird: "Hat ein Nicht Ich Realität für das Ich,... so kann..., das Ich allerdings auch sich setzen, als bestimmend (einschränkend, begrenzend) jene gesetzte Realität" (Fichte 1794-95/1802, S. 249). Nicht das Äußere bestimmt die Menschen, sondern sie bestimmen, was aus dem Außen für sie relevant ist. Für Intelligenzen gibt es "mannigfaltige Handlungsmöglichkeiten, unter denen allen,... ich auswählen kann, welche ich will..."(Fichte 1801/1976, S. 31).

Aber diese Auswahl, das Wollen, ist nicht beliebig. Es geht um die Identität des Ichs mit sich selbst und mit dem Nicht-Ich. Einerseits "hängen die empirischen Bestimmungen unseres Ich, wenigstens ihrem grössten Theil nach, nicht von uns selbst, sondern von etwas ausser uns ab" (Fichte 1794, S. 12). Andererseits besteht der "Endzweck des Menschen" in der völligen "Übereinstimmung mit sich selbst" (ebd., S. 14). Um dies zu erreichen, müssen die Dinge außer uns so verändert werden, daß sie uns nur so bestimmen können, daß wir in diese Übereinstimmung gelangen. Er erläutert dies an anderer Stelle: "... wenn die Wissenschaftslehre gefragt werden sollte: wie sind denn nun die Dinge an sich beschaffen? so könnte sie nicht anders antworten als: so, wie wir sie machen sollen" (Fichte 1795-96/1802, S. 307). Fichtesche Philosophie ist Identitätsphilosophie. Die schon vorausgesetzte Einheit "Ich bin Ich" zeigt sich in der Praktischen Philosophie in der Forderung, die Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst durch eine entsprechende praktische Umgestaltung aller Dinge außer ihm ebenfalls herbeizuführen. In mir ist das Wissen, wie die Dinge werden sollen. Die Einheit kann ich nur herstellen, wenn ich auf die Dinge in diesem Sinne einwirke.

"Die vollkommene Uebereinstimmung des Menschen mit sich selbst, und - damit er mit sich selbst übereinstimmen könne - die Uebereinstimmung aller Dinge ausser ihm mit seinen nothwendigen praktischen Begriffen von ihnen, - den Begriffen, welche bestimmen, wie sie seyn sollen, - ist das letzte höchste Ziel des Menschen" (Fichte 1794, ebd.).

Dieses Ziel ist, wie Fichte 1794 schreibt, nicht erreichbar, solange der Mensch nicht Gott wird –das Streben danach kennzeichnet die Kultur der Menschen – und bedingt seine Gesellschaftlichkeit (ebd., S. 26f.). Ihrem empirischen Sein nach sind die Menschen auch von etwas außer ihrem Bewusstsein, dem Nicht-Ich, abhängig. Dies können sie aber nur erfühlen, nicht erkennen. Das Fühlen wird jedoch nur in seiner negativen Rolle genommen, als ein "Beschränktsein", ein Nicht-Tätigsein, als ein Zwang (Fichte 1795-96/1802, S. 313). Praktisch steht das Besiegen der Natur bis zuletzt auf Fichtes Agenda (zitiert in Hirschberger II, S. 375).

Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 - 1854) kritisiert an Fichte, daß er nicht erkenne, daß seinem Ich eine Natur unterliegt, von der all sein Wollen abhängt (Schelling 1827/1856, S. 140).

Schelling verfolgt das bewusste Ich zurück, bis in seine Entstehung, seinem Sich-selbst-Bewußtwerden, seinem Zu-sich-selbst-Kommen. Dies ist sein Versuch, "den Fichteschen Idealismus mit der Wirklichkeit auszusöhnen oder zu zeigen, wie gleichwohl, auch unter Voraussetzung des Fichteschen Satzes, daß alles nur durch das Ich und für das Ich ist, die objektive Welt begreiflich sei" (Schelling 1827/1856, S. 144). Dieses Bewusstwerden stellt das subjektive Ich in den Selbsterkenntnisprozeß eines objektiven Ichs, deren Einheit am Ende steht (ebd., S. 149). Schelling beginnt mit einer Subjektivität, in der alles gegenständliche Sein negiert ist (Es ist "nicht nicht", aber "als nichts"), die vor aller Aktivität gedacht wird. Diese unterscheidet sich von der Spinozistischen Substanz dadurch, daß sie als Subjektivität nie im Objekt untergehen wird (ebd., S. 151).

Bild 11: Schelling: "Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit"

Diese Subjektivität kann nicht "als nichts" bleiben, sondern zieht Sein, Objektivität an – und zwar ist es zufällig, welches erste Sein es zu einem Etwas macht ("Urzufall", ebd., S. 155). Das von Sein unbehaftete Wesen bleibt allerdings erhalten. Entstanden ist die (noch nicht geformte) Materie. Die aufgebaute Spannung zwischen dem Etwas-Seiendem und dem unentfalteten idealen Wesen treibt einen Prozeß an, der immer neue, höhere Formen von Freiheit entfaltet. Schelling kommt zu einer Naturphilosophie, die in aller Natur die Prozeßhaftigkeit des Subjektiven am Werke sieht. Die Momente der Natur sind lebendige Subjektivität (vgl. ebd., S. 163). Und dieser Weg gehört bei Schelling notwendig zum Verständnis des letztlich Idealen, des objektiven Geistes, dazu.

"Die Philosophie musste in die Tiefen der Natur hinabsteigen, nur um sich von dort aus zu den Höhen des Geistes zu erheben" (ebd., S. 164).

Die Entwicklung der Subjektivität im Menschen eröffnet eine neue Dynamik von sich wechselseitigem vorantreibendem Erkennen und Handeln:

"Die Notwendigkeit ist das, womit der Mensch in seinem Erkennen zu tun hat, dem er in seinem Erkennen unterworfen ist; die Freiheit ist Freiheit des Handelns und des Tuns." (ebd., S. 176).

Die menschliche Geschichte verläuft in sich verschränkende Phasen: die Notwendigkeit erkennen – frei handeln. Schelling stellt die Freiheit – wie Kant und Fichte – in den Mittelpunkt seines Denkens: "Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist - Freiheit" (Schelling 1795, S. 67). Diese Freiheit bezieht er zu Anfang auch nicht nur auf die Substanz bzw. Gott, sondern auf die Menschen:

"Philosophie... die als ihr erstes Princip die Behauptung aufstellt, daß das Wesen des Menschen nur in absoluter Freiheit bestehe, daß der Mensch kein Ding, keine Sache, und seinem eigentlichen Seyn nach überhaupt kein Objekt sey..." (Schelling 1795, S. 47).

Später erkennt und betont er viel stärker die Einbindung der (menschlichen) Freiheit in die Notwendigkeit des räumlich-zeitlichen Seins. Da jede Handlung Folgen hat, die man erkennen kann, würde eine "schrankenlose Freiheit, die durch keine Gesetzmäßigkeit gezügelt wäre, zu einer trostlosen und verzweiflungsvollen Ansicht der Geschichte" (Schelling 1827/1856, S. 178) führen. Freiheit ist mit Notwendigkeit vermittelt:

"Hier wird also für die Geschichte selbst eine Notwendigkeit gefordert, die auch gegen die moralische Freiheit noch besteht und sich behauptet, die also nicht blinde Notwendigkeit (über welche die Freiheit allerdings erhoben ist) sein kann, welche vielmehr nur darum die Freiheit mit der Notwendigkeit vermittelt..." (ebd., S. 179).

Diese Entwicklung des Subjekts zu einem höchsten vollzieht nicht der einzelne, menschliche Geist. Gegenüber dem höchsten Subjekt verhält das "menschliche Selbst sich als Werkzeug oder Organ" (ebd., S. 180). Das empirische Ich, der reale Mensch, hat Anteil an dem Unendlichen des Subjekts, das Schelling später auch direkt Substanz nennen wird (sonst könnte es gar keine Vorstellung vom unendlichen Ich, der Substanz, Gott haben), wird aber von etwas außer ihm bestimmt. Freiheit besteht darin, seinem eigenen Wesen folgen zu können, das jedoch für endliche Wesen aus dem Unendlichen folgt. Für das menschliche Sein und Streben bedeutet das: Sein Wesen wird durch das Unendliche bestimmt – aber nicht "gemacht". Der Mensch muß sein Wesen selbst entwickeln. Wenn er weiß, was ihm noch möglich ist zu entwickeln, dann kann er dies auch: "Gebt dem Menschen das Bewußtseyn dessen, was er ist <d.h. sein kann, welche Möglichkeiten er noch hat... A.S.>, er wird bald auch lernen, zu seyn, was er soll" (Schelling 1795, S. 47). Und dieses Können ist ein Auftrag: "Also soll das endliche Ich streben, alles was in ihm möglich ist, wirklich... zu machen" (Schelling 1795, S. 122). Der Weg, auf dem er sich vervollkommnet, ist jedoch nicht vorgeschrieben. Der Mensch bringt seine Geschichte nicht mit, sondern er bringt sie hervor. Es gibt keine Theorie a priori der Geschichte. "Dem Menschen aber ist seine Geschichte nicht vorgezeichnet, er kann und soll seine Geschichte sich selbst machen" (Schelling 1796/1797, 301). Dies ist für Schelling aber keine positive Bestimmung – wenn wir unsere Aufgabe erfüllt hätten, gäbe es auch für uns keine Geschichte mehr, sondern nur noch das "Gesetz unsrer vollendeten Natur" (ebd., S. 304). Deshalb ist dem Menschen nicht eine willkürliche Wahl freigestellt. Die wirkliche Freiheit besteht in der Vereinigung mit der Notwendigkeit. Die "Aufgabe besteht darin, die richtige Notwendigkeit zu wählen" (Schelling 1809). Diese Freiheit leugnet nicht die Abhängigkeit (des Wesens vom Unendlichen) – aber diese Abhängigkeit hebt die Freiheit nicht auf, denn sie bestimmt das Wesen nicht vollständig (Schelling 1809, S. 56). Richtig ist jene Notwendigkeit, die dem freien Wesen entspricht, denn "frei ist, was nur den Gesetzen seines eignen Wesens gemäß handelt und von nichts anderem weder in noch außer ihm bestimmt ist" (ebd, S. 101).

Insgesamt ist die Dialektik von Notwendigkeit und Freiheit bei Schelling recht verworren. "Das Wesen des Menschen ist wesentlich seine eigne Tat" (ebd., S. 102). Aber diese Tat ist keine reale, die der existierende Mensch ausführt, sondern sie "fällt außer aller Zeit... mit der ersten Schöpfung" (ebd., S. 103). "Dass Judas ein Verräter Christi wurde, konnte weder er selbst noch eine Kreatur ändern..." (ebd.) Trotzdem wird Judas nicht durch etwas außer ihm , gegen seinen Willen, dazu gezwungen – das wäre das Gegenteil von Freiheit. Nein, der Verrat entsprach seinem Wesen und deshalb "verriet er Christum nicht gezwungen, sondern willig und mit völliger Freiheit" (ebd.).

Aus diesem Verständnis von Freiheit heraus ist es dann auch nicht mehr unverständlich, wenn sogar fatalistische Töne bei Schelling anklingen:

"Was bestehen soll, besteht, und was vergehen soll, vergeht; an beidem kann nichts verhindert oder hinzugethan werden... Wozu also alle Sorgen und das unruhige Streben? Was geschehen soll, geschieht doch" (Schelling 1804, S. 579).

Sogar Gott ist – zumindest bis 1828 – bei Schelling an die Notwendigkeit gebunden, mit der er die Dinge nur hervorgehen lassen kann.

Schelling und sein Jugendfreund Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 – 1831) beginnen gedanklich bei fast gleichen Ausgangspunkten – beginnen sich aber spätestens nach 1803 auseinander zu entwickeln. Hegel kritisiert an Schellings Denken die fehlende innere Notwendigkeit der Abhandlungen. Er selbst will sein Begriffssystem mit strenger Notwendigkeit entwickeln – was Schelling als nicht gelungen kritisiert, weil dies zu einem "eintönigen, beinah einschläfernden Fortschreiten... kein Kampf ...völlig ohne wahres Leben" führt (Schelling 1827/1856, S. 212).

In Hegels System ist – ebenso wie in Schellings – der einzelne Mensch bedacht als Träger des Geistes, als Moment auf dem Weg hin zum Absoluten. Auf diesem Weg unterscheidet Hegel stärker als Schelling zwischen unterschiedlichen Qualitäten. Dadurch gibt es auch eine größere Unterscheidung zwischen außermenschlicher Natur und Natur des Menschen als bei Schelling. Während Schelling die Freiheit – entgegen Fichte – der gesamten Natur (allerdings nur ihren Anteil an natura naturans, der ewigen Substanz/Gott) zuschreibt, steht für Hegel der Mensch viel näher am absoluten Geist und die Natur ist nur der "Abfall der Idee von sich selbst" (Hegel 1817/1986 II, S. 28). Freiheit reserviert Hegel für den Geist im Menschen:

"Die Natur zeigt daher in ihrem Dasein keine Freiheit, sondern Notwendigkeit und Zufälligkeit" (ebd., S. 27).

Der Mensch soll nicht nur ein Naturwesen sein:

"Insofern der Mensch als Naturwesen ist und sich als solches verhält, so ist dies ein Verhältnis, welches nicht sein soll. Der Geist soll frei und das, was er ist durch sich selbst sein." (Hegel 1817/1986 I, S. 90)

Für das einzelne Individuum bedeutet dies, daß es von ihm abhängt, ob es die auf ihn einströmende Wirklichkeit einlässt oder abwehrt:

"Was auf die Individualität Einfluß und welchen Einfluß es haben soll - was eigentlich gleichbedeutend ist -, hängt darum nur von der Individualität selbst ab" (Hegel 1807/1988, vgl. auch HW 3, S. 231).

Daraus ergibt sich, daß es im Feld der Individualpsychologie keine Notwendigkeit gibt, die von außen zu ergründen wäre, denn "so ist die Welt des Individuums nur aus diesem selbst zu begreifen" (ebd., S. 239).

Davon ausgehend hat das Individuum auch mehrere Möglichkeiten, sich zu verhalten (Hegel 1807/1988, S. 243ff.). Es kann seiner Selbstverwirklichung ohne jegliche Bindung nachstreben ("Weltgenuß") –was aber dazu führt, daß die Befriedigung des Genießens doch wieder an der Allgemeinheit gemessen wird. Es kann Befriedigung und Genuß im Versuch der Weltverbesserung suchen - wodurch allerdings seine Individualität verloren gehen kann. Es kann versuchen, seine Individualität zurückzustellen, zu Opfern bereit sein, "tugendhaft" zu leben – aber dies machte aus ihm einen "traurigen Ritter, der seine Waffen nicht bekleckern will" (Ludwig 1997, S. 145). Hegel fordert dem gegenüber eine "sich bewegende Durchdringung des Allgemeinen... mit der Individualität" (Hegel 1897/1988, S. 258): Das Tun und Treiben der Individualität ist und bleibt Zweck an sich selbst – sich nicht dem Allgemeinen unterwerfend. Aber gleichzeitig steckt im allgemeinen Weltlauf das Gute, das sich selbst hervorruft. Das Individuelle wird nicht aufgeopfert, sondern die Individualität ist gerade die Verwirklichung dessen, was der allgemeine Weltlauf ermöglicht und der Weltlauf wird durch die sich selbst Zweck seiende Individualität realisiert.

Auf diese Weise entsteht der "Geist", ein wichtiger Begriff bei Hegel. Er steht nicht "über" den Einzelnen – obgleich er die reale Gemeinsamkeit der Einzelnen in ihrem selbstgestalteten sittlichen Leben ist. Er ist gemeinsames Werk und gemeinsamer neuer Ausgangspunkt aller Einzelnen (ebd., S. 189). Man könnte den Geist auch "Kommunikations- und Gattungs-Einheit der selbstbewussten und gegenstandsbewussten Individuen" (Heinrichs 1974, S. 269) nennen.

Bild 12: Hegel: Geschichte als "Marsch der Vernunft durch die Welt"

So abstrakt das System Hegels auch am Ende aussieht – Hegel betont immer wieder, daß es nur bei erhaltener inhaltlicher Fülle wahr ist. Zwar wird das eben beschriebene rein Menschliche im System aufgehoben, aber auch als solches aufbewahrt – es geht nicht mehr verloren.

Es ist natürlich nicht zu erwarten, daß ein Individuum völlig außerhalb der Möglichkeiten seiner Zeit leben könnte – es kann Zeit nicht überspringen (Hegel 1820, S. 22). In seiner Rechtslehre unterscheidet Hegel verschiedene Formen von Freiheit. Bloße Willkür, bloßes Wollen ("negative Freiheit der Leere" ebd., S. 45) will er nicht als die wahre Freiheit gelten lassen. Auch im (die Einzelnen als Gleiche betrachtenden) Recht oder der ergänzenden (die Besonderheit der Individuen berücksichtigenden) Moralität ist Freiheit noch nicht vollkommen. Freiheit bleibt "Selbstbestimmung der Subjektivität" (ebd., S. 170), braucht aber eine Einrichtung, in der die Freiheit allgemein und objektiv werden soll, den Staat (ebd., S. 78).

Hegel bindet Freiheit nicht an isolierte Personen und fragt dann, wie weit Freiheit gehen kann (z.B. bis zur Freiheitssphäre des Anderen). Für ihn ist wirkliche Freiheit für Menschen nur in (das Recht und Moral noch überschreitender sittlicher) Gesellschaftlichkeit (bei ihm mit Staat identifiziert) möglich:

"Die Gemeinschaft der Person mit anderen muß daher wesentlich nicht als eine Beschränkung der wahren Freiheit des Individuums, sondern als eine Erweiterung derselben angesehen werden" (Hegel 1801, S. 82).

Er hat deshalb schon einen Begriff der "gesellschaftlichen Natur" des Menschen – unterstellt also nicht das bürgerlich-isolierte Einzelwesen, aber diese Einbindung in Allgemeines entsteht bei ihm spekulativ.

Ludwig Feuerbach (1804 – 1872) kritisiert vor allem die Religion und versucht durch die Bestimmung des Wesens des Menschen eine neue Grundlage des Denken zu legen. Er unterscheidet das Wesen des Menschen von dem des Tieres:

"Das Tier hat daher nur ein einfaches, der Mensch ein zweifaches Leben: bei dem Tiere ist das innere Leben eins mit dem äußern - der Mensch hat ein inneres und äußeres Leben. Das innere Leben des Menschen ist das Leben im Verhältnis zu seiner Gattung, seinem Wesen. Der Mensch denkt, d.h. er konversiert, er spricht mit sich selbst. Das Tier kann keine Gattungsfunktion verrichten ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Mensch aber kann die Gattungsfunktion des Denkens, des Sprechens - denn Denken, Sprechen sind wahre Gattungsfunktionen - ohne einen andern verrichten. Der Mensch ist sich selbst zugleich Ich und Du; er kann sich selbst an die Stelle des andern setzen, eben deswegen, weil ihm seine Gattung, sein Wesen, nicht nur seine Individualität Gegenstand ist" (Feuerbach 1841, S. 35-36).

Bei Feuerbach geht jedoch die Geschichtlichkeit verloren, die Schelling und Hegel wenigstens in der Entwicklung der Substanz bzw. des Absoluten sahen. Deshalb sind seine Ausführungen zum Wesen Menschen abstrakt und unhistorisch.


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