Helmut Seidels Philosophie der Praxis


 Beim Stöbern hat mir mein gutsortiertes Archiv zwei Kopien aus uralten Zeitschriften präsentiert. Ich hatte die Artikel vor drei Jahren schon einmal gelesen und sie waren mir als Meilensteine einer verpaßten Möglichkeit der Philosophie in der DDR in Erinnerung geblieben. Inhaltlich korrespondierten sie mit vielem, was ich aus der nichtmarxistischen oder nicht-dogmatisch-marxistischen westlichen Philosophie seit 1990 kennen- und schätzengelernt hatte. Daß dies in der DDR schon so lange so gut bekannt und unterdrückt worden war ließ mich die Situation beim letzten DDR-Philosophie-Kongreß im nachhinein verstehen, bei dem ich zufällig neben H. Seidel saß, den ich nur als Autoren von sehr guten Büchern zur Philosophiegeschichte kannte. Ich hatte damals erlebt, wie in seinem Umfeld getuschelt wurde, daß mit einigen Aussagen auf diesem Kongreß durch die damals noch (Oktober oder November 1989) "Oberen" einige seiner Thesen und Konzepte endlich wieder formal eine Daseinsberechtigung, wenn nicht gar verspätete Anerkennung erhielten.

Diese späte Anerkennung versank in den Turbulenzen der nachfolgenden Wenden. Aber gerade deshalb möchte ich diese uralten Artikel, entgegen den Gepflogenheiten, nur neueste Literatur zu verwenden, noch einmal zum Thema eines etwas nachdenklichen Textes machen.

Helmut Seidels Philosophie der Praxis

H. Seidel nutzte 1966 die Neuveröffentlichung des Kapitels I des I. Bandes der "Deutschen Ideologie" von Marx und Engels, um eine grundlegende Debatte über marxistische Philosophie zu führen. Für seine Vorschläge verwendete er Argumente in der "Deutschen Ideologie", was - auch wenn er sicher nicht grundlegend autoritätssüchtig ist - wichtig war, um überhaupt ernst genommen zu werden.

Wie üblich sicherte er sich auch ab, indem er darauf hinwies, daß auch etablierte Philosophen 1964 und 1965 gerade eine Diskussion zur Struktur und Funktion der marxistischen Philosophie führten.

Der Artikel von 1966 erhielt in den folgenden Heften Widerspruch - ich würde vermuten, dieser wurde offiziell organisiert. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, alle diese Gegen-Artikel zu lesen, mir geht es nicht um Abrechnung und inhaltlich erwarte ich mir davon nicht viel. In der Antwort differenzierte Seidel und ging gut überlegt auf einige durchaus auch ernst zu nehmende inhaltliche Fragen und Argumente ein.

Da ich nicht selber in der DDR als Philosophin aktiv war, kenne ich viele Hintergründe nicht, will deshalb auch nicht darüber spekulieren. Einige Grundtendenzen sind jedoch erkennbar, inhaltliche Bruchstellen sind nachvollziehbar. Leipzig war in der DDR wahrscheinlich der Ort mit dem höchsten philosophischen intellektuellen Potential, in Freiberg gab es eine interessante Nische; in Berlin gab es verschiedene "Schulen" - und andere Hoch- und Fachschulorte sowie immer auch einzelne Personen entwickelten durchaus auch ihr eigenes Profil innerhalb und am Rande der herrschenden Lehre (oft "Leere"). Vielleicht können nicht persönlich involvierte Jüngere einst mehr inhaltliche Linien nachzeichnen und interessante Funde machen, als es heute im allgemeinen Abrechnungsgetriebe und neuerlicher karrierebestimmender Profilsucht möglich ist.

Ich weiß auch nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich normal in der DDR in Philosophie promoviert hätte und ich mich dazu hätte positionieren sollen. Vieles von dem, was mir heute an Wissen zur Verfügung steht, hätte ich kaum gehabt. Einiges hätte ich sicher von mir aus ignoriert, einiges hätte ich nicht zu Gesicht bekommen - mir hätte es jedenfalls echt gefehlt. Wie schon bei einem anderen Thema hätte ich die philosophischen Hintergründe einiger Argumente gar nicht nachvollziehen können. Nun, vielleicht wußten die "Insider" das auch damals schon alles. Obwohl ich schon vor 1990 Kontakt zu Berufsphilosophen hatte, ist mir (in Jena) nur einer begegnet, der einen weiteren Horizont gezeigt hat (verborgen haben ihn einige, die ihn erst danach andeuteten). Vielleicht hätte ich auch so eine Gegenschrift produziert - ich weiß es nicht. Heute jedoch ist Nichtwissen noch unverantwortlicher als es damals schon war, deshalb möchte ich wenigstens jetzt einiges dazulernen (1967 bin ich übrigens gerade in die Schule gekommen, die Beschäftigung mit "damals" hat schon fast Nostalgiewert).


2. Grundthesen von H. Seidel (in meiner Interpretation)

 "1. Das praktisch-tätige Verhalten der Menschen zu ihrer natürlichen und gesellschaftlichen Umwelt wird ungenügend reflektiert, das theoretische Verhältnis zur Wirklichkeit dagegen überbetont."

Der Hintergrund dafür ist, daß die Betonung des Primats der Materie in der Grundfrage der Philosophie (die nach dem Primat von Denken oder Sein) zu einem Rückfall in Spinozas Substanzlehre wird. Substanz wird uminterpretiert als "objektive Realität" und erst dann der Mensch hinzugenommen. Das Menschliche wird dadurch tendenziell dem "Objektiven" untergeordnet.

Genau diese Art Materialismus überwand Marx in seinen "Thesen zu Feuerbach", von denen leider nur die 11. strapaziert wurde. Der Verweis auf das "praktische menschlich-Sinnliche" wurde konsequent überlesen.


Da ich die Vorwürfe der MLer an die Praxisphilosophie - sie würde die Grundfrage der Philosophie und ihre materialistische Beantwortung aushebeln und deshalb im Idealismus landen - bereits kannte, konnte ich die Argumentation von Seidel, die diese Problematik berührt, mit Genuß nachlesen. Er bezieht sich auf die berechtigte Ablehnung des Denkens von Spinoza, bei dem die Natur (und Gott) die Rolle einer allem zugrundeliegenden Substanz hatte. Marx kritisiert explizit diese "metaphysisch travestierte Natur in der Trennung vom Menschen". Entgegen den mechanischen Materialisten, für die Menschen nur Natur waren und Fichtes idealer Überhöhung des Subjekts betonte Marx die menschliche Praxis:

"Weder Substanz noch Selbstbewußtsein ist der Ausgangspunkt für Marx,
sondern die sinnlich-gegenständliche Tätigkeit der Menschen, die Arbeit,
die gesellschaftliche Praxis." (Seidel 1966, S. 1182)

Genau durch diese Praxis wird die materialistische Antwort auf die Grundfrage begründet - statt lediglich behauptet, wie Seidel betont (Seidel 1967, S. 1477).
Nachtrag: Derselbe inhaltliche Konflikt wurde noch einmal ausgetragen anläßlich der Bestimmung der Wissenschaft durch Peter Ruben als "allgemeine Arbeit". Auch Ruben wurde eine Mißachtung der Grundfrage vorgeworfen (siehe dazu u.a.: Rauh, H.-C., (Hrsg.) (1991), Gefesselter Widerspruch. Die Affäre um Peter Ruben, Berlin)


Methodisch wird diese Interpretationsweise und ihr Widerspruch dadurch deutlich, daß der "dialektische Materialismus" und der "historische Materialismus" stark voneinander getrennt wurden, wobei der dialektische Materialismus gegenüber dem historischen das Primat erhielt. Praxis wurde im dialektischen Materialismus unvermittelt als Grundlage und Kriterium der Wahrheit im Erkenntnisprozeß definiert - obwohl sie systematisch erst "danach" im historischen Materialismus auftaucht und dort als solche nie explizit behandelt wird, sondern die menschliche Praxis sogar noch auf Arbeit/Produktion reduziert wird. (Obwohl ich nie in der DDR als Philosophin aktiv war, kenne ich die Grundintention recht gut - obgleich es, wie Seidel beweist, immer auch Ausnahmen gab. Diese hatten jedoch nie eine echte Chance, sich im argumentativen Wettstreit zu behaupten.)


Diese Systematik bedingt auch die Einordnung der Erkenntnistheorie in den dialektischen Materialismus, was sie nicht mehr als Moment der gesellschaftlichen Totalität (die erst Gegenstand im historischen Materialismus) ist, betrachten läßt.

Seidel bestimmt Wissenschaft und Ideologie ebenso wie Industrie und Moral und Kunst als Momente der gesellschaftlichen Totalität. Sie kennzeichnen spezifische Tätigkeitsformen (sicher nicht mit Anspruch auf Vollständigkeit):
- sinnlich-gegenständliche Tätigkeitsform: Industrie - Ausdruck der praktischen Aneignung
- theoretische Tätigkeitsform: Wissenschaft
- politisch-moraliche Tätigkeitsform: Politik und Moral
- ästhetische Tätigkeitsform: Kunst. (Seidel 1966, S. 1191).

"Praktisch verhält sich der Mensch den Gegenständen gegenüber dann, wenn er sie seinen Bedürfnissen, Zwecken, Vorstellungen und Ideen gemäß umgestaltet." Dieses Tun kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Eigengesetzlichkeit des Gegenstandes berücksichtigt wird - die in der Theorie erfaßt wird. Dies bedingt, daß die Theorie selbst Praxis ist (in der Zielstellung, im Meßprozeß, in der Interpretation und schließlich der Anwendung) und von den historisch-konkreten Formen der Praxis geprägt ist. An diese Überlegungen ist aktuelle Wissenschaftskritik anschlußfähig. Sie widerspricht diesen Überlegungen nicht nur nicht - sondern sie kann daraus durchaus noch Orientierungen ableiten.

Gleichzeitig ist menschliche, d.h. bewußte Praxis stets in gewissem Maße theoriegeleitet, weil ihr die Vorwegnahme von Handlungsergebnissen im Vorstellungsraum auf Grundlage von bisher erfahrenen und erfaßten Kenntnissen über die Eigengesetzlichkeit der Dinge zugrunde liegt.


Der Gegenstand der Philosophie ist nach Seidel die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse, wobei Philosophie selbst ein Moment dieser Totalität ist. (Seidel 1967, S. 1472f.). Sie ist nie abschließbar, sondern bleibt eine "ständig zu konkretisierende Reflexion über den Natur- und Geschichtsprozeß." (ebenda, S. 1480)


Das praktische Sein des Menschen ist auch ein geeigneter Rahmen zur Diskussion des Verhältnisses der Menschen zu ihrer inneren und äußeren Natur.

"Der Mensch kann seine Wesenskräfte, einschließlich seines Erkenntnisvermögens,
gar nicht entfalten, ohne sich die Natur zum Gegenstand zu machen;
und er kann sich die Natur nicht zum praktischen, theoretischen und ästhetischen Gegenstand machen, ohne seine subjektiven Wesenskräfte zu entfalten." (Seidel 1966, S. 1183)

Natur "an sich" existiert natürlich schon, ehe es die Menschen gab. Wenn wir etwas über die Natur aussagen, dann aber immer nur über eine "für uns" interessante Natur, nie die Natur "an sich".

Hieraus entsteht auch die offene Stelle in der Argumentation -auch bei anderen Vertretern der expliziten Dialektik für die menschliche Praxis - ob oder warum oder warum nicht Dialektik in der Natur sei. Auf die Nachfrage antwortet Seidel, daß dies nicht sein Thema sei, daß er nur Aussagen mache über die "Bedingungen, die die Erkenntnis dieser Prozesse möglich und notwendig machen" (Seidel 1967, S. 1483).

Die Natur "an sich" ist aber nicht zufällig nicht sein Thema, sondern er wendet sich prinzipiell "gegen spekulative "Seinsaussagen"" (Seidel 1967, S. 1479). Solche Versuche, die "Totalität der Natur" erfassen zu sollen, wie G. Herzberg in einer Entgegnung wohl gefordert hatte, kennzeichnet er als Zurückfallen in ein absolutes "System der Natur", was der durch Engels betonten Prozessualität entgegenstehe.

Seidels salomonische Argumentation: Die Natur "für uns" ist Teil der dialektisch zu verstehenden Praxis und bleibt "eine offene Frage von der Grenze an, wo unser Gesichtskreis aufhört" - wie er dann wieder Engels zitieren kann.


Das praktische Verhältnis der Menschen zueinander und zur äußeren Natur wird vorrangig in der Arbeit, der Produktion realisiert. In konkreten historischen Produktionsweisen wird "die eigne Tat des Menschen ihm zu einer fremden, gegenüberstehenden Macht..., die ihn unterjocht,statt daß er sie beherrscht" - so kennzeichnet Marx die Entfremdung. Nicht die Gesellschaftlichkeit an sich ist es, die sich als Fremdes über den Einzelnen stülpt, sondern eine Produktionsweise, die auf Grundlage einander fremder, für den Tausch produzierender Privatarbeiten erzeugt werden. Dieser historische Status ist überwindbar - ohne die erreichte Komplexität der Gesellschaft, die Existenz von Arbeitsteilung selbst in Frage zu stellen. Der Klärungsansatz zu dieser Frage von Seidel, die in der Diskussion des Marxismus in diesem Jahrhundert eine der Wesentlichsten war, kann noch richtungsweisend für hochaktuelle Überlegungen sein. Hier ist nichts überholt oder überaltert, sondern diese Frage wird in der gegenwärtigen allumfassenden Wirtschafts-, Umwelt- und Kulturkrise immer brisanter und akuter.

Ein Ausweg führt nicht zurück in vor-komplexe Zustände, geträumte Idylle, sondern Seidel erinnert uns heute an die Marxsche Vision der "Vermenschlichung der Natur" durch die "Naturalisierung des Menschen". Eine Fundierung einer möglichen Einheit von ökologischen und emanzipatorischen Bestrebungen ist unverzichtbar. Dazu gehört nicht das Nachbeten dieser Formel - wohl aber die Inhalte dieser Gedankengänge.

 

3. Was bleibt...

Das mögen jetzt alles alte Kamellen sein. Wer den Marxismus-Leninismus nie gelehrt bekam, für den sind seine Irrtümer und möglichen Weiterentwicklungen irrelevant. Wer dogmatisch auf dem Alten verharrt, wird heute wie 1966 Seidel ein Hereinfallen auf die bürgerliche Ideologie unterstellen. Die Geschichte hat ihr Urteil gesprochen... Reicht das für einen denkenden und die Kämpfe nach- und mitfühlenden Menschen aus?

Es zeigt sich an vielen Stellen, daß nach der Mitte der 60er Jahre auf allen Gebieten, der Wirtschaft wie auch dem geistigen Leben, eine Situation herangereift war, von der aus ein anderer Sozialismus hätte entstehen können, als er sich tatsächlich "real" zeigte. Manchmal denke ich, daß die Entwicklung von da aus nur noch eher wieder in den kapitalistischen Weg zurückgeführt worden wäre - aber auf jeden Fall standen damals die Chancen für einen Neuaufbruch in neue gesellschaftliche Formen besser als sie 1989 waren.

Dies ist alles vergangen, aber wie schon Ernst Bloch bemerkte, können verloren gegangene Möglichkeiten der früheren Geschichte nachwirken. Wenn ich Menschen begegne, die ernsthaft nach Anhaltspunkten einer geistigen Orientierung (für die selbständigen Überlegungen, nicht wieder eine Art Nachbeten) suchen, so werde ich ihnen nahelegen, diese Internet-Seite, bzw. die Bibliotheken für die Originalartikel von H.Seidel als Meilensteine ihrer Überlegungen zu nutzen. Nicht-Marxisten können auf diesem Weg kennenlernen, welche Potenzen marxistisches Denken hat(te) - Marxisten können neue Ansätze finden. Wer alles schon viel besser weiß - wird sich freuen über die Kongruenz der Gedanken wirklich kluger Leute.

Es bleibt, was sich lebendig weiterentwickelt. Schauen wir mal nach...

An dieser Stelle werde ich in Zukunft Links setzen bzw. Literaturhinweise geben zu anschlußfähigen Diskussionen. Bitte informiert mich/informieren Sie mich über bekannte Verflechtungen von Gedanken, Konzepten, Quellen usw.
eMail Achtung:
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Weitere Debatten damals Beteiligter (nach 2000)

Ein erster Hinweis auf eine Zusammenstellung von mir zur

ALLES zur Praxisphilosophie (auch neuere Debatten) in

Ein englischer Text von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, einem Kasseler Philosophen, der der Philosophie der Praxis zuzuordnen ist:

Quellen zu meinem Text:
Seidel, H., Vom praktischen und theoretischen Verhältnis der Menschen zur Wirklichkeit, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Heft 10/1966
Seidel, H., Praxis und marxistische Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie Heft 12/1967


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