Politische Utopie jenseits der Utopien aus: Christoph Spehr: Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation, zugleich -preisgekrönte! - Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Bremen 2000 |
"Du hast mich in einer seltsamen Phase meines Lebens getroffen." Vivien erzählt gelegentlich, der schlimmste Horror beim Familienbesuch zu Hause sei für sie das gemeinsame Ansehen der Acht-Uhr-Nachrichten. Bereits in jungen Jahren, als sie noch zuhause wohnte, versuchte sie sich dem zu entziehen, meist erfolglos. Die Acht-Uhr-Nachrichten (öffentlich-rechtlich, versteht sich, nicht etwa via Privatsender) seien bei ihr zuhause, in einem in die Jahre gekommenen Ex-68er-Haushalt, ein Ritual von zentralem Stellenwert; ein elterlicher Ritus, mit dem begangen wird, wofür man man sich zu interessieren hat, wozu man eine Meinung zu haben hat, woraus die Welt besteht und was in ihr wichtig ist. Erst das Interview mit dem Finanzminister, dann der Konflikt in Burundi, und kurz vor Schluss noch die Abfallprobleme der Love Parade. Nichts anderes. Und nicht umgekehrt. Politische Utopie wird nie wieder so sein können wie die Acht-Uhr-Nachrichten. Sie nahm das gewohnheitsmäßig für sich in Anspruch, aber das ist vorbei. So wird es nie wieder gehen. Und zu Recht. Eine Bilanz des vergangenen Jahrhunderts kann nicht alles, was darin geschehen ist, dem Wirken politischer Utopien anlasten, aber sie lässt eine prinzipielle Skepsis nicht nur berechtigt, sondern geboten erscheinen. Die Unterwerfung der Welt unter Bilder und Visionen, die Riten der Wichtigkeit, der Vorrangigkeit und der Priesterschaft der Eingeweihten, haben Folgen. Nicht nur blutige, sonder auch die blutleeren. Nicht nur die Gewalt, die sich mit dem richtigen Plan für die bessere Welt rechtfertigen will, sondern auch die soziale Stille einer Welt, in der man Rädchen und Teil ist, aber selbst nichts bedeutet, wo andere alles wissen und man selbst nicht gefragt ist - wo man niemand ist. Damit hat sich politische Utopie nicht erledigt. Sie muss nur zugleich auch Anti-Utopie sein; nicht nur Politik, sondern auch Anti-Politik. Anstatt herrschaftsförmige Zugriffe zu legitimieren und die Individuen zu entmündigen, muss ihr Kern darin bestehen, sich gegen herrschaftsförmige Zugriffe zu verteidigen und auf dem Recht auf eigene Entscheidung zu beharren. Dafür ist politische Utopie heute notwendiger denn je. Wir leben nämlich in einer Welt, die unverhohlen als utopische Erfüllung ausgegeben wird, als die beste aller möglichen Welten, wenn auch mit kleinen Einschränkungen und "im Prozess" begriffen. Es wird schon noch alles gut, schon immer noch besser, heißt es, wenn wir nur so weitermachen wie bisher, und wenn wir alles mitmachen wie bisher und besser noch ein bisschen bereitwilliger.... Wenn wir die Frage stellen: "Ist freie Kooperation etwas, das auf Menschen wirkt wie die Acht-Uhr-Nachrichten?", dann müssen wir versuchen, diesen Einwand in einzelne Kriterien zu zerlegen. Was macht den Kern des Widerwillens aus? Eine politische Utopie, die keine Acht-Uhr-Nachrichten-Utopie ist, so wird hier behauptet, muss folgende vier Kriterien erfüllen: |
Diese Kriterien werden von der Theorie der freien Kooperation erfüllt:
Verabschiedet wird damit ein Pseudobegriff von Radikalität, der auf der Trennung von "politischem Menschen" und Alltagsmenschen beruht. Derartige Pseudoradikalität kennt keine Zwischenschritte, keine Kompromisse, sie lässt keine Einwände gegen die Zumutungen gelten, die ein "möglichst radikales" Vorgehen den Menschen auferlegt. Im Grunde sollten wir am besten erstmal alles in die Luft sprengen, um es dann gründlich richtig zu machen - was ein wenig alltagstaugliches Konzept ist. Derartige falsche Radikalität ist immer patriarchal und immer elitär, denn man muss sie sich leisten können. "Frauen können diese Notwendigkeit (der Reproduktion auch unter den gegebenen Bedingungen) nicht in gleicher Weise ignorieren, schon deshalb weil sie sich in höherer Weise für Kinder verantwortlich fühlen, aber auch deshalb, weil z.B. die meisten Männer unter Bedingungen Politik machen, unter denen die meisten Frauen weder leben noch arbeiten können. Die 'radikale Trennung' legitimiert die interne Vorherrschaft derer, die sich 'am radikalsten freimachen können',und das sind allemal Männer."( Redaktion alaska, 150° West, 60° Nord. Eine Standortbestimmung jenseits vom Neuen Internationalismus, alaska 223, 12/1998.) |
David Finchers "Fight Club" endet mit einer Szene, die den Eskapismus der "Radikalität" ironisch karikiert. Der (namenlose) Protagonist, der endlich erkannt hat, dass Tylor Durden eine schizophrene Abspaltung seiner eigenen Person ist, steht mit Marla vor einer riesigen Fensterfront. Obwohl er lebensgefährlich verletzt ist durch einen Schuss, den er auf sich selbst abgegeben hat, versichert er Marla, dass jetzt alles gut werden wird. In diesem Moment explodieren die Bomben, die er als Tylor Durden gelegt hat, und die gegenüberliegenden Wolkenkratzer sacken in sich zusammen. Marla sieht ihn irritiert an, und er antwortet entschuldigend: "Du hast mich in einer seltsamen Phase meines Lebens getroffen." (David Fincher, Fight Club. In der Romanvorlage von Chuck Palahniuk ist die Szene nicht enthalten.) Wir gehen, individuell wie kollektiv, durch viele seltsame Phasen unseres Lebens, in denen sich die Suche nach radikaler Veränderung von den konkreten Kooperationen unseres Alltags krampfhaft abspaltet, wie wenn es dadurch schneller und "radikaler" ginge. Die Suche nach der "radikalen Aktion", der absoluten Nicht-Teilhabe am herrschenden System, die irrige Idee, es gebe eine "Abkürzung" bei der mühsamen Veränderung der Verhältnisse, gehören ebenso dazu wie die magischen Praktiken, die "richtigen" Sprachregelungen für wichtiger zu halten als die reale Tendenz alltäglicher Kooperationen. (...) Nicht alles davon lässt sich immer vermeiden; wir müssen manchmal ein bisschen seltsam sein. Aber in Sachen "politische Utopie" zielt die Theorie der freien Kooperation darauf ab, diese seltsame Phase zu beenden.(27) (27) Dies ist eine Stelle in meiner Abhandlung, die man leicht zum Kotzen finden kann, weil sie so widerlich abgeklärt über Kämpfe und Emotionen konkreter sozialer Emanzipation daherredet. Auch hier gilt natürlich, dass es die eigenständige Leistung konkreter Emanzipationsbewegungen und konkreter Menschen ist (und nicht der verallgemeinernden Theorie), über solche seltsamen (und oft notwendigen) Phasen inzwischen reden zu können. Ist der Einwand damit entkräftet? Natürlich nicht. Es ist nur dargelegt, dass freie Kooperation nicht notwendig den Acht-Uhr-Nachrichten-Effekt haben muss. Ob sie ihn tatsächlich nicht hat; wie sie z.B. aussehen und auftreten muss, damit Vivien sie nicht als Reinkarnation ihrer traumatisch-politischen Urszene ansieht; das ist eine Sache konkreter Verhandlung. Es gibt keinen anderen Weg, weniger seltsam zu werden. (S. 31-34) Freie Kooperation zieht aus der Komplexität sozialer Systeme und der Problematik von Geltungsansprüchen bestimmte Konsequenzen. Sie beginnt nicht mit einem utopischen Ausgangsmodell, sondern nimmt die aktuelle Situation zum Ausgangspunkt, so wie sie ist. Sie spekuliert also nicht darüber, ob wir mit einem demokratisch-kapitalistischen Modell anfangen sollten oder lieber mit einem realsozialistischen bzw. das eine oder andere erst einmal "einführen" sollten. Sie fragt in der konkreten Ausgangslage: Wo liegt hier überall erzwungene Kooperation vor, durch welche Herrschaftsinstrumente wird freie Kooperation verhindert, was sind Schritte um diese Instrumente unschädlich zu machen oder zu beseitigen. (S. 41) |
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