Nancy Cartwrights Wissenschaftstheorie

Fundamentalismus und Realismus *
Wissenschaft und Modelle *
Nomologische Maschinen *
Gesetze *
Vermögen (Capacities) *
Wissenschaft und Handlungsfähigkeit *
Literatur *

Fundamentalismus und Realismus

Zur Frage der Naturgesetze und ihres Bezugs zur Realität hat sich besonders NANCY CARTWRIGHT ausführlich geäußert und weitreichende Debatten damit angestoßen. Ihr erstes, 1983 erschienenes Buch heißt auch ausdrücklich: "Wie die Gesetze der Physik lügen" (Cartwright 1983). Dieses Buch wurde manchmal als Plädoyer gegen den Realismus verstanden; es geht Nancy Cartwright jedoch nicht um eine Verteidigung des Instrumentalismus oder Konventionalismus, sondern um den Schutz einer aufrechtzuerhaltenden realistischen Sicht gegen eine fundamentalistische. Indem sie ihrer Ansicht nach fundamentalistische Ansichten über Gesetze und Theorien revidiert, befreit sie die Wissenschaft vom Vorwurf des Fundamentalismus bei beibehaltener realistischer Grundposition.

It is not realism but fundamentalism that we need to combat. (Cartwright 1999, S. 23)

Ihr ontologischer Ausgangspunkt ist dabei, dass die Welt "gefleckt" (engl. dappled) ist, also nicht direkt starren Ordnungsstrukturen unterliegt, deren Gesetze dann erkannt würden (Cartwright 1999). Gesetze sind nicht jene allumfassenden Befehlsstrukturen, wie sie häufig in (deduktiv-nomologischen) Erklärungsmodellen dargestellt werden. Gesetze zeigen sich nur jeweils unter bestimmten Bedingungen und die tatsächlich in der Realität befindlichen Grundlagen von Gesetzmäßigkeit und Ordnung sind die sog. Vermögen (engl. Capacities), die in der Natur der Dinge liegen, sich aber entsprechend der Bedingungen mehr oder weniger bzw. nur in gegenseitiger Kombination ausdrücken können. Auf dem Weg von den Vermögen zum Gesetz ist jeweils der Einsatz einer sog. nomologischen Maschine notwendig, die (materiell im Versuchsaufbau und ideell im Modell) jene Bedingungen erzeugt, die das jeweils untersuchte Vermögen als Hauptfaktor des Geschehens herauspräpariert und dadurch ein Gesetz zu erkennen ermöglicht.

Wissenschaft und Modelle

Wissenschaft ist für Cartwright nicht in Form einer vereinheitlichenden Theorienpyramide darstellbar, sondern eher als Flickendecke.

This book supposes that, as appearances suggest, we live in a, a world rich in different things, with different natures, behaving in different ways. The laws that describe this world are a patchwork, not a pyramid. (Cartwright 1999, S. 1)

Wir verwenden notwendigerweise immer Modelle (Das Modell zweier Körper im Abstand von r ; das Modell eines linearen harmonischen Oszillators, oder das Modell der bewegten Ladung in einem uniformen Magnetfeld) (ebd. S. 3), welche die Gültigkeit der Theorien bestimmen, also einschränken. "So the laws of physics apply only where its models fit, and that, apparently, includes only a very limited range of circumstances." (Cartwright 1999, S. 4)

In ihrem ersten Buch "How the laws of physics lie" (1983) kritisierte Cartwright vor allem die gängige Ansicht, (physikalische) Gesetze könnten direkt auf die Wirklichkeit angewandt als wahr oder falsch angesehen werden.

Really powerful explanatory laws of the sort found in theoretical physics do not state the truth. (Cartwright 1983, S. 3).

Notwendig ist eine Umarbeitung dessen, was die Realität uns zeigt auf dem Weg über unvorbereitete Beschreibung, Beschreibung innerhalb eines Modells und Anpassung an die mathematische Repräsentation einer Theorie. Dies führt sie zum "Simulacrum-Erklärungsmodell", nach dem die Erklärung eines Phänomens die Konstruktion eines Modells erfordert, für dessen Objekte das Gesetz gelten kann. Diese Objekte des Modells haben aber nur die Form oder Erscheinung des Dings, nicht ihre Substanz oder andere Qualitäten, sie sind nur ein Simulacrum (Cartwright 1983, S. 17).

Fundamental laws do not govern objects in reality; they govern only objects in models. (Cartwright 1983, S. 18)

Nomologische Maschinen

Die Wissenschaft kann nach Cartwright nicht direkt die Ordnung der Welt auffassen und abbilden. Die "gefleckte" Welt unterliegt einer ständigen Wechselbeziehung vieler unterschiedlicher kausaler Beziehungen – und ihre Beziehung zu Ordnung und Gesetzen ist nicht unmittelbar. Aus den ungeordneten Phänomenen muss eine Instanz jene Ordnung quasi herausfiltern bzw. erzeugen helfen, die wir dann als Gesetze kennen. Diese Instanz nennt Nancy Cartwright "nomologische Maschine". Solch eine Maschine ist eine "ausreichend fixierte Anordnung von Komponenten oder Faktoren mit ausreichend stabilen Vermögen, so dass in einer angemessenen Art einer ausreichend stabilen Umwelt in wiederholten Operationen eine Art regulären Verhaltens entsteht, die wir in unserer Wissenschaft als Gesetze repräsentieren" (Cartwright 1998a, S. 2). Solche nomologischen Maschinen können in seltenen Fällen auch natürlich existieren (im Fall des Planetensystems) oder müssen (meistens) von uns hergestellt werden (im Laborexperiment).

Zum Bau der nomologischen Maschinen gehört nicht nur der konkrete materielle Versuchsaufbau, sondern auch unsere Modelle und Begriffe.

None of our concepts are given. We create them, and their creation is a human social enterprise with a vast number of different kinds of influences. (Cartwright 1998b, S. 91)

Die nomologische Maschine ist ein philosophischer Begriff (Cartwright 1998a, S. 10), "ein Mittel zur Kategorisierung und zum Verständnis dessen, was in der Welt passiert"; in ihr werden "Ursachen erzeugt, um eine erzielte Wirkung zu erreichen" (Cartwright 1998a, S. 19). Obwohl Cartwright die inhaltliche Bestimmung der nomologischen Maschine nicht vollständig ausführt, gehört hier auch ihre Überzeugung hinzu, dass ein angemessener Empirismus auch nicht testbare Vorannahmen benötigt:

For the testing of causal claims at any level [...] necessarily presupposes some metaphysical assumptions that cannot be tested by the same stringent logic. (Cartwright 1989/1994, S. 180)

Gesetze

Gesetze sind nach Cartwright Beschreibungen dessen, was regelmäßig geschieht, aber nicht regelmäßige Verbindungen oder Verursachungen. Gesetze sind nicht einfach notwendige Verbindungen zwischen Messgrößen, sondern sie benötigen die Einbeziehungen der Bedingungen, unter denen sich Messgrößen auf eine bestimmte Weise verhalten. Diese Bedingungen werden von der nomologischen Maschine eingestellt und festgehalten, so dass sich Gesetze als Regelmäßigkeiten zeigen können.

Laws hold as a consequence of the repeated, successful operation or what, I shall argue, is reasonably thought of as a nomological machine. (Cartwright 1999, S. 4)

Die Funktionsweise der nomologischen Maschinen beruht auf den natürlichen Vermögen (capacities) der Dinge, die sich als die wirklichen Grundlagen von Ordnung und Strukturierbarkeit der Welt bei aller Flickwerkhaftigkeit erweisen. Unsere weitreichendstes Wissen ist deshalb nach Cartwright kein Wissen über Gesetze, sondern Wissen über die Natur der Dinge.

[...] Laws of nature obtain – to the extend that they do obtain – on account of the capacities; or more explicitly, on account of the repeated operation of a system of components with stable capacities in particularly fortunate circumstances. (Cartwright 1998a, S. 1)

Vermögen (Capacities)

Wir untersuchen in unserer wissenschaftlichen Arbeit niemals direkt, welche Ursache welche Wirkung hervorruft. Aber wir können ermitteln, inwieweit die natürlichen Dinge "versuchen, etwas zu tun" (vgl. Cartwright 1999, S. 28). Inwieweit sich die Vermögen in diesen Versuchen durchsetzen, hängt von den Umständen ab. Wir haben mit den Gesetzen nicht etwa Wissen darüber, "was die Dinge tun" bzw. "vorliegende (engl. occurent) Eigenschaften", sondern "was in ihrer Natur liegt, zu tun" (ebd., S. 82), bzw. über ihr Vermögen, Eigenschaften zu haben (Cartwright 1998b, S. 88).

Die negative Aussage ihres ersten Buches ergänzte Cartwright später mit dem Begriff des Vermögens (engl. capacity). Während sie Gesetzen keine reale Existenz zuschreiben kann, gewinnt sie eine neue Art Realismus durch die Anerkennung der Realität solcher Vermögen: "Capacities are real" (Cartwright 1989/1994, S. 1).

Die Vermögen (capacities) unterscheidet Cartwright vom traditionellen Begriff der Macht (power), weil letztere zu sehr durch die früheren empiristischen Unterscheidung primärer und sekundärer Qualitäten sowie Macht bestimmt sei. Auch festgelegte Dispositionen können nicht mit vielfältig wirken könnenden Vermögen identifiziert werden. (vgl. Cartwright 1997). Ein Vermögen soll nicht mit einer seiner realen Auswirkungen verwechselt werden. "Wenn eine Masse eine andere anzieht, ist völlig offen, welche Bewegung stattfindet – dies hängt entscheidend von den Umständen ab." (Cartwight 1997, S. 75).

[…] redness is the property that, among other things, brings with it capacity to look just this way in normal circumstances, and to look systematically different when the circumstances are systematically varied. (Cartwright 1998a, S. 25)

Um diese Vermögen zu ermitteln, verwenden wir all unsere wissenschaftlichen Methoden, u.a. erklärt sich hieraus die analytische Methode, bei der wir die Welt so in Stücke teilen, dass wir in ihnen jeweils die Situation ausreichend kontrollieren können um festzustellen, wie sich die Dinge wann verhalten, unter welchen Bedingungen sich welche Vermögen durchsetzen oder nicht. Eine solche Erkenntnis ist nicht systematisch geschlossen (eine Theorie erklärt alle ihre Erscheinungen), sondern bleibt offen (Cartwright 1998a, S. 12). Dies gelingt durch die Orientierung auf bedingungsabhängige Vermögen statt fundamentale, allumfassende Gesetzesvorstellungen.

Die Fähigkeiten/Vermögen sind das Grundlegende. Gesetze gelten – in dem Maße, in dem sie gelten – auf Grund der Vermögen; oder deutlicher: auf Grund der wiederholten Operation eines Systems von Komponenten mit stabilem Vermögen in besonders glücklichen Umständen. (Cartwright 1997, S. 65)

Am Beispiel des zweiten Newtonschen Gesetzes erklärt Cartwright, dass Gesetze nicht, wie üblicherweise angenommen, Verbindungen zwischen "occurent properties", wie z.B. Massen oder räumlichen Abständen sind, sondern etwas über Kräfte, und das bedeutet: das Vermögen eines Körpers einen anderen zu bewegen, aussagt. Dadurch können unter verschiedenen Bedingungen verschiedene Gesetze entstehen. Als weiteres Beispiel führt sie an:

Wir könnten denken, dass es das natürliche Verhalten ist, dass sich entgegengesetzt geladene Ladungsträger aufeinander zu bewegen und gleich geladene voneinander weg bewegen. [...] Aber diese Bewegung hängt davon ab, wie die Umgebung strukturiert ist. (Cartwright 1998a S. 13).

Cartwright ergänzt die eben genannte analytische Methode noch durch ein (noch nicht vollständig ausgearbeitetes) Konzept einer "gemischten Methode", bei der zuerst von der Erfahrung allgemeine Prinzipien abgeleitet werden, diese dann zu einer Vielheit verschiedener Schlussfolgerungen geführt werden und schließlich eine Konkretisierung erfahren (Cartwright 1989/1994, S. 183ff.). In dieser Weise rekonstruiert sie einige Probleme der Wissenschaftstheorie, wie die Galileische Idealisierung und die Interpretation der Gravitation bei Newton.

Wissenschaft und Handlungsfähigkeit

Auf diese Weise können wir durchaus zugeben, dass wissenschaftliche Erkenntnisse wahr sein können, ohne darauf zu verfallen, sie als allumfassend, alles beherrschend, fundamentalistisch zu interpretieren. Gesetze sind lediglich ein Ausdruck der Wirksamkeit der als real angenommenen natürlichen Vermögen unter bestimmten realisierten Bedingungen. Reale Ereignisse können nicht in direkter Weise, wie im deduktiv-nomologischen Erklärungsmodell angenommen, von Gesetzen bestimmt werden, sondern sie unterliegen komplexeren Einflüssen, die die Modellierbarkeit einzelner Gesetze überschreiten. Auf diese Weise spricht ihr "Pachworkpluralismus" nicht gegen Realismus, aber gegen geistigen Imperialismus (Cartwright 1997/2002, S. 209).

Auf diese Weise wird ein "law-first view" (Cartwright 1997, S. 69) relativiert und kritisiert. Für die von ihr verwendeten Vermögen/Fähigkeiten bedeutet dies im Unterschied zu recht festen Eigenschaften, dass sie nicht identisch sind mit einzelnen ihrer möglichen Manifestationen. Erst die konkreten Umstände führen zu den jeweilig gezeigten Eigenschaften. Das Newtonsche "Gesetz" (besser "Prinzip") ist für sie keine regelmäßige Verbindung von Eigenschaften, sondern beschreibt das Vermögen der Körper, bewegt zu werden (Cartwright 1998a, S. 19). Sie betont in einer Überarbeitung ihres Textes von 1997, dass sie sich vor allem gegen die Unbedingtheit und Unbegrenztheit der Gesetze ausspricht (Cartwright 1998a, S. 12). Das Verständnis der Welt hängt nicht so sehr vom Erkennen der Gesetze, wie von der Erkenntnis der Vermögen/Fähigkeiten ab. Dies bringt mehr Offenheit und Konstruktivität in die Wissenschaft. In Bezug auf Modalitäten wird nun nicht mehr behauptet, etwas führe notwendig zu einem bestimmten Effekt, sondern es erlaube ihn (Cartwright 1998a, S. 27). Erst die genau auf ein Ziel eingestellte Maschine kann einen gewünschten Effekt genau herbeiführen.

Die Orientierung auf die Vermögen der Natur bei Cartwright rührt auch daher, dass sie sich nicht wie viele andere Wissenschaftstheoretiker auf die Frage beschränkt, wie die Wissenschaft die Wirklichkeit repräsentiert, sondern dass sie fragt, wie die Welt verändert werden kann. (Cartwright 1999, S. 5; die Unterscheidung von Representing und Intervening folgt Hacking 1983). Der Gegenstand der Wissenschaft sind nicht mehr die Dinge und ihre gegebenen Eigenschaften, sondern die Verhaltensmöglichkeiten der Dinge (vgl. Cartwright 1998a, S. 25).

Literatur

Hacking, Ian (1983): Representing and Intervening. Cambridge: Cambridge University Press.

Cartwright, Nancy (1983): How the laws of physics lie. Oxford, New York: Clarendon Press.

Cartwright, Nancy (1989/1994): Nature’s Capacities and their Measurement. Oxford: Clarendon Press.

Cartwright, Nancy (1998a): Where Laws of Nature Come From? In: Paul, Matthias (Hrsg.): Nancy Cartwright: Laws, Capacities and Science. Vortrag und Kolloquium in Münster 1998. Münster: LIT-Verlag 1998. S. 1-30.

Cartwright, Nancy (1998b):Comments and Replies. In: Paul, Matthias (Hrsg.): Nancy Cartwright: Laws, Capacities and Science. Vortrag und Kolloquium in Münster 1998. Münster: LIT-Verlag 1998. S. 88-109.

Cartwright, Nancy (1997): Where Do Laws of Nature Come From? In: Dialectica, Vol. 51, No.1 (1997). S. 65-78.

Cartwright, Nancy (1997/2002): Warum Physik? In: Penrose, Roger (1997/2002): Das Große, das Kleine und der menschliche Geist. Heidelberg, Berlin: Spektrum Akademischer Verlag. 2002. S. 201-210.

Cartwright, Nancy (1999): The Dappled World. A Study of the Boundaries of Science. Cambridge: Cambridge University Press.

Dieser Text in Englisch

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