Selbstbestimmt leben und produzieren
ist keine Utopie, sondern eine Notwendigkeit

(für das Heftprojekt, aus Platzgründen dort nicht mit gedruckt)

 

Seit den 60er Jahren galt es als ausgemacht, dass die Sozialstaatspolitik in den kapitalistischen Ländern zu einer recht starken Befriedung kritischer Stimmen geführt hat. Auch wenn immer ein gewisser Anteil der Menschen arm war, so speiste sich der größte Teil der doch noch vorhandenen Unzufriedenheit eher aus der Ablehnung der spürbaren Fremdbestimmung des eigenen Lebens, der Entfremdung im Kapitalismus. Damit erhielten die entsprechenden gesellschaftliche Kämpfe auch eine andere Ausrichtung: Sie zielten nicht mehr nur - und aus ökologischen Gründen sogar eher weniger - auf mehr materiellen Wohlstand, sondern richteten sich grundsätzlich gegen Fremdbestimmung und andere als nur ökonomische Herrschaftsformen. Die Mehrheit der Bevölkerung jedoch blieb davon relativ unbeeindruckt und genoss ihre Lebensgestaltung beim "schaffe, schaffe, Häusle baue und urlauben auf Mallorca". Erst jetzt, wo dies für recht viele Menschen gefährdet ist, wird größerer Protest laut. Nun gehen jedoch die entfremdungskritischen Stimmen beinah wieder unter. Das Hemd und der Rock sind uns wohl doch näher als das Ideal der Selbstbestimmung. Angesichts der gegebenen historischen Situation ist aber viel mehr möglich: Es ist möglich, uns von entfremdender Lohnarbeit insgesamt zu befreien und - konstruktiv gesehen - die zur Bedürfnisbefriedigung notwendigen Tätigkeiten auf völlig neue Weise zu durchzuführen. Dies ist jedoch nicht eine beliebige Möglichkeit, die wir unter vielen anderen auswählen können - sondern ihre Verwirklichung ist notwendig, wenn wir nicht weiter Opfer der neoliberalen Ausplünderungsstrategien sein wollen.

Um mit dem ganzen Herzen bei der Arbeit zu sein,
muß man fast herzlos sein.
(Vaneigem 1997: 12)

Zwei Kulturen: Arbeitskultur und Verweigerungskultur

Es gibt einen Kulturbruch in unserer Gesellschaft, der meist unausgesprochen bleibt. Jean-Paul Sartre betonte schon 1968, dass es beim Kampf um Befreiung nicht mehr nur und angesichts des wachsenden Konsums in den reichen Industrieländern immer weniger um eine Befreiung aus Not und Elend geht, sondern dass die Menschen vielmehr darum kämpfen, selbstbestimmt zu leben und zu arbeiten. Menschen "wollen nicht ihre Existenz aus dem Gegenstand beziehen, den sie produzieren, oder aus der Funktion, die sie erfüllen; sie wollen selbst über die Art der Produkte und deren Verwendung und ihre Rolle in der Gesellschaft entscheiden" (Sartre 1968: 55).
Allerdings ist von dieser Forderung auf den gegenwärtigen Montagsdemos weit und breit nichts zu sehen oder zu hören. Der Grund ist einfach: Wir müssen uns wieder um ganz konkrete materielle Verelendungsprozesse kümmern. Wenn Zehntausende ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können, wenn Millionen nach einem Jahr Arbeitslosigkeit zu Almosenempfängern werden, wenn noch dazu angesichts der weltweiten Zusammenbrüche sogar diese Situation für Milliarden wie ein Paradies erscheint - was soll da die Schwärmerei für Selbstbestimmung und Selbstentfaltung? Wir haben ein wirkliches Dilemma: Einerseits schreien Millionen nach bezahlter Arbeit - andererseits übertönen diese Schreie die eher leisen Zweifel bezüglich der Sinnhaftigkeit der Jobs. Diese Zweifel kommen sowieso nur sehr zaghaft auf, denn viele von uns haben zu stark verinnerlicht, was es angeblich bedeutet, ein Mensch und erwachsen zu werden. Gemeint ist damit, "daran [zu] arbeiten sich zugrundezurichten, die eigene Kreativität zu leugnen, den Genuß [zu] verdrängen und sich durch bittere, zwanghafte Handlungen [zu] entladen" (Vaneigem 1997: 53). Lebenskraft verkümmert zu Arbeitskraft (ebd.: 8). Die daraus folgende Selbstidentifikation des Selbstbewußtseins vieler Menschen mit ihrer Leistungsfähigkeit, das Binden der "Würde" des Menschen an seine Arbeitsfähigkeit stellt eine Falle dar, eine Fesselung, eine Einengung des Horizonts für die menschliche Entwicklung.

"Sie glauben, ein Leben zu führen, aber das Leben führt sie durch die nicht enden wollenden Hallen einer alles umfassenden Fabrik." (Vaneigem 1997: 14)

Befreiung von der Lohnarbeit statt Massenerwerbslosigkeit

Es macht aber keinen Sinn, die Bekämpfung von unmittelbarem Elend und Selbstentfaltung gegeneinander auszuspielen. Das Elend kann nicht wirklich bekämpft werden durch mehr Disziplin, Selbsteinschränkung, mehr Arbeitsstress und Selbstverleugnung in entfremdeten Lohnarbeitsverhältnissen. Gerade die "Faulenzerdebatte" zeigt, dass einerseits die gewaltig gestiegene Produktion der Arbeit immer mehr Menschen frei setzt von der unmittelbaren Produktion - dass diese Freiheit unter den gegenwärtigen ökonomischen Machtverhältnissen aber zu persönlicher Verelendung führt, statt dass alle Menschen gemeinsam am produzieren Reichtum teilhaben und endlich die Herrschaft der Arbeit über das Leben brechen können. Die Not besteht ja nicht darin, dass zu wenig produziert werden könnte - sondern darin, dass in kurzer Zeit viel mehr produziert werden kann, als Menschen damit über Lohnarbeit ihren Lebensunterhalt verdienen könnten (vergleiche die Unterscheidung von "Begrenztheit" und "Knappheit"). Insofern ist die Befreiung von der Lohnarbeit nicht nur ein utopischer Wunsch, sondern eine notwendige Forderung zur Linderung der gröbsten Erwerbslosendrangsal.
Bei Karl Marx ist die "Arbeit" ein allgemeiner Begriff, der den "Stoffwechsel des Menschen mit der Natur" im Interesse der menschlichen Bedürfnisbefriedigung beschreibt, den es wohl immer geben wird. Im Unterschied dazu beschreibt "Lohnarbeit" die entfremdete Arbeit im Kapitalismus. Manche Autoren verwenden das Wort "Arbeit" für die spezifische Form "Loharbeit" und daraus ergibt sich die Forderung nach "Abschaffung der Arbeit". Bei aller begrifflichen Haarspalterei gehen wohl alle Ansichten davon aus, dass es immer eine Art Stoffwechsel mit der Natur in Form konkreter, schöpferischer Tätigkeiten geben wird - aber ihre entfremdeten, ausgebeuteten Formen abzulehnen sind.

Auch wenn man die Geschichte der letzten Jahrzehnte nicht als Fortschritt sehen will - es sind dabei Faktoren entstanden, die wir nicht außer Acht lassen sollten. Die allgemeine industrielle Produktivität ist so stark gestiegen, dass der notwendige Anteil an menschlicher Arbeitskraft für eine bestimmte Produktmenge immer mehr sinkt. Zwar wird versucht, den Warenausstoß maximal zu erhöhen, aber irgendwo gibt es einerseits die Grenzen der Verkaufbarkeit (angesichts sinkender Kaufkraft durch Sozialabbau), andererseits auch die Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit dieser Produktionsform. Einen analogen Prozess gab es im letzten Jahrhundert in der landwirtschaftlichen Arbeit. Heute reichen 3% aller Menschen in den Industrieländern aus, um alle Menschen mit landwirtschaftlichen Produkten zu versorgen. Im Jahr 2050 sollen nun auch für die traditionellen Industrien nur noch 5 % der erwachsenen Bevölkerung nötig sein (Rifkin 2004: 25). Endlich könnten paradiesische Zeiten anbrechen.
Einst wurden die Arbeitskräfte aus dem landwirtschaftlichen Bereich in der Industrie aufgesogen. Dieselbe Hoffnung verband sich nun beim Abbau der industriellen Arbeitsplätze. Es wurde angenommen, neue Lohnarbeitsplätze entstünden im Bereich der Dienstleistungen oder der vorwiegend immateriellen Informationsarbeit. Es zeigt sich aber, dass diese Tätigkeiten selbst auch so stark rationalisiert werden, dass sie eine technologische Massenarbeitslosigkeit nicht verhindern können. Ein anderer scheinbarer Ausweg, dass die immer sinnvollen sozialen Zuwendungen (besonders von Frauen, gegenüber Frauen und Alten etc.) nun auch noch als Lohnarbeit bewertet werden sollen, erweist sich als Sackgasse. Eine Sackgasse deswegen, weil Lohnarbeit eben nicht gerechte Vergütung geleisteter Aufwendungen bedeutet, sondern profitable Ausbeutung dieser Tätigkeiten.

Warum aber kapieren es die verantwortlichen Politiker nicht, dass eine radikale Arbeitszeitverkürzung und/oder ein existenzsicherndes Garantiertes Grundeinkommen. das Problem der Erwerbslosigkeit beheben könnte? Sind sie so dumm? Nein, ihnen ist bewusst, dass die Aufrechterhaltung des "Terrors der Ökonomie" notwendig ist zur Aufrechterhaltung des kapitalistischen Herrschaftssystems. "Die Ökonomie erspart die Unterdrückung" (Vaneigem 1997: 107) Das Existenzrecht der Menschen muss an die Verwertung der Arbeitskraft gebunden bleiben, auch wenn diese "Verwertung" immer öfter in Leerlauf und in verschwendeter Lebenszeit (ABM, 1-Euro-Jobs...) besteht. Sonst könnten die Menschen ja auf die Idee kommen, nicht mehr nur Ausbeutungslohnarbeitsplätze zu fordern, sondern das Recht auf ein gutes Leben! Wer einmal herausgefunden hat, mit wieviel selbst gewähltem Sinne man ein ganzes freies Leben ausfüllen kann - wird sich heftig weigern, seine Lebenszeit auf Ämtern und beim Laubharken zu verschleudern. Dass sich so wenige weigern, liegt neben der Erpressung durch Existenznot wohl auch daran, dass sie noch nicht herausbekommen haben, wie wundervoll das eigene Leben ohne die tägliche Lohnarbeit sein kann.

Trotzdem bleibt die berechtigte Frage, woher morgens die Brötchen auf den Tisch kommen, wenn niemand mehr arbeitet. Aber darum geht es ja nicht. Wir hatten oben unterschieden zwischen entfremdeter Arbeit und bedürfnisbefriedigenden Tätigkeiten im Stoffwechsel mit der Natur. Es ist nicht zu übersehen, dass ein "Bedürfnis nach entfremdeter Lohnarbeit" zwar leider vorhanden ist, aber doch wohl nicht zu den Bedürfnissen gehört, die es zu erhalten und weiter zu entwickeln gilt. Leider sind wir oft schon so zugerichtet, dass uns ohne so eine Arbeit "die Decke auf den Kopf fällt". Bei einer Befragung, warum die Beteiligten in Arbeit kommen wollten, ergaben sich Aussagen wie: Veränderung im Alltagstrott, Selbstbestätigung, Anerkennung, das eigene Können testen, Kontakt, Rente, Denken, tratschen, Werte schaffen, Geld Selbstbewußtsein, gebraucht werden, Kommunikation, Alltag planen, Bewegung... (Schlemm 1998). Bis auf die Punkte: Geld und Rente sind all diese Bedürfnisse sogar außerhalb der Lohnarbeit viel besser zu befriedigen anstatt in ihr!
Es ist schlimm, dass in der von entfremdeter Lohnarbeit geprägten Kultur die Annahme vorherrscht, Werte zu schaffen und gebraucht zu werden wäre nur in der Lohnarbeit möglich. Wäre nicht eine Befreiung denkbar, die diese Bedürfnisse in anderen als Lohnarbeitstätigkeiten befriedigen kann? Ist nicht eine Befreiung aus der Lohnarbeit heraus denkbar?

Befreiung in Tätigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung

Es gibt aber noch eine andere Bedeutung der Forderung nach "Befreiung in Tätigkeiten zur Bedürfnisbefriedigung". Es geht dabei um die wirkliche Befreiung innerhalb der Tätigkeiten, die zur Bedürfnisbefriedigung dienen, also auch der materiellen Produktion. Das verlangt, "die gesellschaftliche Gesamtarbeit neu [zu] gestalten" (Möller 1998: 469). Dabei stellt sich das Problem: "Wie kann unter fremdbestimmten Produktionsverhältnissen Selbstbestimmung gelebt werden?" (Haug, F. 1982: 14) Auf welche Faktoren und Potenzen können wir uns dabei stützen?

  • Immaterialisierung?
Wir können einen Trend nutzen, der sich innerhalb der Arbeit sowieso schon vollzieht. In einer etwas übertriebenen Formulierung lautet er: "Die Ökonomie der physischen Produktion wird abgelöst durch eine immaterielle Ökonomie der Information" (Boutang 1998: 13). Allerdings bedeutet das nicht, es würden weniger stoffliche Produkte hergestellt, aber die Bedeutung der nichtstofflichen Tätigkeit steigt relativ. Dies bezieht sich auf folgende Aspekte:
  1. Die Quellen des Reichtums verlagern sich auf konzeptionelle Tätigkeiten.
  2. Der hinzugefügte Wert wird vor allem durch Transaktionen aller Art, insbesondere aus den Bereichen Kommunikation und Distribution, erzeugt.
  3. Die Hierarchie der Aktiva kehrt sich um, die bestimmenden sind nunmehr aktuell (Kenntnisse, Fertigkeiten im Umgang mit Information, Kultur). (ebd.)
Daraus ergibt sich eine Strukturänderung der Produktion: "Während im Fordismus noch Produkte vorgehalten wurden mit Massenproduktion, Massenkonsum, Werbung etc. im Schlepptau, verlagert sich nun der Schwerpunkt hin zum Vorhalten von Produktbedingungen, aus denen heraus "just in time" und maßgeschneidert Produkte entsprechend individuellen Bedürfnissen produziert werden können. Technologisch hat die Menschheit damit die Möglichkeit, sich zu einer Vorsorgegesellschaft zu wandeln, die vielfältige Konzepte bereithält, um auf die verschiedensten Situationen adäquat reagieren zu können" (Gräbe 2005: 19). Solch eine Infrastruktur ist letztlich auch die Voraussetzung für die Vorstellung, Menschen könnten sich aus individuellen Bedürfnissen heraus ohne entfremdende Vermittlungsstruktur zur Produktion zusammen finden, wie wir das bei der Freien Software bereits sehen und auch für die materielle Produktion vorstellen können (insbesondere beim Einsatz von "personal fabricators").
  • Wiedererlangung der Subjektivität
Mit diesen Merkmalen der "immateriellen Arbeit" wird die Hoffnung verbunden, dass in ihr der arbeitende Mensch nicht mehr nur ein Objekt der vorgeplanten, vorstrukturierten Arbeitsprozesse ist, als bloße Quelle körperlicher Kraft oder auch des Knöpfchendrückens am Fließband, sondern auch im Arbeitsprozess selbst zum Subjekt seiner eigenen Tätigkeiten wird. In der Arbeit selbst würden nicht nur Waren und zugerichtete lebendige "Arbeitsautomaten" hergestellt, sondern Subjekte (vgl. Boutang 1998: 19). Was das bedeutet, hat sich bereits in den Kämpfen der italienischen Arbeiterinnen und Arbeiter in den 70er Jahren gezeigt (Virno 1998: 85ff.). Hier fanden Arbeitskämpfe statt, die nicht nur mehr Lohn oder bessere Arbeitsbedingungen forderten, sondern die entfremdende Arbeitsorganisation insgesamt in Frage stellten. "Sichtbar wurde die Möglichkeit - Lohnarbeit könnte nur eine Episode im Leben statt ein Gefängnis sein." (ebd.: 88). Bei einem Streik bei Fiat wurden 1979 bewusst die Arbeitsrythmen sabotiert, was den Aktiven den Vorwurf der Kommunistischen Partei und der Gewerkschaft wegen "Arbeitsscheu" einbrachte (ebd.: 93). Hier kam es zum unmittelbaren Zusammenprall der beiden Kulturen - jener der Verherrlichung der (meist entfremdeten) Arbeit und dem Begehren nach selbstbestimmter Lebensgestaltung. Dieser keimhaften Form neuer Subjektivität und Organisiertheit war kein langes Leben beschienen. Die große Industrie erlangte ca. 1983 wieder die Kontrolle über die postfordistische industria diffusa (vgl. in Negri 1998: 30ff.) und bei der Niederschlagung des Aufstands bei Fiat wurde schon die "Terrorismus"-Keule geschwungen. Diese Kämpfe waren aber bereits ein unmittelbarer Ausdruck des verschärften Widerspruchs des postfordistischen Kapitalismus, der zwischen unbeschränkbarer Selbstentfaltung und markt- und lohnarbeitsorientierter Selbstverwertung besteht.
Aber auch aus anderen Gründen wurde schon mehrmals in der Geschichte die Forderung danach aufgestellt, nicht nur die Produktionsmittel in die Hände der ProduzentInnen zu legen, sondern auf ganz andere Weise zu produzieren. Karl Korsch etwa forderte 1922 eine "industrielle Demokratie" (Korsch 1968: 40), in der eine "freiheitliche Verfassung der Arbeit selbst" (ebd. 1968: 36). gegeben ist. In den 30iger Jahren fragte Simone Weil nach einer "Organisation der Produktion, [...] die es erlaubt, ohne die vernichtende Unterdrückung von Geist und Körper auszukommen" (Weil 1975: 170)). Rossana Rossandra forderte ebenfalls eine "neue Art zu Arbeiten", was sich in Veränderungen in der Arbeitsorganisation, dem Verhältnis zwischen den Menschen und zwischen Menschen und Maschinen und dem Produktionszyklus zeigen sollte (Rossanda 1973).
Bisher wurden diese Forderungen im Alternativbereich so beantwortet, dass die industrielle Produktion meist als zu zentralistisch und unökologisch verworfen wurde und ein Rückzug in dezentral-regionale landwirtschaftliche und handwerkliche Produktion (als "Alternativökonomie") diskutiert und praktiziert wurde. Dadurch ergab sich aber ein recht arbeitsintensives Lebens- und Arbeitsmodell, das nicht für alle Menschen wünschbar ist und sich auch deshalb nicht weiter durchsetzte.
Spätestens jetzt aber brauchen wir auch stofflich-industrielle Arbeit, deren arbeitssparender Produktivität für eine wirklich befreite Gesellschaft unabdingbar ist, nicht mehr außen vor lassen.

Unabhängig davon, ob man die Entwicklung der jetzt gegebenen produktiven Möglichkeiten der Menschheit als Ergebnis von Fortschritt wertet oder eher die verhängnisvollen Folgen von Fehlentwicklungen betont, so stehen uns jetzt doch Möglichkeiten zur Verfügung, und der Umgang mit ihr steht für uns zur Diskussion. Etwas mechanistisch hatte Marx einst formuliert: "Die Handmühle ergibt eine Gesellschaft mit Feudalherren, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten" (Marx Elend: 130). Genauer betrachtet ergibt sich die Gesellschaftsform nicht etwa automatisch-mechanistisch aus den produktiven Möglichkeiten, aber sie hängen voneinander ab. Es liegen jeweils konkrete Möglichkeiten vor, die in ausgewählter Weise genutzt und weiterentwickelt oder abgelehnt werden können. Im Rahmen dieser Möglichkeitsbeziehung kann dann in Weiterführung des Gedankens von Marx formuliert werden: "Das Fließband schafft die Möglichkeit einer Gesellschaft der Planungsbürokratie" (etwas abgewandelt nach Meretz, Schlemm 2001: 47) und "Die vernetzte Mühle ergibt die Möglichkeit einer Gesellschaft mit Sozialisten" (etwas abgewandelt nach Göhring 1999). Für die Zeit der "mechanischen Automaten" und der "Großindustrie" hatte Friedrich Engels eine Unterordnung unter diese "Dinge" gefordert und angenommen, diese Unterordnung sei ewig und nicht abschaffbar (Engels Aut.: 307). Egal ob man auch für diese Zeiten und diese Techniken diese Behauptung ablehnt - für die heutigen Zeiten ist sie völlig obsolet geworden. Wir haben technische Mittel, die nicht mehr auf fließbandartige Massenproduktion setzen, sondern flexible Universalmaschinen darstellen; die Produktion erfolgt auf Grundlage weltweiter Vernetzung, was Dezentralisierung der Entscheidungswege und ökologisch angemessene Regionalisierung besser ermöglicht. Und wir werden Produktionsinstrumente haben, die noch mehr als bisher individuell oder kollektiv verwendet werden und bei sehr geringen Kosten sehr viele individuell angepasste Produkte herstellen können (personal fabricator). Das bedeutet, dass wir mehr und bessere Möglichkeiten für eine Produktionsweise haben, die von individuellen Bedürfnissen ausgeht und kollektive Selbstorganisierung realisiert.

  • Allianz-Technik
Technik ist in solchen Zusammenhängen niemals ein Faktor, der sich nur nach einer Eigenlogik entwickelt, sondern sie bleibt eingebettet in die Bedürfnisbefriedigung der Menschen und deren Abstimmungsprozess über die Ablehnung, Verwendung und Weiterentwicklung verschiedener technischer Elemente. Als Beispiel können wir hier die Entwicklung der Freien Software betrachten. Aber auch materielle Technik kann auf diese Weise ökologisch angepasst, human und emanzipativ weiter entwickelt werden. Damit werden schon ältere Konzepte der Technikentwicklung wie "Angepaßte Technik" oder Self-Reliance-Technik (Ernst 1982) wieder hochaktuell.

Dies zeigt noch einmal, dass zwar in dieser Broschüre auch vielfach neue technische Möglichkeiten in die Diskussion gebracht werden, sie aber nicht als Selbstzweck zu werten sind. Wir brauchen aber auch sie, damit die Produktionsweise umgestellt so werden kann, so dass nicht die Selbstverwertung des Kapitals das Ziel der Produktion bleibt, oder Produktion um der Produktion willen durchgeführt wird, sondern dass die Selbstentfaltung des Menschen zum bestimmenden Moment der neuen Produktions- und Lebensweise (Meretz, Schlemm 2001) wird.

Was tun?

Gerade weil wir nicht auf einen Selbstlauf z.B. der technischen Entwicklung vertrauen können, wird es notwendig sein, auch diese Prozesse bewusst und aktiv zu gestalten. Wir können sie nicht den Planern, Entwicklern und Entscheidern des Kapitals überlassen. Vor allem macht es auch Spaß, die neuen technischen Möglichkeiten selbst mit zu erkunden und weiter zu entwickeln. Es wird nötig sein, in allen möglichen Lebensbereichen jene Nischen zu finden, in denen wir nicht nur als "aufgezogene Männchen (oder Weiblein)" das tun, was uns aufgetragen wird oder unsere Kreativität zum Profitmachen verschleudern müssen. Aber es macht durchaus viel Sinn, sich technisches Wissen, Fähigkeiten und Kompetenz anzueignen, um sie nach und nach in immer mehr selbstorganisierte Herstellungsprozesse einfließen zu lassen. Es wird viel von "Aneignungsbewegung" gesprochen. Das meint auch Wissen und Fähigkeiten! Noch sind tatsächlich manche Bildungswege einigermaßen "umsonst" - für andere müssen wir verstärkt darum kämpfen, sie "umsonst" zu erhalten (gegen Studiengebühren) oder kostenlos zu machen. In der Ökobewegung ist schon länger bekannt, dass viel Wissen hier niemals schadet. In den alternativen Bereichen in der Landwirtschaft und im Handwerk gibt es ebenfalls Bildungsmöglichkeiten. Die ausreichende, ökologisch verträgliche Befriedigung von Bedürfnissen, die eine höhere Technisierung erfordern, ist so komplex, dass die meisten Menschen sich gar nicht vorstellen können, dass wir das meistern könnten. Also wird es hier besonders darauf ankommen, uns die entsprechenden Kompetenzen anzueignen und wo es nur irgend geht, mit der Arbeit zu beginnen.

Literatur:

Boutang, Yann Moulier (1998): Vorwort. In: Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID-Verlag. S. 5-22.
Engels, Friedrich (Aut): Von der Autorität. In: Marx-Engels-Werke, Band 18. Berlin 1962
Ernst Dieter (1982): Grundprinzipien einer auf Self-Reliance ausgerichteten Technologiepolitik. In: Neue Technik und Sozialismus. (Hrsg.v. W.F. Haug und W. Efferding). Argument-Sonderband AS 95. S. 96-112.
Göhring, Wolf (1999): Informationsurwald. Marxistische Blätter 6-99. S. 57-63 (http://ais.gmd.de/~goehring/urwald-mb.pdf)
Haug, Frigga (1982): Automation im Widerspruch. Stützpunkte für eine gewerkschaftliche Au-tomationspolitik. In: Neue Technik und Sozialismus. (Hrsg.v. W.F. Haug und W. Effer-ding). Argument-Sonderband AS 95. S. 8-18.
Korsch, Karl (1968): Auf dem Wege zur industriellen Demokratie. Frankfurt am Main Europäische Verlagsanstalt.
Marx, Karl (Kap.I): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Erster Band, Berlin 1988.
Marx, Karl (Elend): Das Elend der Philosophie. In: Marx-Engels-Werke, Band 4, Berlin 1959.
Meretz, Stefan; Schlemm, Annette (2001): Die Freie Gesellschaft als Selbstentfaltungs-Netzwerk. In: Marxistische Blätter 2-01. S. 46-53.
Möller, Carola (1998): Die gesellschaftliche Gesamtarbeit neu gestalten. In: Das Argument 226/1998. S. 469-486.
Negri, Toni (1998): Autonomie und Separatismus. Netzwerke der Produktion und die Bedeutung des Territoriums im italienischen Nordosten. In: Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID-Verlag. S. 23-37.
Rifkin, Jeremy (2004): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Neue Konzepte für das 21. Jahr-hundert.
Rossanda, Rossana (1973): Einheit und Alternative (1973). In: Rossanda u.a.: Der lange Marsch durch die Krise. Frankfurt am Main: Surhkamp Verlag. 1976. S. 55-79.
Sartre, Jean-Paul (1968): Der neue Gedanke vom Mai 1968. In: Mai ´68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze 1. Reinbek: Rowohlt 1974. S. 48-56.
Schlemm, Annette (1998): Ich lebe nicht, um zu arbeiten... In: Internet http://www.thur.de/philo/arbeit3.htm.
Vaneigem, Raoul (1997): An die Lebenden! Eine Streitschrift gegen die Welt der Ökonomie. Hamburg: Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg.
Virno, Paolo (1998): Do You Remember Counterrevolution? Soziale Kämpfe udn ihr Double. In: Toni Negri, Maurizio Lazzarato, Paolo Virno: Umherschweifende Produzenten. Immaterielle Arbeit und Subversion. Berlin: ID-Verlag. S. 83-111.
Weil, Simone (1975): Unterdrückung und Freiheit. Politische Schriften. München: Rogner & Bernhard.

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