Neues Denken?

Erklären - Rechtfertigen?

Am ersten Tag kamen auch die gewieftesten Reporter oft ins Stocken. Der Schock saß tief. Während sich die katastrophalen Videobilder in die Köpfe brannten, setzte das Denken aus. Nur "kranke Hirne" könnten sich so etwas Brutales, Menschenverachtendes einfallen lassen. Mehr war an diesem Tag wohl wirklich nicht denkbar.
In einigen Redaktionen wurden in den nächsten Stunden verschiedene Berichte über frühere Terroranschläge herausgekramt. Namen wurden genannt, Vermutungen geäußert. In einer Diskussionsrunde wagte ein Experte, politische Hintergründe zu vermuten und wurde niedergeschimpft mit der Bemerkung: Wer nach Gründen suche, würde damit auch Verständnis für diese Taten wecken wollen. Wer nach Erklärungen suche, würde automatisch auch Rechtfertigungen produzieren.

Diese Argumentationsweise kann zu Denkverboten führen. Etwas als durch Ursachen hervorgerufen, oder tiefere Gründe bedingt zu erklären heißt noch lange nicht, diese Erklärung auch als Rechtfertigung anzuerkennen.
Natürlich wurden danach trotzdem immer mehr Zusammenhänge genannt. Religiöser Fundamentalismus begründet fundamentale Unterschiede der Werte in "westlichen" und "religiös-fundamentalistischen" Menschengruppen. Daß religiöser Fundamentalismus aber zu bestimmten Zeiten so massiv entsteht und immer mehr wächst und sich brutalisiert, hängt wiederum z. B. mit der Armut und dem jahrzehntelangen Elend von Menschen in Flüchtlingslagern und in Ländern ohne lebenswerte Zukunft zusammen.

Ursache - Wirkungen
Die Suche nach solchen Zusammenhängen ist kein Selbstzweck und nicht nur eine Angelegenheit der geistigen Verarbeitung des Schocks. Es ist tatsächlich notwendig, die erschütternden Tatsachen als Wirkungen von Ursachen zu verstehen. Nur dann kann es eventuell in der Zukunft möglich sein, durch die Ausschaltung der Ursachen das Verhängnis aufzuhalten. Unmittelbar erscheint natürlich die Existenz eines Terroristenführers oder auch des Staatsführer eines "Schurkenstaats" ursächlich. Gegen diese Ursache werden dann schon mal Bomben eingesetzt, die zwar "Kollateralschäden" in der Zivilbevölkerung hervorrufen, die betreffende Person aber fast immer nicht ankratzen. Was heute in großem Maßstab gegen terroristische Akteure aufgefahren wird, war in den vergangenen Jahrzehnten auf etwas kleinerer Flamme (man musste ja immer die Reaktion der zweiten Großmacht unterlaufen) gegen Fidel Castro, Salvador Allende, in Grenada usw. auch schon Staatspolitik der heute ihre Zivilisiertheit rühmenden "demokratischen" Staaten...

Eine umfassendere Ursache ist das Kampfpotential der Terroristen. Dem versucht man durch noch größere Bomben zu begegnen. Natürlich "weit draußen", bei den "Wilden", die selber Schuld sind, wenn sie in der Nähe der Unterschlupfe der Terroristen bleiben... Gegen diese beiden Ursachenkomplexe wird sich die "Weltsicherheitspolitik" der nächsten Jahrzehnte wenden: die militärische und geheimdienstliche Um- und Aufrüstung läuft bereits auf Hochtouren. Scholl-Latour wünscht sich dafür endlich auch die "europäische Atomwaffe", um die Dreckarbeit nicht die Amis alleine machen zu lassen (in Diskussion "Vorsicht Friedmann" v. 12.9.01).

Woher das Kampfpotential einst kam, wird nur selten gesagt: Speziell der "Hauptfeind der USA", der in Afghanistan sitzt, wurde einst massiv von den USA unterstützt, als es gegen die Sowjetunion und ihre afghanischen Verbündeten ging. Ob man sich künftig solcher Einflussnahmen enthalte, um nicht noch mehr potentielle Terroristen zu erzeugen und zu stärken (siehe UCK usw.), davon hat man nichts gehört.

Erscheinungen an der "Oberfläche" - wesentliche Gründe im "Kern"
Aber auch diese Ursachen-Wirkungs-Komplexe der internationalen Weltpolitik treffen nicht den tieferen Kern der Probleme. Sie liegen nahe am Erfahrungsbereich aller Menschen, sind jedoch nur Erscheinungen an der Oberfläche. Diese werden von tieferen Schichten bestimmt, die nicht so deutlich sichtbar sind. Solange wir uns in unseren Analysen und Lösungsvorschlägen nur auf dieser Oberfläche befinden, können wir an den grundlegenden gesellschaftlichen und politökonomischen Strukturen, die die Welt beherrschen, nichts ändern. Wir können sie auch nicht in Frage stellen - und das liegt durchaus im Interesse mächtiger Akteure. Die werden auch weiter darauf achten, daß wir hilflos im Bereich der Erscheinungen herumgrübeln und wegen der Unantastbarkeit der tieferen Gründe auf keine anderen Einfälle kommen, als auch mit Gegengewalt zu reagieren.

Warum wohl nahmen in der letzten Zeit die Terroranschläge weltweit so zu? Doch nicht, weil die Terroristen vorher nur die technischen Mittel (Messer, Pilotenausbildung) nicht zur Verfügung gehabt hätten. Äußere Anlasse haben tiefere Ursache und die sind begründet in grundlegenden historischen Tendenzen, im Wesen dessen, was die Weltgesellschaft zusammenhält und spaltet.

Die berüchtigte neoliberale, kapitalistische Globalisierung zwingt zusammen, was nicht so zusammen gehört. Sie will alle Ressourcen, alle Lebens- und Produktionsgrundlagen, alle Lebensregungen (Genpatente, Patente auf Leben) der kapitalistischen Wirtschaftsweise unterwerfen und nennt dies "Zivilisierung" und Demokratisierung. "Alles, was heute geschieht, ist unmittelbar oder vermittelt ein Produkt des zwanghaft vereinheitlichten Weltsystems." (Robert Kurz, in "Neues Deutschland" 14.09.01). Zuerst werden dabei traditionelle Lebens- und Wirtschaftsweisen brutal zerstört (Vertreibungen durch "Entwicklungsprojekte", wie Staudammbauten). Dann wird erwartet, daß diese Länder eine "normale bürgerliche Demokratie" entwickeln, die nur in den wenigen privilegierten kapitalistischen Ländern funktionieren kann, weil der gesellschaftliche Konsens durch noch ausreichende soziale Versorgung gewährleistet ist. Wenn das dann nicht funktioniert, sondern nationale Eliten als Gewinner der Kapitalisierung zu Tyrannen gegen die verarmte Bevölkerung werden, ist das noch nicht so schlimm. Erst wenn sich diese Tyrannen dann auch nach außen gegen die Verursacher der Destabilisierung wenden, werden sie verteufelt.

Solange diese Dynamik weiter läuft, bestehen die Gründe für eine Brutalisierung der Kämpfe ums Überleben und um Macht weiter und werden durch Gegenwirkungen auf der Ebene der Erscheinungen nur noch verstärkt. Solange "im Untergrund" des Geschehens die offene ökonomische und strukturelle politische Gewalt weiter besteht und verstärkt wird, kommt die Menschheit auf der Erde nicht zur Ruhe und gleich gar nicht zu Fortschritt und Entwicklung.

Hier weitere Einschätzungen von mir zu diesem aktuellen Thema:

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