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Dialektik der Innovation

Was können wir eigentlich wissen, voraussagen, beeinflussen?

Die Dialektik ermöglicht es, Entwicklungsprozesse zu analysieren, weil ihr Prinzip den allgemeinen Evolutionsprinzipien (Schlemm 1996, S. 195f.) gut entspricht. Gegebene Zustände entwickeln innere Widersprüche - die zu einer Überschreitung der konkreten Zustände und dem Entstehen neuer führen. Die Hegelsche Philosophie selbst hat nichts mit zeitlichem Progress zu tun, auch ist sie beschränkt auf die Entfaltung eines Absoluten über EIN Wesen. Sie entwickelt deshalb lediglich das Bild einer stufenweisen Abfolge von (dialektisch-logisch) letztlich mit Notwendigkeit aufeinanderfolgenden Zuständen, bei der Zufälligkeiten systematisch eliminiert werden. Eine erweiterte Interpretation dieser Dialektik anerkennt dann meist noch Stagnation und Regression - aber nicht die Offenheit bezüglich mehrerer Varianten der Zukunft, der möglichen Zukünfte.

Im Nachhinein betrachtet ist ja für jeden Entwicklungsschritt nachweisbar, daß für ihn alle seine Bedingungen erfüllt waren und für alle andern (die vorher vielleicht noch möglich gewesen waren), eben nicht. Dies zeigt seine "Begründetheit" und eine Kontinuität der Abfolgen auf. Wissenschaftliches Erkennen ist demnach auf "Erklärung" als Finden der Begründungsschritte und -bedingungen ausgerichtet. Erst neuerdings werden sog. "Schmetterlingseffekte", bei denen tatsächlich für diesen Bereich absolute Zufälle entscheidend für die Auswahl aus möglichen Optionen wirken, in die Gedanken einbezogen.

Für die Vergangenheit jedenfalls war genau die Gesamtheit der Bedingungen gegeben, die zu dem geführt haben, was war. Aus diesen Bedingungen ist das Gewesene begründbar. Diese Haltung wird dann oft auf die Gegenwart und Zukunft einfach übernommen, obwohl hier die Vollständigkeit der Bedingungen erst in jedem Moment neu erzeugt wird - u.U. auch durch der Theorie (d.h. bisherigen Gesetzmäßigkeiten) entgegengerichtete Tendenzen in Natur und Gesellschaft.

Marx hoffte, direkt aus dem dialektischen Gang der Geschichte Tendenzen und ihre Triebkräfte prognostizieren zu können, obwohl auch er schon sah, daß z.B. die Entstehung des Kapitalismus nicht streng als notwendig (und unvermeidbar) nachgewiesen werden kann, sondern diese historischen Umstände jeweils anders zu betrachten sind. Dasselbe gilt nun aber auch für die zukünftige Gesellschaft (deshalb weigerte er sich zumindest, diese Gesellschaft bis ins Einzelne vorzustellen).

Es entstehen immer nur die Möglichkeiten gesetzmäßig - es ist nicht eindeutig aus der Bedingungsgesamtheit (Totalität) der Vergangenheit auf das Gegenwärtige und Zukünftige zu schließen.

"Die dialektische Theorie ist nicht widerlegt, aber sie kann kein Heilmittel bieten. Sie kann nicht positiv sein." (Marcuse, S. 263)

Nicht die Linie der stufenförmigen Aufeinanderfolge (bei möglicher Stagnation und Regression auf dieser Linie) bestimmt das Muster der Evolution, sondern Verzweigungen mit nicht eindeutig determinierten Verzweigungspunkten.

Die Hegelsche Dialektik beschreibt nur die "Logik" der Entfaltung der im Wesen eines Bereichs vorgegebenen aufeinanderfolgenden Existenzformen der Materie. Sich entwickelnde Bereiche umfassen jedoch Bereiche mit mehreren und sich ebenfalls verändernden Wesenszügen (Gesetzmäßigkeiten) - so daß Entwicklungsprozesse diese Gesetzmäßigkeiten überschreiten. Dabei ist der folgende Evolutionsschritt nicht mehr aus dem Wesen (oder philosophisch genauer: dem Begriff der sich entwickelnden Sache) heraus bestimmt - sondern neue Wesenszüge entstehen. Welche neuen Wesenszüge entstehen, ist insofern "vorherbestimmt", als daß die Möglichkeit ihrer Existenz, ihre Bedingungen in den vorherigen Prozessen entstanden sein müssen. Aus der Sicht der Gegenwart (und den durch sie erzeugten Bedingungen) sind aber mehr zukünftige Zustände und Prozesse möglich, als schließlich in der Zukunft existieren. Die "Auswahl" (und Erzeugung neuer Varianten) erfolgt immer erst in den Momenten der "Verzweigung" - entsprechend den dann real existierenden Bedingungen, die sich u.U. erst kurz vorher oder dabei konstituieren. An solchen sensiblen Punkten kann dann schließlich der Hauch der Bewegung eines Schmetterlingsflügels entscheidende Einwirkungen auf die eingeschlagene Richtung der Entwicklung haben.

Für das Handeln der Menschen ergeben sich daraus strategische und taktische Überlegungen:

Nur das Möglichkeitsfeld entsteht entsprechend den "alten" Gesetzen. Es kann die Spannbreite vom Untergang der Zivilisation über langanhaltende Stagnation bis hin zu Revolutionen - und hier wiederum mit einer Spannbreite von düsterster Diktatur bis hin zu neuen ökologischen und humanen Lebensformen als Ergebnis - umfassen. Welche dieser möglichen Zukünfte realisiert wird, hängt ab

  1. von den bis zur sensiblen Phase am Verzweigungspunkt erzeugten Bedingungen und
  2. von den Schmetterlingseffekten während der Verzweigung.

Aktive Zukunftsgestaltung kann also lang- und mittelfristig auf die jeweils gewünschten Bedingungen einwirken - und kurzfristig - im richtigen Moment - ihre Schmetterlingsmobilität aktivieren.

Die aktive Einflußnahme auf die Bedingungsveränderung braucht natürlich das Wissen darum, welche Art Bedingungen für die jeweils gewünschte Zukunft zu bestärken und welche möglichst auszuschalten sind.

 


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