Umfassende Bereiche:
Wissen und Erkennen als Bedürfnis
begleitet mich seit meinen ersten Versuchen mit Lupen, Linsen
und der ersten optischen Bank. Ich war damals 12. Biologie oder
Zoologie hätte mich auch interessiert. Kurz darauf waren
es die Sterne, die mich in ihrem Bann zogen. Die gewählte
Richtung war nicht vorherbestimmt, sondern entschied sich mehr
nach den Möglichkeiten. Aber stets etwas Neues erkennen wollte
ich. Ein Leben im täglichen Einerlei, im Immer-Demselben
war für mich nie erträglich.
Eigentlich hatte ich immer eine recht romantische Vorstellung
von der Wissenschaft. Als ich Physik zu studieren begann, um Astronom
zu werden, sagten mir viele : "Als Berufsastronom siehst
du die Sterne nur noch auf der Photoplatte, nicht mehr am wirklichen
Himmel." Trotzdem mußte ich den Weg in der Wissenschaft
weitergehen und konnte mich nicht mit dem Amateur-Niveau zufriedengeben.
Und das war auch richtig so.
In der Diplom-Arbeit durfte ich nur die Formeln für die Teilchenentstehung
im frühen Kosmos aufschreiben, nicht die Einbettung der Fragestellung
in ein umfassendes kosmologisches Weltbild. Ich akzeptierte das
als "wissenschaftliche Methode", vollzog die Trennung
in "physikalische (rechnende) Wissenschaft" und "weltanschauliche
Philosophie" und wendete mich letzterer zu. Im Nachhinein
sehe ich diese Problematik als symptomatisch an.
Trotz der gebliebenen Romantik, die mich bald in einen Gegensatz
zu den Brotgelehrten und Karrieristen stellte, ist mein Denken
in der westlichen wissenschaftlichen Tradition verankert.
Die erste Kritik daran kam nicht aus der Wissenschaft selbst,
sondern ich stieß bei meiner (eher politisch als erkenntnistheoretisch
motivierten) Suche nach Lebensalternativen nach dem Zusammenbruch
des "realen Sozialismus" auf New-Age-Ansätze. Wissenschaftlich
lag die Brücke zwischen altem Denken und neuen Ansätzen
im Selbstorganisationskonzept, das ein Riesentor in neue
Welten eröffnete. In diese neue Welt nahm ich wesentliche
Teile der Weltanschauung mit, die in der DDR entwickelt worden
war (Hörzsche Naturphilosophie) und betonte in ihr die Tendenzen
der Möglichkeitsfelder und Offenheiten gegenüber
früheren eindimensional-deterministischen Sichten.
Die New-Age-Esoterik im Sinne von F.Capra war für
mich keine Alternative. In ihr lernte ich aber zum erstenmal eine
Kritik des im Westen üblichen Wissenschaftstils kennen. Der
"dualistischen" Trennung von Körper und Geist,
der rationalen Trennung von Subjekt und Objekt wurde hier die
Einheit im Sinne des sich polar abwechselnden und ausbalancierenden
Yin und Jang aus der chinesischen Philosophie gegenübergestellt.
Die Kritik an der westlichen Wissenschaft erfolgt hier sehr undifferenziert
und verfälschend. Die Alternative ist die Umorientierung
auf sog. a-rationale und sogar irrationale "Wissens-"Techniken
wie Meditation, "Einschwingen in die kosmischen Harmonien"
usw. Das wars denn auch nicht, was ich brauchte...
Wesentlich näher geht mir die Kritik, die die Herrschenden
Wissenschaften als Wissenschaft der Herrschenden sieht. Diese
Sicht lernte ich besonders durch Jens Scheer aus Bremen kennen,
der Texte zu Sohn-Rethel geschrieben hat. Sohn-Rethel wies
nach, daß die Denk-Formen den Waren-Formen entsprechen.
Wie in der Waren-Wirtschaft alle Dinge ihre Qualitäten verlieren
und auf quantifizierte Waren-Werte reduziert werden, so geschieht
in der Wissenschaft dieser Warengesellschaft eine Reduktion
auf Quantitäten.
Später vertiefte sich diese Kritik durch Ernst Bloch
(auch über J.Scheer vermittelt). Bei ihm fiel mir auch bezüglich
der Philosophie auf, daß die Art
Begriffsakrobatik, die ich seit einigen Jahren gemacht habe, um
das Hörzsche Begriffssystem zu verstehen, vielleicht auch
noch nicht das Wahre ist. Für das Problem gab Bloch auch
ein geeignetes Bild: Er sprach vom analysierenden Kältestrom
des Marxismus und dem Wärmestrom der Erwartungsfülle
des Marxismus. Bei Blochs Texten fand meine "Romantik"
mehr Erfüllung als in der Begriffsakrobatik. Ich denke, daß
ich möglichst viel von der Wärme mitnehmen sollte. Allerdings
ist das nicht nur eine Frage der Form und des Stils des Schreibens,
sondern des Inhalts. Deshalb stehe ich jetzt auch mehr zu der
eher persönlichen Schreibweise wie in diesen Internet-Texten
(die fast alle aus einem "Buch" für meine Freundinnen
und Freunde von Weihnachten 1995 stammen), obwohl ich das im gedruckten
Buch nicht so weit treibe. Eine Reflexion der Lebenspraxis gehört
allerdings in das Denken doch hinein. Ich hätte verschiedene
Wissenschaftstheorien hier auch einfach mit a)...d) nebeneinanderschreiben
können, aber ich denke, eine wirklich weiterführende
Synthese finde ich nicht über Begriffsakrobatik, sondern
ein einfühlendes Hinterfragen der dahinterstehenden Praxen.
Über die Ernst-Bloch-Assoziation bekam ich Hinweise auf die
Praxisphilosophie, aus der weitere Impulse
für eine begründete Wissenschaftskritik kamen.
Erkenntnis wird hier als Praxisform verstanden und
als solche in enger Wechselbeziehung zu den anderen Praxisformen
und -beziehungen gesehen. Die Praxis der Gesellschaft bestimmt,
welche Fragen überhaupt an die (objektiv real vorhandene)
Natur gestellt werden. Die neuzeitliche Wissenschaft ist davon
gekennzeichnet, daß als Wissenschaft vor allem das verstanden
wird "was zu messen ist und was meßbar gemacht wird,
wenn es noch nicht meßbar ist" (Galilei). Typisch für
sie ist ihre experimentelle Methode, die Gleichförmigkeit
und Quantifizierbarkeit betont. Die "Meßverfahren
nehmen schon die Verhaltensweise vorweg, die ein Experimentator
gegenüber der Natur besitzt, der an ihrer technischen
Verwendbarkeit interessiert ist." (Sesink 1988).
Wissenschaft in diesem Sinne wäre eine Auflistung festgestellter
"positiver" Eigenschaften und nicht das Aufsuchen
von verändernden Tendenzen wie sie in der kritischen
Wissenschaft angestrebt wird.
Vom bisher vorherrschenden Wissenschaftstyp werden qualitative
Unterschiede als "Störfaktoren" beseitigt. Diese
Tatsache stellte ich selbst bezüglich der Kosmologie fest.
Auch hier wurden die "exotischen" Himmelsphänomene,
wie Quasare, aktive Galaxienkerne, galaktische Explosionen usw.
als nebensächlich beiseite gelassen, um die alte Kantsche
Kondensationshypothese auf die Galaxienentstehung anwenden zu
können. Erst jetzt zwingen extraterrestrische Beobachtungen
(Röntgensatelliten, Hubble-Teleskop) langsam dazu, die "exotischen"
Prozesse als die typischen und wesentlichen zu erkennen. In der
Theorie jedoch ist dies noch längst nicht begriffen, das
Gerede um "Schwarze Löcher" als Erklärung
für alles Mysteriöse ist nicht besser als unwissenschaftliche
Mysterien.
Ein anderes Beispiel zeigt die Nobelpreisträgerin Barbara
Mc Clintock. Sie erhielt diesen Nobelpreis 30 Jahre nach ihrer
Entdeckung der "springenden Gene", die es laut Theorie
nicht geben dürfte. Die etablierte Wissenschaft richtete
ihre Experimente stets so her, daß ihre Voraussagen bestätigt
werden und interpretiert Abweichungen als "Ausnahme, Abweichung,
Verunreinigung". B. Mc Clintock jedoch arbeitete so intensiv
und vorurteilsfrei mit dem Mais, daß sie erkannte, daß
in den "Fehlern" etwas noch-nicht-Entdecktes steckt,
nämlich die "springenden Gene". Selbst die Anerkennung
dieser Entdeckung nahm Jahrzehnte in Anspruch (nach Schmitz 1995).
Eine Variante der Kritik an der der Quantifizierung aller Dinge wird auch von W. Sachs bei der Kritik der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland", an der er selbst mitgearbeitet hat, erwähnt (Sachs 1995). Als Sozialwissenschaftler bemüht er sich, die Frage nach der "sozial-qualitativen Gestalt" in den "stofflich-quantitativen Umriß" der Studie hineinzubekommen. In Form der 8 Lebensform-Leitbilder ist dies additiv auch gelungen (allerdings nicht integrativ). Und doch: hier bleibt die Kritik einseitig.
Das Qualitative, das Sachs sucht, sind "Eindrücke...
sinnliche und imaginative Wahrnehmungsorgane, um das Selbst mit
Erlebnissen zu speisen" (Sachs 1995, S. 23). Das entfremdete Selbst sucht hier eher nach Kompensation verlorener Lebenspraxis in erlebnishafter Wahrnehmung, nicht mehr dem gelebten praktischen anderen Lebens selbst. Nicht anders zu leben, sondern nur anders wahrzunehmen ist sein Wunsch.
Die Unvollständigkeit dieses Wunsches, das Verhaftetbleiben
im Entfremdeten wird vielleicht erst deutlich, wenn eine umfassendere
Alternative klar ist.
Feministische Wissenschaftskritik war mir inhaltlich durch
Sandra Harding und mehrere Artikel in wissenschaftskritischen
Zeitschriften geläufig. Im Feminismus wird jedoch zu häufig
die Kapitalismuskritik durch eine alleinige Patriarchatskritik
ersetzt - und dann können mich die Ergebnisse nicht mehr
überzeugen. Ich kann zwar meine eigenen Erfahrungen (beim
Diplom) in diesem Licht sehen, aber ich glaube einfach nicht,
daß es an meinem biologischen Geschlecht liegt, daß
ich eher Weltanschauung wollte als die Mathematik. Insgesamt bin
ich mehr Physiker (!) als Feministin,von denen viele Wissenschaft
als expansionistisches, patriarchales Projekt insgesamt verwerfen.
Zu viele der Feministinnen landen mit einem mythologischen Göttinenkult
tatsächlich in der Steinzeit.
Viel akzeptabler und letztlich überzeugender ist die Argumentation
des Ökofeminismus, die die
gesellschaftlichen Bedingungen insgesamt mit im Blick behält.
Die europäische Wissenschaft muß dabei ihre Überheblichkeit
ebenfalls abgeben - die Alternative ist jedoch nicht die Wissenschaftslosigkeit,
sondern eine "ganzheitliche, natur-, frauen- und menschenorientierte
Wissenschaft von unten" (Mies/Shiva 1995). Diese schätzt
älteres Überlebenswissen und Traditionen neu ein und
verwendet auch modernes Wissen.
Man muß akzeptieren, daß die Wissenschaften und auch
die technologische Praxis in China, Indien, Arabien nicht schlechter
waren als in Europa. Der Vorsprung der Europäer wurde lediglich
durch die Konzentration auf Waffentechnik errungen. Und
diese Konzentration war auch eine Richtungsentscheidung. "Moderne
Mechanik und Physik hätten eine andere Richtung genommen,
wären sie nicht von Anfang an eng mit Militarismus und der
Entwicklung von Waffen verbunden gewesen" (Mies/Shiva 1995,
S. 246). Auch heute noch ist es nicht nur die Anwendung von "wertfreier"
Wissenschaft, die gesellschaftlich bedingt ist, sondern die
sozialen Beziehungen sind in der Methodologie und den Inhalten
selbst enthalten (ebenda). Computer z.B. wurden nur aus kriegstechnischen
Gründen geschaffen, sogar das INTERNET stammt aus militärischen
Überlegungen und Anstrengungen. So ziemlich alle anderen
wissenschaftlichen Projekte dienen nur scheinbar menschlichen
und/oder Umwelt-Interessen. Letztlich setzt sich nur das durch,
was die multinationalen Konzerne wollen und was marktfähig
ist. Und dies sind höchstens nebenbei und aus Versehen Dinge,
die Du und ich und vielleicht sogar das Kind in der Dritten Welt
manchmal brauchen.
Das Projekt der "Wissenschaft" ist eng verbunden mit
dem Entwicklungsprojekt nach europäischem Muster. Die Form
und die Inhalte dieser Wissenschaft können nicht die Auswege
aus der Misere weisen, in die sie selbst wesentlich mit geführt
haben. Gentechnik ist keine Antwort auf zerstörte ökologische
Gleichgewichte. Biotechnologien verbessern die natürlichen
Lebensmittelerzeugungszyklen nicht. Geld kann eine indische Frau
nicht essen, wenn ihr Land und Saatgut gestohlen worden ist.
Eine neue Wissenschaft wird verschiedene Merkmale haben. Sie wird dezentral sein, regional angepaßte Inhalte haben. Sie wird "von unten", nämlich den arbeitenden Menschen entwickelt. Sie wird eine erneute Einheit von Theorie und Praxis beinhalten, die weit über die von den Praxisphilosophen herbeitheoretisierte Einheit hinausgeht, weil sie wirklich praktisch ist. Sie wird vieles von den alten Volksweisheiten enthalten, die bei uns seit der Hexenverbrennung verloren und diffamiert worden sind - weswegen wir uns in Indien einen Eindruck von ihnen holen müssen.
In diesen Formen entspricht sie erst den Forderungen der Praxisphilosophie,
was von dieser jedoch nicht erkannt wird, weil ihre Praxis innerhalb
des europäischen Zivilisierungsprojekts liegt.
Um die "alte" europäische Wissenschaft braucht
es uns also nicht leid zu tun. Der Kapitalismus schafft es nicht
mal mehr, diese ausreichend zu fördern. Ich weiß nicht,
wie sich die Ablösung der Scholastik vollzog - aber ich kann
mir vorstellen, daß auch die Scholastiker selbst ehrlich
und ernsthaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach Neuem suchten,
nach Auswegen. Manchmal ist der gegebene Rahmen aber zu eng. Auch
wir sollten lernen, unser Leben und Denken in Frage zu stellen,
um unsere Kraft rechtzeitig auf das Neue zu orientieren. Mies, M., Shiva, V.: Ökofeminismus, Zürich 1995 Sachs, W.: Zählen oder Erzählen. Natur- und geisteswissenschaftliche Argumente in der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland", WECHSELWIRKUNG Dezember ´95, S. 20-25 Schmitz, S.: Wissen ist nicht Macht. Barbara Mc Clintock und der wissenschaftliche Dogmatismus, in: WECHSELWIRKUNG Dezember ´95, S. 60-65
Sesink, W. Der Wert der Natur, in: Immler, H. Schmied-Kowarzik,
W.: Natur und Marxistische Werttheorie, Kasseler Philosophische
Schriften 23, Kassel 1988
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siehe auch