Lese-Bericht von Annette Schlemm:

Gregory Benford: Cosm

Wilhelm Heyne Verlag München, 2000

 

Endlich wieder einmal ein Buch auf der Höhe der Wissenschaft - endlich wieder einmal ein Buch mit wissenschaftlicher Dichtung! Science Fiction vom Feinsten!

Der renommierte Astro- und Plasmaphysiker Benford wirft einen scharfen Blick auf die alltägliche Wissenschaft. Er beschreibt diese aus der Sicht einer Frau und noch dazu einer schwarzen Frau. Dabei schwinden alle Illusionen, die Hochglanzmagazine über wissenschaftliche Heldentaten vielleicht noch zu verbreiten versuchen. Die Arbeit am gerade im Bau befindlichen "Relativistic Heavy Ion Collider (RHIC)" wird im Jahr 2005 von Vorschriften, technischen Berichten und ermüdender Kleinarbeit bestimmt sein. Da Alicia mit Uran arbeitet, muß sie sich auch noch mit Sicherheitsfragen und -bedenken auseinander setzen. Beschleunigte Urankerne sollen aufeinander geschossen werden - in der Hoffnung, daß ein Quark-Gluon-Plasma entsteht. Schließlich kann Alicia ihr Experiment durchführen und es endet mit einem großen... Knall. Zwischen den Trümmern entdeckt sie eine schillernde Kugel, die sie kurzentschlossen in ihr Labor bringt. Gemeinsam mit ihren beiden Assistenten untersucht sie sie. Die Kugel verschließt sich fast allen üblichen Analysemethoden und zeigt ein ungewöhnliches Verhalten: das gemessene Spektrum entspricht exakt einem Hohlraumstrahler - die innere Temperatur müßte mindestens 40 000 Grad betragen, obwohl die äußere Haut nur Zimmertemperatur hat. Und nach 5 Tagen verschiebt sich das Spektrum: die innere Temperatur sinkt. Für ein Laborobjekt sind dies völlig untypische Eigenschaften. Als Experimentalphysikerin ist Alicia am Ende ihrer Kunst. Deshalb wendet sie sich an einen "typischen Theoretiker" (S. 138) und sie müssen sich durch die typischen Vorbehalte und Mißverständnisse zwischen Experimentatoren und Theoretikern hindurch arbeiten.

Benford versteht es sehr gut, das physikalische Thema nicht nur als technisches abzuhandeln - sondern eher als Medium, in dem sich menschliches Handeln bewegt. Die Beziehungen der Menschen, der Professoren zu ihren Assistenten, der festangestellten akademischen Bürokratie zu den nur zeitvertraglich gebundenen Wissenschaftlern, der Männer gegenüber den Frauen usw. sind keine Fiktion, sondern der Realität abgeschaut. Neue technische Geschehnisse, wie die Entstehung der ominösen Kugel, fordern die bestehenden Spannungen nur stärker heraus. Alicia muß sich mit den "Hirngespinsten" des Theoretikers abgeben und gibt dennoch experimentell ihr Bestes, um auf ihrer Grundlage meßbare Effekte zu erzeugen. Sie entdeckt daraufhin, daß die Masserverteilung im Innern der Kugel inhomogen ist. Die Erklärung bleibt weiterhin offen: Gravitationsverschiebung, Wurmloch, Schwarzes Loch ... Vieles ist möglich. Während die Kugel noch dazu im Umfang wächst, muß sich Alicia der Nachfragen aus einem Untersuchungsausschuß erwehren. Und es kommt noch schlimmer: Ihr ehrgeiziger Assistent kommt in der Nähe der Kugel ums Leben.

Während manchem Leser bisher vielleicht zu viel Physikerslang vorkam, wird es jetzt richtig spannend. Die Beobachtung und Interpretation der Kugel geschieht im Wettlauf mit den Untersuchungsbehörden und dem Institut, in dem Alicia ihr Experiment durchgeführt hatte und die vermuten, daß sie rechtswidrig Versuchsergebnisse mitgenommen hat. Der Theoretiker Max erweist sich als verläßlicher Partner. Es stellt sich schließlich heraus, daß das Objekt alle Eigenschaften aufweist, die man von unserem Universum nach seiner Entstehung vermutet. Das Objekt ist ein kleines Universum, ein "Cosm"! (S. 208) Experimente in Beschleunigern sind längst real. Die Erhöhung der Energiedichte führt die Physiker tatsächlich immer weiter in elementare Eigenschaften, die kurz nach der Entstehung des Universum vorherrschend waren. Daß durch das Experiment von Alicia eine Energiedichte erreicht wurde, die ein neues Universum entstehen ließ, ist Fiction. Dieser Gedanke selbst ist aber bereits Gegenstand seriöser wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die Benford in einer Nachbemerkung zitiert und durch Max auch Alicia und den Leserinnen erläutern läßt (S. 204 ff.).

Dieser Anschluß an das, was in der Forschung tatsächlich noch aufregend und spektakulär ist, was den Geist fasziniert, macht die besondere Qualität dieses Buches aus. Gerade aus dem desillusionierenden Alltagstrott heraus erwuchs eine Entdeckung, wie sie umwerfender nicht sein kann. Die beteiligten Menschen sind keine Genies, sondern ganz normale Wissenschaftler. Und gerade in dieser neuen Situation entwickelt sich auch ihre Menschlichkeit weiter. Sie öffnen sich anderen Menschen, sie müssen Widersprüche aushalten und neue Möglichkeiten gestalten. Im Universum im Labor können sie allerdings nichts gestalten. Sie müssen erkennen, daß in ihm die Zeit viel schneller abläuft als in unserem Universum. Sie können ihm nun in seiner Entwicklung zusehen... und müssen gleichzeitig immer stärker dafür kämpfen, es behalten zu können. Trotz ihrer Warnung wird das Experiment im Institut wiederholt; es kommt zur Explosion und ein zweiter Cosm entsteht. Nun muß Alicia öffentlich Farbe bekennen und alles wird noch viel komplizierter. Diplomatie ist nicht ihre Stärke, sie will eigentlich viel lieber weiter in Ruhe ihr Objekt untersuchen. "Was das für Folgen hat, mögen andere ergründen. Wir werden uns weiterhin damit begnügen, mit aller Sorgfalt das Phänomen an sich zu erforschen" (S. 380), meint sie. Aber noch einmal stürzen alle Widrigkeiten der Realität auf sie ein: Medien, wissenschaftliche Konkurrenten und Neider und Emailattacken: "Sie spielen mit GANZEN UNIVERSEN; das ist das schweinischste Experiment, das ihr arroganten Profs euch jemals ausgedacht habt." (S. 296). Auch berechtigte Nachfragen nach der Verantwortung der Wissenschaft werden wieder gestellt, gehen aber in der Hektik beinahe unter. Schwerwiegender wird eine andere Fragestellung: War Alicia für den neuen Kosmos nicht eine Art Göttin? Kosmologie wird zur beobachtenden Wissenschaft. Die Wissenschaftler können Sternen und Galaxien in ihrer Evolution zusehen. Das ist für Alicia viel wichtiger als die Ablehnung ihrer nächsten regulären Beförderung, die für ihre zukünftige Festanstellung notwendig wäre. Und es wird noch faszinierender: Der andere Cosm ist nicht nur eine Wiederholung des früheren. Es zeigt sich, daß in ihm andere Naturkonstanten gelten. Universen können unterschiedlich sein! (S. 403) Dies beantwortet eine alte Frage, wieso die Konstanten in unserem Universum so sind, wie sie genau sein müssen, damit Galaxien, Sterne, Planeten und Lebewesen in ihm entstehen kann ("Anthropisches Prinzip"). Eher beiläufig verwendet Alicia das Wort "Eltern- Universum" für das eigene. Aus ihm heraus entstanden Nachkommen, die variieren. Wir kennen das aus der Biologie!

Als das zweite Universum durch seine Schnelligkeit den Entwicklungsstand des eigenen Universums erreicht, entsteht die Frage nach Leben in diesem Universum. Der Präsident der USA besucht das Objekt und verlangt, seine Existenz als "nationales Eigentum" (S. 378) aufrechtzuerhalten. Aber seine Evolution beschleunigt sich sogar. Es liegt nahe, angesichts des nahenden Endes des Universums darüber nachzudenken, was das für das eventuell entstandene Leben bedeutet. War das "Universum als Ganzes doch der Todfeind allen Lebens"? (S. 413).

In dieser spannenden Phase schlägt die Realität wieder zu. Der Cosm soll Alicia endgültig fortgenommen werden. Was weiter passiert, soll hier nicht verraten werden. Nur zur Interpretation der Evolution der Universen soll noch angedeutet werden: Was, wenn auch Universen über Selektionsprozesse entstehen und sich entwickeln? (S. 456) Was, wenn das Leben auch im Untergang seines Universums weiter besteht?

Meine Begeisterung über dieses Buch erwächst zum einen aus der Themenstellung: der Verbindung von Physik und kosmologischem Sense of Wonder, von menschlich-ethischen Fragen und persönlichen Entwicklungen, von metaphysischen Fragen mit gelebtem Alltag . Zum anderen sind diese Aspekte hier auf überzeugende Weise, nicht nur plakativ, miteinander verwoben worden. Kein belehrender Zeigefinger, keine Moralpredigten sondern einfach eine überzeugende Erzählung.

Deshalb möchte ich dieses Buch allen an Wissenschaft allgemein und Sience Fiction im Besonderen sehr empfehlen.

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