Umfassende Bereiche: Dialektik

Das Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten

Irgendwie ist mir die Methode des "Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten" schon immer mal begegnet. In Jena fand 1983 ein ganzes Kolloquium dazu statt. Ehrlich gesagt - ich hatte es nie verstanden.

Heute "beherrsche" ich das Thema sicher immer noch nicht "perfekt", aber ich weiß, daß ichs damals gar nicht verstehen konnte. Ich hatte ja noch nie Hegel im Original gelesen und eine fundierte Vermittlung dazu gabs in der DDR-Literatur fast gar nicht. Auf die Schrift von Camilla Warnke dazu (siehe Literatur unten) bin ich erst nach der Wende im Bücherschrank einer Philosophin gestoßen. (C.W. wurde Anfang der Achziger Jahre im Zusammenhang mit der Ruben-Affäre "kaltgestellt".)

Zuerst einmal ist es wichtig, unter "Abstraktion" nicht das "ganz Allgemeine" im Gegensatz zum Einzelnen zu verstehen. Wenn nicht das Abstrakte doch noch etwas anderes als das Allgemeine und das Konkrete etwas anderes als das Einzelne wäre, brauchten wir diese unterschiedlichen Worte nicht.

Ich meine hier auch nicht das Abstrakte im strikten formalen Gegensatz zum Konkreten. Wir vollziehen hier eine vom Formalen unterschiedene philosophische Begriffsbildung.

Vom Lateinischen her enthält das Wort "abstrakt" ein Abziehen, eine Absonderung. In der philosophischen Tradition enthält es etwas, was aller sinnlicher Merkmale beraubt ist, was sich im Denken verselbständigt hat. Welche Aspekte sich verselbständigen, hängt vom Denkzweck und dem Gebrauch der Begriffe selbst ab.

Das Abstrakte spielt dort eine Rolle, wo Begriffe entstehen. In ihnen werden verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen geordnet (Kant). Insofern stellen Begriffe schon etwas Allgemeines dar. Aber die "Richtung" der Verallgemeinerung kann unterschiedlich sein, ist qualitativ bestimmt und nicht mit einer Meßlatte meßbar. Das Fellknäuel auf dem Fensterbrett vor mir ist biologisch gesehen eine Katze, gefühlsmäßig aber ein Familienmitglied, oder auch ein Fellträger, ein Krallenträger, eine Graue usw. Jedes Mal wird nur ein Teil des hier vor mir liegenden, schnurrenden Wesens erfaßt. Abstrakt gesehen wird das Wesen eingeschränkt, nicht etwa "verallgemeinert". Dies macht der Verstand.

Was und wovon abstrahiert wird, ist nicht mit logischem Denken ableitbar, sondern ist vom konkreten Erkenntnisinteresse abhängig und damit direkt oder indirekt aus der praktischen Tätigkeit heraus ableitbar (Lefébvre).

Das Abstrakte erfaßt also immer nur Teilaspekte der Wirklichkeit. Im Abstrakten löst sich ein Begriff vom wirklichen Leben, hebt im wahrsten Sinne des Wortes ab.

Bei SCHELLING wird dieses Lostrennen vom Ganzen bei der Abstraktion als endliche Absonderung der Dinge von der Allheit, bzw. vom Unendlichen und Unbedingten bezeichnet. Da Schelling aber das Ganze, Unendliche und Absolute erreichen will, braucht er die Idee als Vermittlung zwischen Begriff und Anschauung, zwischen Endlichem und Unendlichem, zwischen den Dingen und der Allheit. Diese Idee ist bei Schelling ein Produkt der Einbildungskraft.

HEGEL zielt in eine andere Richtung. Er will nicht per Anschauung und Einbildungskraft die isolierende Abstraktion des Verstandes aufheben, sondern den Verstand "zur Vernunft bringen".

Vernunft ist seiner Meinung nach in der Lage, die einzelnen abstrakten Aspekte wieder so zusammenzubringen, daß nicht etwa wieder der Ausgangspunkt (das sinnliche Konkrete) erreicht wird, sondern das Entstehende eine höhere Einheit darstellt.

(Wir können uns hier kurz an das dialektische Prinzip erinnern: Aus einer Einheit heraus entstehen Differenzierungen, gegensätzliche Momente. Die Synthese dieser Gegensätze führt nicht zurück zur Ausgangseinheit, sondern zu einer völlig neu entstehenden integrierenden Einheit.)

Die höhere Einheit ist ein Produkt des vernünftigen Geistes: es hat die unterschiedlichen abstrakten Aspekte zusammengeführt. Es versteht das Ganze jetzt als Einheit unterschiedlicher, einander widersprechender Momente, nicht mehr als undifferenzierten "Einheitsbrei". Diese widersprechenden Momente und diese Einheit ist jetzt aber wieder etwas Konkretes.

Um uns diesem Begriff zu nähern, gehen wir einfach wieder ins Lateinische (obwohl ich kein Latein pauken mußte - es hilft oft ungemein!): Das Wort kommt von "concrescere" - das bedeutet "zusammenwachsen". Wenn wir das verwandte Wort "creare" dazunehmen, erhalten wir die oben angedeutete Bedeutung: das Konkrete verbindet etwas auf schöpferische Weise. Es ist (nicht das sinnlich vorliegende konkrete Etwas, sondern jetzt ist gemeint ein Geistig-Konkretes) die Verdichtung auf das Wesentliche und widerspiegelt einen ganzheitlichen Zusammenhang. Dies geht aber nicht "allgemein" im "Einheitsbrei", sondern nur, wenn die Widersprüchlichkeit und damit auch die Bewegung enthalten sind.

Dabei verwendet auch HEGEL den Begriff der Idee, aber in etwas anderem Sinne als SCHELLING. Bei ihm ist die Idee die konkrete, geistige Wahrheit, die den Widerspruch in sich trägt.

(Im Philosophischen Wörterbuch von Hoffmeister steht zum Konkreten und seinen interessanten Denkkonsequenzen nichts, bei Camilla Warnke habe ich den Begriff des "Konkret-Allgemeinen" zum ersten Mal gefunden, und der Artikel im Wörterbuch "Philosophie und Naturwissenschaften" von S. Bönisch zum Abstrakten deutet dies alles wenigstens ansatzweise an.)

Indem also das Konkret-Allgemeine den Widerspruch enthält (Warnke), ist es in der Lage, das Wesen der Dinge als widersprüchliches Verhältnis zu erfassen (Séve).

Erst auf dieser Stufe ist das Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis erreicht, denn diese zielt auf das Wesen. Wir lernen dadurch innere Beziehungen kennen, die durch Kenntnis von Gesetzmäßigkeiten (wesentliche (!) Zusammenhänge für dieses konkret-Allgemeine) bereichert sind.

Dadurch, daß das (verständige) Abstrakte nur ein Durchgangsstadium zur (vernünftigen) Erkenntnis des Ganzen mit seinen wesentlichen Widersprüchen ist, findet es auch seinen berechtigten Platz innerhalb der Erkenntnis- und Praxisformen der Menschen. Die gegen-aufklärerischen antirationalen Kampagnen sind zwar modern geworden und auch ich kritisiere viele der herrschenden "Wissenschafts"-Inhalte und -methoden, aber eine weitergehende Kritik muß selbst die Vernunft gebrauchen. Das heißt: die moderne "ganzheitliche" Rationalitätskritik trifft nur den isolierenden, abstrahierenden Verstand, aber nicht die synthetisierende Vernunft (vgl. New Age). Letztere sollte sie selbst eher mit weiterentwickeln, statt mitsamt aller Kritik auch noch unter den Tisch fallen zu lassen...

Eine ausreichende Erkenntnis muß die Schritte über das Heraussondern des Abstrakten und die Wiederherstellung der (jetzt differenzierten) Einheit im Geistig-Konkreten gehen (vgl. auch Ruben 1982).

Für die Gesellschaft hat dies eigentlich nur Marx anzuwenden versucht:

"Es scheint das Richtige zu sein, mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung... Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung (als) falsch. Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn, z.B. Lohnarbeit, Kapital etc... Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen." (Marx, MEW Bd. 13, S. 631)

Marx hat keine "Methodologie" der Erkenntnis geschrieben, sondern man muß aus seinen Anwendungen heraus dafür ein Gefühl bekommen. Seine Aussagen lediglich zu wiederholen, liegt nicht im Sinn meines Interesses. Die gesellschaftliche Realität hat sich seitdem enorm geändert (Ökologie, Globalisierung...), die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind gewachsen (Selbstorganisationskonzept...). Ich hab denjenigen seiner "Nachfolger" noch nicht gefunden, der seine (und Hegels...) Methode kreativ auf die neuen gesellschaftlichen Probleme anwendet. Ich kann und will es auch nicht selbst machen. Diese Aufgabe habe ich mir nicht gestellt. Ich kann diese Methode aber auch nicht einfach ignorieren, sondern will so viel wie möglich für mich selbst entnehmen.

Ein schönes Denkbeispiel habe ich vor kurzem in den "Weißenseer Blättern" gefunden: Walter FLORATH wies nach, daß eine wichtige Stelle bei Marx oft verfälscht wiedergegeben wird. Marx hat als Ziel des Kommunismus nicht formuliert, daß "die freie Entwicklung jedes Einzelnen die Bedingung für die freie Entwicklung aller " sei, wie es heute zitiert wird. Von Marx wird verlangt, daß "... die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller" ist." Ist der Unterschied zwischen "jeder Einzelne" und "eines jeden" so wesentlich? Ja. Der Einzelne ist ein isolierter Mensch, der aus der menschlichen und natürlichen Einheiten herausgefallen, herausgestoßen ist. Er ist das, was wir heute alle sind in dieser bürgerlichen Welt, die nur das Geld zusammenhält.

Marx dachte weiter. Er forderte als Ziel der kommunistischen Bewegung, daß die Individuen als in Gesellschaft produzierende (und lebende) Individuen diese Gesellschaftlichkeit in einer neuen Form gestalten können. Der "Einzelne" ist individuell, elitär, wie es Florath charakterisiert. "Jeder" dagegen meint auch jeden in egalitärer, genereller Weise.

In dem oben diskutierten Zusammenhang ist der "Einzelne" der, der sich aus dem Gemenge der noch undifferenzierten früheren Gesellschaftsformen heraushebt. Diese Differenzierungen sind nicht nur etwas Negatives, sondern durchaus im Sinne des Fortschritts als Chance einer individuellen Persönlichkeitsentwicklung und Lebensgestaltung. Auf dieser Stufe stehengeblieben allerdings, ohne neue Stufe der Gemeinschaftlichkeit, ist der "Einzelne" eine traurige, einsame Figur. Die neue Gemeinschaftlichkeit vereinigt "Jede/n", die/der eine eigene individuelle Persönlichkeit ausprägt, in einer neuen wahlverwandtschaftlich strukturierten Kultur und Lebensweise und selbst-organisierter Wirtschaftsbeziehungen. (Und wenn wir mit unserer Vernunft die Möglichkeit einer solchen neuen Gesellschaftlichkeit denken können, können wir die Welt und uns auch in diese Richtung verändern!)

So abstrakt das Thema "Abstraktes und Konkretes" auch erst einmal aussieht, ich finde in ihr einiges von dem wieder, was ich als "meine" Methode mehr oder weniger bewußt schon längst verwende. Ist es nicht typisch für (sicher nicht nur) mein Denken, daß ich viele verschiedene Dinge im Zusammenhang sehe, daß viele scheinbar nicht zu vereinbarende Aspekte (Ökologie und Soziales) erst beim Zusammennehmen eine gemeinsame Lösung erfahren?!

Es wird für mich selbst interessant sein, mich zu beobachten, wie ich das alles "zusammendenke"... Was anderes ist Philosophie als diese "Reflexion der Reflexion"...? Aber das Konkrete gehört ebenso hinzu, ist also auch mein Themengebiet und nicht etwa etwas "Un-Philosophisch-Alltägliches".

Bönisch, S.: Stichwort "Abstraktes" in:Philosophie und Naturwissenschaften - Wörterbuch, Berlin 1978
Hegel, G.W.F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften
Florath, W.: "Unwissende Lümmel" (Karl Marx) - oder: Deutsch müßte man können, in: Weißenseer Blätter 4/1996
Hoffmeister, J.: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Darmstadt 1955
Levébvre, H.: Der dialektische Materialismus, Frankfurt/Main 1971
Marx, K.: Einleitung zur Kritik der Politischen Ökonomie, in: Marx K., Engels: F.: Werke Band 13, S. 631, Berlin 1961
Marx, K.: Kommunistisches Manifest, in: Marx K., Engels: F.: Werke Band 4, S. 482, Berlin 1961
Naumann, K.: Ökonomische Gesellschaftsformation und historische Formationsanalyse, Köln 1983
Ruben P.: Stichwort "Konkretes" in:Philosophie und Naturwissenschaften - Wörterbuch, Berlin 1978
Ruben, P.: Diskussionsprobleme in der materialistischen Arbeitsauffassung (1982), in: Rauh,H.-C.: Gefesselter Widerspruch. Die Affäre um Peter Ruben, Berlin 1991
Séve, L.: Marxismus 1972
Warnke, C.: Die "abstrakte" Gesellschaft, Berlin 1974


siehe auch:



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