Konstruktivismus

 
Was Menschen von ihrer Umwelt in sich aufnehmen, ist vielfältig gefilter. Bereits in der Wahrnehmung optischer oder akustischer Signale werden Anteile herausgefiltert bzw. Gestalten hineininterpretiert. Schon diese Wahrnehmung hängt von der Bedeutung der Signale für die empfangene Person ab, wobei unter Bedeutung ein Verhältnis zwischen psychischen Charakteristika und den objektiven Beschaffenheiten der Umwelt verstanden wird (Holzkamp 2005: 207).
Die Bedeutung von äußeren Umweltgegebenheiten für Menschen wird zusätzlich zu objektiven Umständen (Hunger, Durst, Sättigung...) vom Denken der Menschen bestimmt. Bei der Kommunikation zwischen Menschen kann es außerdem vorkommen, dass eine Person etwas Bestimmtes ausdrücken möchte, die empfangende Person aber etwas anderes heraushört (vgl. die 4 Seiten einer Nachricht nach Schulz von Thun MR 1).


(nach Schulz von Thun MR 1: 81)

Wir sehen die Welt also von vornherein niemals so, wie sie "wirklich ist", sondern nach Maßgabe unserer Wahrnehmungsfähigkeit, Bedeutung und jeweils konkreter Perspektive. Dabei werden, wie schon anhand der Gestaltwahrnehmung erwähnt, nicht nur Informationen aus der Umwelt nicht wahrgenommen ("weggefiltert"), sondern durch die physiologische, neurologisch unbewußte oder bewußte Aktivität werden auch erst Umweltgegebenheiten zu ganzheitlichen Objekten, die von anderen unterschieden oder gar getrennt werden gestaltet, d.h. "konstruiert". Die erkenntnistheoretische Perspektive, "die jede Erkentnnistätigkeit als konstruierende begreift", wird Konstruktivismus genannt (Janich 1999: 722). Die Gegenposition wäre eine "Abbildtheorie" als naiver Realismus. Eine konstruktivistische Sicht betont die eigene Aktivität des wahrnehmenden Organismus bzw. des erkennenden Subjekts. Aufgrund dieser eigenen Aktivität bekommt der von uns wahrgenommene Inhalt eine Eigenlogik, die auf unserer eigenen Aktivität beruht.

Ist Konstruktivismus idealistisch?

Eine andere[1] konstruktivistische Erkenntnistheorie beruht auf der biologischen Theorie der Autopoiesis (Maturana 1982, zusammenfassend siehe auch Schlemm 1997/1998), in der für Organismen folgende Merkmale betont werden:

  • Die eigenen Zustände werden nur intern gesteuert (Selbstreferentialität),
  • Es werden nur organismusinnere Zustandsänderungen wahrgenommen, Reize von außen können nur Selbstveränderungen initiieren, die dann wahrgenommen werden (operative Geschlossenheit)[2] und
  • Der Organismus wählt seine Außenkontakte selbst aus (strukturelle Kopplung und Strukturdeterminismus[3]).
Diese Ansicht könnte bis hin zum idealistischen Solipsismus ausgeweitet werden: Demnach leben wir vielleicht nur als "Gehirne im Tank" (McDowell 2001: 40) und konstruieren uns unsere Außenwelt durch Gehirnaktivitäten in beliebiger Weise selbst.
Wikipedia formuliert: "Strenggenommen ist es sogar zweifelhaft, ob es denn in der Welt 'da draußen' etwas gibt, das sich von allem anderen, was da draußen ist, in irgendeiner Form so abhebt, dass wir es wahrnehmen können, z.B. einen Apfel mit roten Bäckchen, einem lieblichen Duft und einem leckeren Geschmack." Viele Konstruktivisten machen aber selbst darauf aufmerksam, dass sich die "wirkliche Welt" spätestens dort zeigt, wo unsere Konstruktionen scheitern (v. Glasersfeld). "Obwohl meine gesamte Welt eine Konstruktion ist, kann ich immer noch eine nützliche Unterscheidung zwischen Illusion und Wirklichkeit treffen." (v. Glasersfeld 1991/1999, S. 56) Um extreme Verabsolutierungen zu vermeiden, sollte darauf geachtet werden, dass konstruktivistische Sichtweisen nicht unbedingt in Solispismus ausarten müssen und der behauptete Bezug zur Welt kein naiver Realismus sein muss (siehe diese Situation im Wertequadrat).

Folgen für die Kommunikations-Psychologie

Letztlich stecken in meiner Vorstellung, meinem Wissen über die Welt, über andere Menschen und sogar über mich selbst konstruktive Anteile. In der Kommunikation geraten dann jeweils die Konstruktionen aller Beteiligten aneinander.

"Unsere Erörterung hat uns zu der Folgerung geführt, daß es, biologisch gesehen, in der Kommunikation keine "übertragene Information" gibt.[...] Jede Person sagt, was sie sagt und hört, was sie hört, gemäß ihrer eigenen Strukturdeterminiertheit; daß etwas gesagt wird, garantiert nicht, daß es auch gehört wird. Aus der Perspektive eines Beobachters gibt es in einer kommunikativen Interaktion immer Mehrdeutigkeit. Das Phänomen der Kommunikation hängt nicht von dem ab, was übermittelt wird, sondern von dem, was im Empfänger geschieht." (Maturana, Varela 1990: 212) Wikipedia schreibt dazu:

Grundlage dieser Theorien ist die Annahme, dass Menschen durch Leistungen ihres eigenen subjektiven Bewusstseins Wirklichkeitsvorstellungen konstruieren.

Es gibt also nach dieser Vorstellung keine allgemeingültige Wirklichkeit, sondern immer nur eine subjektive Wahrnehmung, die von unterschiedlichen internen Faktoren geprägt ist.

Dies bedeutet für die Kommunikation, dass Information nicht mehr als Informationspaket von A nach B definiert wird [...], sondern dass sie vom Kommunikator nach internen Regeln, biologischen Konditionierungen und kulturellen Einbettungen erst erzeugt wird.

Es kennzeichnet vor allem die systemische Sichtweise, als Systemelemente nicht tatsächliche Objekte oder Interaktionen zu betrachten, sondern die jeweiligen Deutungen, die die Beteiligten voneinander haben. Dies wird von Watzlawick begründet:

"Beziehungen, die Inhalte unserer zwischenmenschlichen, pragmatischen Wirklichkeit, sind nicht im selben Sinne wirklich wie Objekte; sie haben Realität vielmehr nur in der Sicht der Partner, und selbst diese Realität wird von den Partner günstigenfalls nur mehr oder weniger geteilt." (Watzlawick 1988: 13)

Psychotherapie

Einige psychotherapeutische Konzepte gehen davon aus, dass viele psychische Störungen durch eine unangemessene Wirklichkeitskonstruktion der Patienten entstehen und nehmen außerdem ernst, dass auch die Situation in den Kliniken zumeist selbst in diesem Sinne krankmachend ist (auch ein gesunder Mensch wird dort als krank wahrgenommen, man verhält sich ihm gegenüber so und dies erzeugt Verhaltensweisen, die wieder als krank diagnostiziert werden...). Konstruktivisten schlagen nun eine Form der Psychotherapie vor, in der eine Wirklichkeitskonstruktion, die nicht länger "paßt", durch eine andere zu ersetzt wird, die besser "paßt" (Watzlawick 1992/1999, S. 41).


Fußnoten:
[1] Genau genommen wird zwischen dem kulturalistisch-methodischen Konstruktivismus der Erlanger Schule (Janich u.a.) und dem naturalistischen Radikalen Konstrukivismus ( Maturana, Glasersfeld) unterschieden. Beide jedoch richten sich gegen metaphysisch-ontolgoische und realistische Erkenntnistheorien.

[2] "Die Sinnesorgane des Menschen leiten elektrische Reize ans Gehirn weiter. Diese Reize übertragen kein Bild, sondern nur eine Intensität, keine Qualität sondern nur eine Quantität. Das Gehirn konstruiert aus diesen Reizen ein Bild. Beim Sehen z.B. sind nur etwa 25 % dieses entstandenen Bildes abhängig von Reizen, die über die Augen ins Gehirn dringen, die restlichen 75 % werden von tieferen Hirnregionen interpretiert und ergänzt. Das 'gesehene' Bild ist also kein Abbild irgendeiner 'objektiven Realität', sondern immer eine Konstruktion des Individuums aus von seinen Sinnesorganen gelieferten Reizen und bereits vorhandenen Erinnerungen und Interpretationen." (http://de.wikipedia.org/wiki/Radikaler_Konstruktivismus)

[3] "Bei den Interaktionen zwischen dem Lebewesen und der Umgebung innerhalb dieser strukturellen Kongruenz determinieren die Perturbationen der Umgebung nicht, was dem Lebewesen geschieht; es ist vielmehr die Struktur des Lebewesens, die determiniert, zu welchem Wandel es in Folge der Perturbation in ihm kommt." (Maturana/ Varela)


Literatur:
Glasersfeld, Ernst v. (1991/1999): Radikaler Konstruktivismus oder Die Konstruktion des Wissens. In: Watzlawik, Paul; Nardone, Giorgio (Hg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. München, Zürich: Piper 1999. S. 43-58.
Holzkamp, Klaus (1985): Grundlegung der Psychologie, Frankfurt am Main, New York.
Janich, Peter: Stichwort "Konstruktivismus". In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Hamburg: Felix Meiner Verlag. 1999. S. 722-726.
Maturana, H.R., Varela, F.J.: Der Baum der Erkenntnis, Bern/München 1990
McDowell, John (2001): Geist und Welt. (1996) Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Schlemm, Annette (1997/1998): Autopoesis. Internet http://www.thur.de/philo/asap.htm.
Schulz von Thun, Friedemann (MR 1): Miteinander reden 1. Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag (1981). 2004
Watzlawik, Paul (1988): Münchhausens Zopf. Oder Psychotherapie und "Wirklichkeit". München, Zürich: Piper 2005.
Watzlawick, Paul (1992/1999): Die Konstruktion klinischer "Wirklichkeiten". In: Watzlawik, Paul; Nardone, Giorgio (Hg.): Kurzzeittherapie und Wirklichkeit. München, Zürich: Piper 1999. S. 25-41.


 
Siehe auch "Zur Konstruktion des Ich"
Siehe auch zu Konstruktivismus in der Paartherapie

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