Ich lebe nicht, um zu arbeiten...

siehe auch hier

Mein Onkel ließ sich, als ich gerade Lehrling in der Landwirtschaft geworden war, immer meine Hände zeigen und inspizierte die sich langsam bildenden Schwielen. Erst als die so richtig hart wurden (und keine Blasen mehr entstanden), war ich für ihn ein "richtiger Mensch". Nach der Berufsausbildung studierte ich dann aber doch - dachte aber schon damals, daß (für mich) eine Kombination von 4 Stunden körperlicher Arbeit (durchaus auch im Stall) mit Wissenschaft in der verbleibenden Zeit eine ideale Kombination wäre.

Deshalb beobachtete ich die Tendenzen der Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit durch produktive Techniken immer sehr interessiert. In der Umschulung nach der Wende wurden uns Frauen dann kaufmännische Buchungssätze mit dem Versprechen eingetrimmt, daß wir in der nun entstehenden Dienstleistungsgesellschaft alle massenhaft gebraucht würden. Gleichzeitig allerdings lernten wir, daß ein Computer viele Buchhalter ersetzen kann - und dementsprechend hatten die meisten von uns wieder nur fürs Unterhaltsgeld und weitere Arbeitslosigkeit die Schulbank gedrückt. Fast in jeder Familie und im Bekanntenkreis zeigt sich jetzt eine eigenartige Zerrissenheit. Die einen können vor Arbeitsstreß nicht mehr aus den Augen blicken - die anderen hängen rum, werden von einer Maßnahme zur anderen und inzwischen auch schon mal aufs Spargelfeld geschickt.

Die Situation ist verworren, wie kommen wir aus diesen Teufelskreisen heraus?

Wie kann man aus sechs Streichhölzern ein Gebilde zusammensetzen, welches dann aus genau vier gleichgroßen Dreiecken besteht?

In einer Weiterbildungsmaßnahme hatte ich vor einigen Wochen Physikunterricht zu geben und nutzte das Thema "physikalische Arbeit, Energie, Leistung..." für einen gedanklichen Ausflug. Ich weitete den Begriff "Arbeit" bis hin zum umgangssprachlichen aus. In Form eines Brainstormings ließ ich die Teilnehmerinnen (nur Frauen) zusammentragen, warum sie eigentlich gearbeitet haben und arbeiten wollen oder vielleicht auch nicht wollen. Die Meinungen dazu wurden an der Tafel ungeordnet festgehalten.

Es entstand eine interessante Begriffsammlung:

Rente, Geld, Güter, notwendiges Übel, Veränderung im Alltagstrott, Selbstbestätigung, Anerkennung, das eigene Können testen, Kontakt, Denken, tratschen, Werte schaffen, Selbstbewußtsein, gebraucht werden, Kommunikation, Überleben, Alltag planen, Bewegung...

Natürlich hatten alle Frauen sich unbewußt auf die Erwerbsarbeit bezogen. Es entstand genau das Bild, das auch den Umfrageergebnissen unter (vorwiegend ostdeutschen) Frauen entspricht: daß die Frauen (neben dem monetären Aspekt) vorwiegend das Bedürfnis nach den mit der Arbeit verbundenen Anerkennungen und Entwicklungschancen haben und deshalb unbedingt Arbeit brauchen.

Ich fragte die Frauen dann, ob sie sich noch andere Tätigkeiten vorstellen können, außer der Erwerbsarbeit, in denen sie diese Bedürfnisse befriedigen können und ob man diese eigentlich auch "Arbeit" nennen könnte. Ja und Nein wurden eine Weile abgewägt. Der Lebensalltag der meisten Frauen hatte sich bisher im ewigen Kreislauf von Erwerbsarbeit und Haushalt abgespielt - sie kennen aber durchaus andere Möglichkeiten, tätig zu werden (Vereine etc.). Sie selbst meinen, in letzteren nicht so aktiv zu sein, weil die anderen beiden Formen ihre Zeit förmlich auffressen.

Ich strukturierte nun die Tafel durch eine Dreiteilung, bei der die letzte Spalte durch die Frauen selbst ergänzt wurde: Haushaltsarbeit als Extraform, die sehr unterschiedlich bewertet wird .

Erwerbsarbeit

 

Haushalt

Was kann nur in der Erwerbsarbeit realisiert werden?

...

   

Was kann auch anderweitig realisiert werden?

...

 

In diese Spalten wurden nun alle vorher gesammelten Begriffe eingetragen.

Es stellte sich heraus, daß außer "Geld" und "Rente" alle anderen Bedürfnisse auch außerhalb der traditionellen Erwerbsarbeit - und vielleicht sogar noch besser - befriedigt werden können. Als ich dann ein wenig an der Möglichkeit von Tauschringen, von Eigenarbeit (wie sie Ex-DDR-Bürger(innen) vom Hausbau und allerlei Notbehelfen nur zu gut kennen) erinnerte, wurde auch bewußt, daß man damit auch den Anteil des zum Leben notwendigen Geldes reduzieren kann.

Erwerbsarbeit

 

Haushalt

Was kann nur in der Erwerbsarbeit realisiert werden?

 

Geld, Rente, notwendiges Übel

   

Was kann auch anderweitig realisiert werden?

 

Veränderung im Alltagstrott, Selbstbestätigung, Anerkennung, das eigene Können testen, Kontakt, Denken, tratschen, Werte schaffen, Selbstbewußtsein, gebraucht werden, Kommunikation, Alltag planen, Bewegung...

notwendiges Übel, Anerkennung nur z.T.,...

Diese Umstrukturierung entspricht in gewissem Sinne der kreativen Lösung der oben gestellten Aufgabe, bei der in die dritte Dimension gegangen werden muß:

Solange wir auf der Ebene des Tisches bleiben, werden wir nie zu einer Lösung gelangen. Erst mit einer räumlichen Dimension (Systemgrenzen überwinden) erkennen wir die Lösung:

 

Bei der Bezeichnung der noch offenen Spalte machte ich den Frauen den Vorschlag, hier nochmals zu unterscheiden zwischen Tätigkeiten, bei denen ein Produkt entsteht, das man selbst nutzt oder das andere als Gebrauchsgut nutzen und denen, die man eigentlich nur "für sich" macht, in die Hobbys und Tätigkeiten fallen, die man einfach so aus "Berufung" tut. Die vorher eingeführte Hausarbeit wollten die Frauen nicht unter eine der anderen Rubriken einordnen, sondern getrennt sehen.

Dadurch ergab sich eine Ausweitung des üblichen Arbeitsbegriffes, wodurch die Fixierung auf die Erwerbsarbeit als anzustrebendes Ideal relativiert wurde.

Erwerbsarbeit

Eigen- und Austauscharbeit

Berufungsarbeit

Hausarbeit

...

...

...

...

 

Die ersten drei Spalten entsprechen dem Konzept der "NEW WORK" von F. Bergmann, das ich auch als methodischen Hintergrund nutzte. Auf der Grundlage, daß die beteiligten Frauen selbst mitentwickelt hatten, welche Bedürfnisse, die sie früher nur mit Erwerbsarbeit verbunden hatten, sie auch anderweitig realisieren könnten, stellte ich ihnen dann Beispiele vor. Leider waren die Voraussetzungen einfach nicht gegeben, jetzt in dieser Gruppe die Gedanken gleich weiterzuspinnen zu konkreten Ideen für sie sie selbst und ihre Region.

Ich schätze die Chancen zur Entwicklung praktischer Projekte dazu in meinem Umfeld im Moment nicht hoch ein. Für mich ist das Konzept NEW WORK vor allem eine Möglichkeit, Gedanken zu strukturieren und neue Ideen hervorzulocken. Manchmal wird das zwar nicht spektakulär ein großes Zentrum für Neue Arbeit münden - sondern lediglich Einzelne überdenken ihre Lebensplanung unter den neuen Bedingungen mit neuen Aspekten, geben sich und ihrer Zeiteinteilung andere Prioritäten . Vielleicht verbinden sie nun andere Gedanken mit der politischen Forderung "Arbeit für alle" (in der "dritten Dimension" der Streichholzaufgabe) bis hin zur selbstbewußten Forderung nach mehr Eigen- und Berufungsarbeit gegenüber der Fixierung auf Erwerbsarbeit.


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Frithjof Bergmann:
Neue Arbeit, Neue Kultur
440 Seiten, geb., 24,80 Euro, Arbor-Verlag
Portofrei zu beziehen über INA

Andere Texte zum Thema Arbeit:
Externe Links zu "Neue Arbeit"


Quelle

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