Von der Geschlechterfrage zur Selbstentfaltung für jede/n

1.Überarbeitung, Stand 03.06.01
Warum überhaupt "Frauenfrage", "Geschlechterproblem"?
Feministische theoretische Konzepte
1. Gleichheitskonzept
2. Differenzkonzept
2.1. Betonung der (dualen) Geschlechterdifferenz
2.1. 1. Radikaler Feminismus
2.1.2. Ökofeminismus
2.1.3. Sex-Gender-Unterscheidung
2.2 Individuelle Differenzierung
2.2.1. Multiple Opression
2.2.2. Postmoderne
2.2.3. Anarchafeminismus
3.1. Selbstentfaltungs-Feminismen
3.2. Andere Selbstentfaltungsansätze
3.2.1. Selbstentfaltung
3.2.2. Freie Vereinbarung
3.2.3. Freie Softwarebewegung als Beispiel
3.3. Freie Gesellschaft und Feminismus
4. Eine Feministische Ökonomie im Vergleich mit Oekonux
5. Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun?
6. Wert-Abspaltung

Ich habe mich bisher immer geweigert, wenn ich mich inhaltlich auf eine "Frauensicht" einschränken sollte. "Interessierst Du Dich als Frau für Wissenschaftstheorie – dann mach gefälligst auch Feministische Wissenschaftstheorie, dann bekommst Du vielleicht auch Deine Spielwiese..." Oder: "Willst Du etwas zur Rolle des Internet veröffentlichen, konzentriere Dich doch bitte auf die Situation von Frauen im Internet."

Nein, ich wollte eine Meinung z um Ganzen haben, nicht nur zur jeweiligen Frauenspezifik. Gerade in den Bereichen Gesellschafts- und Wissenschaftstheorie habe ich schon immer mal die entsprechende Literatur aus der frauenspezifischen Ecke mit rezipiert und allgemeine Hinweise entnommen. Angesichts des Vorliegens neuer gesellschaftspolitischer Konzepte und neuer wissenschaftstheoretischer Fragen bietet es sich jetzt an, noch einmal eine Gesamtübersicht zur besonderen Rolle der Geschlechterfrage zu erstellen. Es besteht immer die Frage, ob es sich dann lediglich um einen feministischen "Anbau" (Scholz) ans Gesamte handeln wird, oder ob die Geschlechterfrage auch den Blick öffnen kann für einen "anderen Begriff des Ganzen" (Scholz)

Die Ergebnisse werden verwendet in einer Veranstaltung im Frauenzentrum Jena im Mai 2001 und zur Vorbereitung einer neuen Veröffentlichung in Weiterführung des Buches "Freie Menschen in Freien Vereinbarungen – Gegenbilder zur EXPO 2000".

Warum überhaupt "Frauenfrage", "Geschlechterproblem"?

Ich bin es gewohnt, in feministischen Schriften ständig zuerst zu lesen, wieso die feministische Sicht unabdingbar notwendig ist. Klar, Frauen sind 50% der Menschheit. In meinem eigenen Leben fand ich jedoch keine mich betreffende spezifische Problematik, die etwas mit meinem Frau-Sein zu tun haben könnte. (Nebenbei: das Ausgehen von spezifischen Lebenslagen der Frauen und keinem abstrakten Gesamtbild der Gesellschaft ist ein erklärtes Grundprinzip feministischer Theoriebildung.) Dazu muß ich sagen, dass ich aus der DDR komme. Ich wuchs mit dem Bewusstsein auf, dass mir alle Möglichkeiten offen stehen, die jedem Menschen in der DDR offen standen – unabhängig vom Geschlecht, und dass mir jene verwehrt sind, die allen verwehrt sind – unabhängig vom Geschlecht. Daß Frauen statistisch gesehen weniger verdienten, dass sie nicht so hohe Posten einnahmen usw. war für mich nicht so wichtig. Verdienst- und Statusunterschiede waren in der DDR sowieso nicht so wichtig, wie sie es in kapitalistischen Ländern sind. Für die Grundbedürfnisse war immer gesorgt, deshalb stand ich nie vor der Wahl, etwa zwischen Wissenschaft und Familie wählen zu müssen. Ich kenne mehrere Professorinnen, die in der DDR-Zeit 3 oder sogar 4 Kinder hatten. Andere Frauen in der DDR fühlten schon damals – spätestens während der "Wende" – das Bedürfnis, ihre Spezifik in einem eigenen Bereich zu artikulieren, auszuleben, in die Gesellschaft hineinzutragen – aber erst seit ich nun auch im Kapitalismus lebe, habe ich verstärkt wahrgenommen, dass Frauen großen Wert darauf legen, ihre Problematik nicht nur als "Nebenwiderspruch" (gegenüber dem Klassenwiderspruch) behandelt zu wissen. Trotzdem liegt es mir sehr nahe, die Geschlechterfrage in dieser jetzt herrschenden Gesellschaftsform vor allem als ein spezifisches Unterdrückungsverhältnis zu sehen. Etwas Besonderes hat sie dadurch, daß sich bei Frauen alle Unterdrückungsverhältnisse vereinen können: geschlechtliche, soziale, ethnische etc.

Trotzdem habe ich den Eindruck, dass eine sich speziell aufs "Frau-Sein" konzentrierende Frauenbewegung auch von den jungen Frauen weniger gewünscht wird. In einem politischen Netzwerk erhielt ich auf eine entsprechende Anfrage z.B. die Antwort:

"Nur definiere ich mich erst einmal als mensch, dann als anarchistin und dann als frau. in meinen freundeskreis gibt es männliche wesen, die feministischer sind als ich..."
"frau-sein und mann-sein kann meinetwegen ruhig in den hintergrund treten, denn es gibt genung ungerechtigkeit auf der welt, die uns alle betrifft."

Trotzdem studiere ich hin und wieder die spezifisch feministischen Konzepte und suche zumindest nach Parallelen oder eben auch besonderen Inhalten. Eine sehr verkürzte Zusammenschau möchte ich kurz vorstellen. Auffallend ist übrigens, dass viele Konzepte über Jahre hinweg voneinander kaum Notiz nehmen – dass es schwer ist, klare Entwicklungslinien oder Trends herauszulesen. Es gibt auch deutliche Differenzen zwischen den frauenspezifischen theoretischen Konzepten in verschiedenen politischen Praxen. Dabei liest sich aber jede "Übersichtsabhandlung", die dann einen kleinen Teil davon behandelt, als "DIE" Zusammenfassung "DER" feministischen Literatur. Und die Akademisierung einiger Richtungen ist mindestens genauso weit entwickelt wie im "männlichen" Bereich.

Feministische theoretische Konzepte

Während die eigenständige Artikulation der Interessen von Frauen zu Beginn der bürgerlichen Revolution noch erstickt werden konnte und der Aufbruch von Frauen in den Wissenschaften zuerst eher "lautlos" (Feyl) war, werden sie seit den 60er Jahren immer stärker diskutiert.

1. Gleichheitskonzept

Am Anfang stand eher die Forderung nach einer Gleichstellung auf der Ebene dessen, was Männlichkeit verkörpert. Dazu wurde betont, dass es keinen Grund gibt, einen Unterschied zwischen Frauen und Männern zu machen, weil es keinen gibt. "Man kommt nicht als Frau zu Welt, man wird es" (Beauvoir 1968, S. 265). Das Ziel war eine Humanisierung der Frauen nach männlichem Muster, deshalb wird dieses Konzept auch das "humanistische" genannt. Dabei wurden die mit Männlichkeit verbundenen Werte anfangs überhaupt nicht kritisiert. Modernere Gleichheitskonzepte stellen diese in Frage und hoffen, durch eine stärkere Beteiligung von Frauen in den entsprechenden Lebensbereichen würde die Situation insgesamt verbessert.
In Bereichen, in denen die Frauen tatsächlich gegenüber Männern strukturell benachteiligt sind, ist eine Gleichstellung schon einmal ein Fortschritt. Frauenpolitik, vor allem die sich langsam erfolgreich durchsetzende, kämpft im allgemeinen an diesen Aufgaben. Ob das "Gender Mainstreaming", d.i. die "durchgängige Berücksichtigung der Geschlechterperspektive" (EU-Kommission) seit diesem Jahr als endgültiger Erfolg zu verbuchen ist, ist zweifelhaft. Es ist zu befürchten, dass der kritischer Impetus der Frauenbewegung damit noch stärker verloren geht: "Der Feminismus kämpfte gegen diese Norm an, nicht um selbst Aufnahme zu finden, sondern um die Stromlinie zu stören und die Definitionsmacht des rechten Weges zurückzuweisen." (Thürmer-Rohr 2001, S. 35)

2. Differenzkonzept

Es zeigte sich jedoch, dass viele Frauen gar nicht das Recht darauf haben wollten, ebenso "männlich" zu sein wie die Männer. Hosen anziehen und Zigaretten rauchen kann man zwar wollen – aber eigentlich geht es gar nicht nur darum. Seit Mitte der 70er Jahre betonen Theoretikerinnen der Geschlechterdifferenz, dass es tatsächlich Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern gibt, entweder von Geburt an oder durch Sozialisation (was später im sex/gender-Konzept präzisiert wird). Diese Frauen sehen im speziell "Weiblichen" sogar etwas Bewahrenswertes, manchmal sogar jene Eigenschaften und Werte, die sich gegenüber den "männlichen" als dominant durchsetzen sollen. Dieser Gynozentrismus ermöglicht eine radikale Kritik der "männlichen" Normen und fordert dazu heraus, eine spezifisch weibliche Gegenkultur zum Sturz des patriarchalen Systems zu entwickeln. Seit den 90er Jahren wird die Differenz mehr und mehr auch auf ein Aufbrechen der Geschlechterdualität und auf andere Fragen, wie Ethnien und Kulturen bezogen. Die Dominanzforderung wird teilweise zurückgenommen und ein Übergang in postmoderne Positionen erfolgt (siehe unten).

2.1. Betonung der (dualen) Geschlechterdifferenz
2.1. 1. Radikaler Feminismus

Zuerst jedoch wird der Ursprung der Unterdrückung primär in einer biologischen Differenz gesehen (z.B. in der Ableitung aus Fortpflanzungsvorteilen frauenraubender oder ­tauschender Gemeinschaften in der menschlichen Frühzeit). Aus dieser geschlechtlichen Unterdrückung sollen alle anderen Unterdrückungsmechanismen erst hervorgegangen sein. Deshalb müsse der Kampf gegen das Patriarchat Vorrang vor allen anderen Kämpfen haben. Dies wurde vor allem der bisher häufig vertretenen Meinung, die Frauenfrage sei nur ein "Nebenwiderspruch" gegenüber der Klassenfrage, entgegengesetzt und wurde zur Geburtsurkunde der autonomen Frauenbewegung.

2.1.2. Ökofeminismus

Indem Frauen tendenziell mit natürlichen Reproduktionsquellen gleichgesetzt werden, ergibt sich eine quasi natürliche Verbindung der Frauenfrage mit der Ökologiefrage. Durch ihre besondere Nähe zur Natur wird den Frauen eine besondere Befähigung und Verantwortung zur Rettung der Erde zugeschrieben (Shiva, Werlhof, Mies, siehe auch: http://www.thur.de/philo/as235.htm).

Janet Biehl bemüht sich, mit ihrem Sozialen Ökofeminismus die positiven Ansätze aus dem Ökofeminismus mit linken Konzepten zu verbinden und einer Entpolitisierung und Mystifizierung des Weiblichen aus dem Ökofeminismus entgegenzuwirken.

2.1.3. Sex-Gender-Unterscheidung

Besonders in der akademischen Diskussion wird seit den 80er Jahren noch einmal unterschieden, dass die Zuschreibung der Geschlechter eine biologische Komponente sowie eine soziale/kulturelle Komponente hat.

Sex = natürliche Geschlechtszugehörigkeit Gender = soziales oder kulturelles Geschlecht
das >sichtbare< biologische Geschlecht, d.h. die Ebene der Physiologie und Anatomie zielt auf geschlechtspezifische Rollenerwartungen, Verhaltensweisen und soziale Positionierungen

2.2. Individuelle Differenzierung

Diese strikte Trennung von sex und gender wird Mitte der 80er Jahre jedoch wieder hinterfragt.Das anatomisch-biologische Geschlecht existiert zwar - aber der Umgang mit ihm und jegliche Wesenszuschreibungen etc. sind gesellschaftlich vermittelt (Butler 1991). Wichtig ist diese Betrachtungsweise deswegen, weil sie darauf hinweisen will, daß jegliche Vereinheitlichung auf scheinbar "natürlicher" Basis doch letztlich auf gesellschaftlichen Zuschreibungen beruht. Diese Zuschreibungen können Menschen unter Herrschaftsbedingungen zu Subjekten machen (Konstitution von Rechtssubjekten, vgl. Foucault), aber damit sind nicht individuelle Subjekte gemeint, sondern das Individuum nur, insofern es zu dem als Subjekt Vereinheitlichten gehört. Aber: "Eine Frau zu >sein<, ist sicher nicht alles, was man ist" (Butler 1991, S. 18). Eine von Butler vorgeschlagene feministische Politik würde allen Verdinglichungen von Geschlechtsidentität und Identität entgegentreten (ebd., S. 21). Butler zitiert Monique Wittig: "Die Heraufkunft individueller Subjekte erfordert, daß zuvor die Kategorie des Geschlechts zerstört worden ist." (zit. in Butler 1991, S. 41).

2.2.1. Multiple Opression

Für diese Entdualisierung der Geschlechterfrage gibt es Hinweise aus anderen Kulturen und auch politisch wird es immer deutlicher, dass auch andere Unterdrückungsverhältnisse (zuerst triple Opression: Geschlecht, Rasse, Klasse, später erweitert als multiple Unterdrückung) einbezogen werden müssen.

2.2.2. Postmoderne

Es zeigt sich, dass alle Festschreibungen von Identitäten tendenziell unterdrückerisch sein können. Als neues Ziel entsteht das Bild einer Gesellschaft, in der die Geschlechtszugehörigkeit keine Rolle mehr spielt und Menschen sich individuell, aufgrund ihrer Persönlichkeit, frei entfalten können. Ob dies im global-neoliberal agierenden Kapitalismus mit seinen flexiblen, mobilen und kreativen sowie den aus ihrer Ausbeutbarkeit "entlassenen" Menschen bereits verwirklicht ist, oder gerade nicht – wird leider in den sich als "postmodern" nennenden Konzepten zu wenig diskutiert. Beim Frauen-NGO-Forum in Huairou (Weltfauenkonferenz Peking 1995) kamen z.B. sehr viele unterschiedliche und gegensätzliche Lebensmodelle zusammen: "Hier eine muslimische Frau, die sich dagegen wehrt, wegen ihrer Kleidung als rückständig gebrandmarkt zu werden – dort eine Exil-Iranerin, die gegen die Macht der Religion streitet. Hier eine Afrikanerin, die gegen die Unterdrückung von Frauen und Lesben durch die afrikanische Tradition kämpft – dort eine Afro-Amerikanerin, die ihre Wurzeln in der afrikanischen Tradition sucht und zelebriert" (Ruf, zit. in Scholz 2000, S. 157). Aus der Vielfalt wurde ein unfruchtbares Paradigma – widersprüchliche Entwürfe blieben undebattiert nebeneinander stehen (Scholz 2000, S. 158)

2.2.3. Anarchafeminismus

Mit dem Bezug auf die Individualität haben wir eine starke Übereinstimmung mit dem, was der Anarchismus seit langem fordert. Feministinnen werden oft als "natürliche Anarchistinnen" bezeichnet, weil für sie eine Hinwendung zu nicht-hierarchischen Beziehungen typisch ist. Die "Neue Frauenbewegung" entstand selbst als Graswurzelbewegung, die auch "keine Diktatur des Feminats" anstrebte (1985 in Beträge zur feministischen Theorie und Praxis) (vgl. Maria Mies 1982)

Der Anarchismus ist jedoch erfahrungsgemäß nicht gleichzeitig automatisch nicht-patriarchal! (Lohschelder). Der aus der Verbindung von Anarchismus und Feminismus entstandene Anarchafeminismus orientiert die politische Praxis auf spontane und direkte Aktionen in Form einer kollektiven politischen Konfrontation, wobei an den "Grenzen der Gesellschaft" ein Gegensystem aufzubauen ist.

3.1. Selbstentfaltungs-Feminismen

Hier möchte ich bei der Darstellung der Konzepte bereits einen Break einführen. Wie schon erwähnt, haben die vielen Konzepte oft keine eine nahtlose Überleitung ermöglichenden Passstellen. Später werde ich an diese Stelle zurück gehen und auf ein neues Konzept abzielen, das die Differenzierungen in einer neueren, theoretisch entwickelteren Einheit wieder zusammen führt.

Hier jedoch will ich erst einmal an den Differenzierungen und dem Trend anknüpfen, im Interesse einer individuellen Sichtweise auf eine Identifikation mit Klassen oder Ethnien oder Geschlechtern weitestgehend überhaupt zu verzichten.

Dazu kamen Impulse aus mindestens diesen Konzepten:

  • Gender mit dem Augenmerk auf sozial erzeugte Geschlechtsidentitäten, die es zu dekonstruieren gilt;
  • multiple Opression, weil Vielfalt der Unterdrückungsverhältnisse einbezogen sind, die ja auch individuell unterschiedlich wirken;
  • Anarchafeminismus

Problematisch sind aus dieser Sicht:

  • Differenztheorie mit Annahme festgelegter Geschlechtsidentitäten (Tendenz der Festlegung der Individualität darauf) und
  • Radikaler Feminismus, wegen dem gestörten Verhältnis gegenüber allen "männlichen" , d.h. dann auch deren Selbstentfaltungstendenzen.

Feminismus ist eine "politische Perspektive und Position" (List 1989), die sich an zwei Zielen orientiert:

  1. Gleichheit, Würde und Entscheidungsfreiheit für Frauen auf der Basis der Kontrolle der Frauen über ihr eigenes Leben und ihren Körper, innerhalb wie außerhalb des Hauses...
  2. Beseitigung aller Formen von Ungleichheit, Herrschaft und Unterdrückung durch die Schaffung einer gerechteren sozialen und ökonomischen Ordnung, national und international.

(aus dem Bericht des Workshops "Feministische Perspektiven" am 2. Internationalen und Interdisziplinären Frauenkongreß in Groningen 1984, zit. nach List 1989, S. 10)

Letztlich erwächst daraus eine Utopie und "Nur noch Utopien sind realistisch" (Kurz-Scherf):

"Soziale Utopie ist, einen Zustand zu erreichen, indem die Forderung nach Gleichheit überflüssig wird, weil der Mensch, der alle Möglichkeiten hat, sich in einem Gemeinwesen zu entfalten, nicht einem anderen gleich sein muß, sondern individuell so unterschiedlich sein kann, wie sie und er will." (Ditfurth 1995)

Dem entspricht auch die Vermutung von Elisabeth List, dass feministische Theorien sich mit der Überwindung patriarchaler Herrschaftsverhältnisse überflüssig machen (List 1989, S. 31f.)

Warum beziehe ich mich eigentlich vorwiegend auf feministische THEORIEN? Schauen wir doch mal, was feministisch orientierte Menschen praktisch machen: sie kämpfen um einen besseren ökonomischen Status und für politische Rechte von Frauen. Themen sind die Situation in der Ausbildung, industrielle Entwicklung, Beschäftigungspolitik, Wahlrecht, Möglichkeit von Amtspositionen, Reisen in der Öffentlichkeit, Rechte politisch Gefangener, Menschenrechtsver-letzungen gegenüber Frauen wie Vergewaltigung und Folter, dazu noch Ehe- und Familienfragen, Heirats- und Scheidungsgesetzte, Kindersorgerecht und Hausarbeit, Frauengesundheitsfragen... (Collins, S. 33).

3.2. Andere Selbstentfaltungsansätze
3.2.1. Selbstentfaltung

Das Verhältnis von Gesellschaft bzw. Gemeinschaft und menschlichen Individuen kann unterschiedlich gesehen werden. Eine funktionale Sicht würde – ähnlich wie in der Biologie – die Handlungen der einzelnen Menschen jeweils daran messen, ob sie funktional oder dysfunktional für das Aufrechterhalten der Gesellschaft oder Gemeinschaft sind. Als primäres Handlungsziel scheint die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft zu wirken – in der Realität schlägt dies auch voll durch – z.B. wenn Vereine und Institutionen zum Selbstzweck werden. In der kapitalistischen Gesellschaft wird es auch immer unübersehbarer, dass in ihr alle Lebensäußerungen nur danach bemessen werden, inwieweit sie den Selbstverwertungserfordernissen des Kapitals entsprechen.

In einer von uns angestrebten Freie Gesellschaft ist jedoch diese funktionale Sicht nicht mehr vorherrschend. Der einzelne Mensch existiert nicht zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft oder Gesellschaft, sondern letztere sind nur dazu da, um den Menschen ihre Selbstentfaltung zu ermöglichen. (Die Existenz einer gesamtgesellschaftlichen Reproduktionssphäre ist die Voraussetzung für die Möglichkeit von einzelnen Menschen, sich gegenüber den statistisch durchschnittlich durchaus vorhandenen notwendigen Beiträgen einzelner Menschen zur Systemreproduktion bewusst verhalten zu können, d.h. diese Notwendigkeiten sind für den Einzelnen nicht unmittelbare Handlungsdetermination, siehe Schlemm 2001a nach Holzkamp 1985).

Selbstentfaltung ist nicht gleichzusetzen mit der Beschäftigung mit "ungesellschaftlichen, unwichtigen und nebensächlichen Dingen", wie jemand in einer Mail vermutete. Dieser Begriff geht nicht von einem isolierten, einzelnen Individuum aus und fragt, wie dieses sich selbst irgendwie irgendwohin ausbreitet – sondern es setzt die "gesellschaftliche Natur" (Schlemm 2001b nach Holzkamp) jedes einzelnen Menschen voraus. Für diesen "natürlich gesellschaftlichen" Menschen ist Selbstentfaltung das "individuelle Entwickeln und Leben der eigenen Subjektivität, der eigenen Persönlichkeit" (Gruppe Gegenbilder, S. 25). Es gibt da nichts potentiell fertig Vorhandenes nur zu verwirklichen ("Selbstverwirklichung"), sondern "Selbstentfaltung bedeutet die schrittweise und zunehmende Realisierung menschlicher Möglichkeiten auf dem jeweils aktuell erreichten Niveau" (ebd.) und dieses immer wieder überschreitend. Diese Selbstentfaltung setzt die Entfaltung der anderen Menschen voraus. Für meine eigene Selbstentfaltung habe ich ein unmittelbares Interesse daran, dass sich auch andere Menschen selbst entfalten können – auf dieser Grundlage können wir freie Vereinbarungen eingehen. Carol C. Gould (1989) kommt diesen Bestimmungen noch am nächsten – sieht aber Selbstverwirklichung noch nicht von sich aus vermittelt mit der gesellschaftlichen Natur der Menschen und braucht bei sozialen Beziehungen deshalb zusätzlich die Forderung nach Reziprozität (wechselseitige Anerkennung: jeder Akteur strebt bewusst danach, die Handlungsfähigkeit der anderen zu fördern.) Wir sehen beide Aspekte nicht nur äußerlich (moralisierend gefordert), sondern in ihren Inhalten sich gegenseitig enthaltend – vermittelt.

3.2.2. Freie Vereinbarung

Es gibt wohl keine ernstzunehmende Vorstellung einer nichtkapitalistischen Welt mehr, die auf so etwas wie die "Diktatur des Proletariats" oder eben "Feminats" setzen würde. Demokratie in einem auf die Wirtschaft erweiterten Sinne, Selbstbestimmung und Selbstorganisation sind wesentliche Prinzipien jener Konzepte, an die ich hier anschließen möchte. Wir kennen die altbekannten Vorstellung von Räten und wirklichen Sowjets. In Bewegungen und Institutionen gibt es Versuche mit rotierenden Verantwortungen. Die Alternativbewegung ist geradezu ein Experimentierfeld unterschiedlichster Formen des Zusammenlebens und ­wirkens mit neuen Prinzipien. Bereits der Versuch, aus den mittlerweile mindestens 30 Jahren, EINE optimale Selbst-Organisierungsform herausfinden und verallgemeinern zu wollen, wäre bereits ein Verstoß gegen diese Prinzipien.

Diese Erkenntnis ist die Grundlage einer "Grundlegung der Freien Kooperation", die Christoph Spehr (Spehr, 2000) entwickelte. Als politische Utopie soll das Konzept der Freien Kooperation nicht etwa einen vollständigen Satz optimaler Regeln aufstellen. Es geht im Gegenteil darum zu bestimmen, unter welchen Bedingungen das Aufstellen von Regeln immer nur den betroffenen Menschen in kollektiver Selbstbestimmung vorbehalten bleibt.

"Freie Kooperation liegt vor, wenn
  • die überkommene Verteilung von Verfügungsgewalt, Besitz, Arbeit und die überkommenen Regeln nicht sakrosankt sind, ihnen also kein "höheres Recht" zukommt, sondern sie vollständig zur Disposition stehen, d.h. von den Beteiligten der Kooperation jederzeit neu ausgehandelt werden können;
  • alle Beteiligten frei sind, die Kooperation zu verlassen, ihre Kooperationsleistung einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen, und dadurch Einfluss auf die Regeln der Kooperation zu nehmen;
  • alle Beteiligten insofern gleich sind, als sie dies zu einem vergleichbaren und vertretbaren Preis tun können; d.h. dass der Preis dafür, die Kooperation zu verlassen bzw. die eigenen Kooperationsleistungen einzuschränken oder unter Bedingungen zu stellen, für alle Beteiligten ähnlich hoch (oder niedrig), aber auf jeden Fall zumutbar sein muss."
(Spehr 2000)

Kooperation scheint jedoch den Zweck des Kooperierens in den Mittelpunkt zu stellen und nur noch zu fragen, wie die Individuen sich ihr gegenüber verhalten können (sie mit gestalten oder verlassen). Angesichts des oben begründeten Ausgangspunktes von der individuellen Selbstentfaltung bevorzuge ich statt "Kooperation" das Wort "Vereinbarung". Freie Vereinbarungen setzen voraus, dass niemand zum Mittel für die Zwecke anderer gemacht werden kann. Intersubjektivität statt Instrumentalisierung! (Gruppe Gegenbilder, S. 47)

3.2.3. Freie Softwarebewegung als Beispiel

Ich kann viele Beispiele aus der politischen Praxis anführen, in denen die obigen Prinzipien bereits weit verbreitet sind. Kulturelle und politische Erfahrungen mit dezentralen Vernetzungen, Bewegungen "von unten" usw. liegen bereits in großem Maße vor und sind in entsprechender Literatur oftmals ausgewertet worden (auch Schlemm 1999). Die meisten theoretischen Konzeptionen bezogen sich jedoch beinahe nur auf politisch-kulturell-psychologische und näherten sich so gut wie gar nicht den materiellen Lebensgrundlagen und der zentralen menschlichen Tätigkeit: der materiellen Reproduktion und Produktion. Lediglich aus den ökologischen Erfordernissen heraus wurde die Forderung nach Dezentralisierung und auch Deindustrialisierung erhoben. Die Gedanken zur Wirtschaftsdemokratie, zu Räten in der Produktion, die es noch in den 20er Jahren gab (Korsch), wurden nicht mehr aufgegriffen. Es fiel auch kaum jemandem auf, dass das Demokratieproblem in den realsozialistischen Ländern eng mit der zentralistischen Produktionsstruktur, aber nicht nur in Form der Planwirtschaft, sondern auch zentralisierender technischer produktiver Mittel zusammen hing.

Es stand nun die Frage, ob im Interesse von mehr Selbstentfaltung der arbeitenden Menschen und der Anwendung ökologischerer Prinzipien, die Dezentralität fordern (vgl. Vester), eine dezentralere Organisationsstruktur der Produktionsorganisation möglich sein könnte, ohne in dörflich-handwerkliches "Klein-Klein" mit entsprechend hohem Arbeitsaufwand zurückzufallen. Ob dies in den früheren Jahrzehnten bereits möglich gewesen sein könnte, möchte ich hier offen lassen. Es wäre jedoch sehr nachlässig, die diesbezüglichen aktuellen Trends nicht zu beobachten. Wir sehen, dass zwar die Kapitalmacht verstärkt konzentriert wird – die Produktionsorganisation sich jedoch von zentralistischen großen Fabriken in Richtung dezentral-vernetzter selbständiger Einheiten entwickelt. Flexible Produktionsmittel und dezentrale Steuerungssysteme – natürlich auf Basis der Nutzung des Intra- und Internet -werden eingesetzt. Ausgerechnet dabei wird ziemlich erfolgreich auf eine neue Art und Weise der Nutzung menschlicher Arbeitskräfte gesetzt: ihre Kreativität, Flexibilität und ihre Kommunikations- und Teamfähigkeit. Ihre Selbstentfaltungsbedürfnisse werden angezapft – und gleichzeitig begrenzt und eingeschnürt durch die Kanalisierung in Richtung Rentabilität und Profitabilität.

Dieser Begrenzung ist nur zu entkommen durch einen Sprung aus der allgemeinen Verwertungssphäre heraus. Nicht für Profit, gar nicht mal für einen anonymen Markt und doch nutzenbringend, mit hoher Qualität – und all dies geht von den Selbstentfaltungsinteressen der beteiligten Menschen aus, die sich in freien Vereinbarungen zusammen tun, um ihren Interessen nachzugehen. Eine Utopie? Nein: im Bereich der Freien Softwareentwicklung wird dies bereits realisiert. Einfach so – ohne gesellschaftspolitisches revolutionäres Ziel, sondern aus den Interessen heraus, gute Software selbst schreiben zu wollen und sie dann anderen zur Verfügung zu stellen. Die Kooperation beruht nicht einmal auf Tausch, auch keinem "gerechten", sondern jede gibt, was sie will und jede nimmt, was sie braucht...

Es gibt in der Freien Software-Szene Vertreter verschiedener Denkweisen. In der Open Source Initiative (OSI) von Eric S. Raymond und Bruce Perens wird versucht, die Freie Software wieder in die normalen Verwertungszyklen einzubinden (Meretz 2000, S. 32). Das stört die anderen aber so lange nicht, wie Software nicht prinzipiell patentiert werden kann. Die Freie Software beruht auf einem Unterlaufen des Copyrights, indem sie einer Lizenz unterworfen wird (General Public Licence: GPL), die eine Reprivatisierung und Rekommerzialisierung Freier Software und der jeweiligen Weiterentwicklungen verbietet und den Quelltext immer offen, veränderbar hält. Diese Freie Software ist nicht nur gut, weil eben Linux besser ist als Windows – sondern ihre Produktionsweise verkörpert jene Prinzipien, die wir oben nannten und für die wir im Produktionsbereich noch keine Entsprechung sahen. Jetzt haben wir eine. Sie bezieht sich zwar derzeit primär auf immaterielle Gegenstände, die beliebig digital kopierbar sind und insofern nicht der Knappheit unterliegen, die für die volkswirtschaftliche Produktion (warum eigentlich?) ständig unterstellt wird. Das Argument jedoch, komplexe Produkte, die eine starke Arbeitsteilung brauchen, ließen sich nur zentralistisch planen und organisieren, ist jedoch außer Kraft gesetzt. Und die Formen, wie sich die Beteiligten an konkreten Projekten selbst organisieren, sind wiederum nicht fest vorgegeben, sondern können jeweils von den Beteiligten frei ausgehandelt werden (eins davon ist das Maintainerprinzip, wie wir es auch im Projekt OpenTheory – www.opentheory.org – verwenden).

Deshalb kommt es gar nicht so sehr darauf an, dass manche der in der Freien Softwarebewegung entstandenen Produkte sich nicht durchsetzen, oder sie mittlerweile sogar vom Kommerz und Regierungen verwendet werden – sie setzen ein neues Modell, sie zeigen eine Freie Gesellschaft in ihren Organisationsprinzipien – die auf der individuellen Selbstentfaltung und Freien Vereinbarungen basieren und nicht mehr abgehobenen "Sachzwängen" oder Planungshoheiten.

3.3. Freie Gesellschaft und Feminismus

Entsprechend den eben diskutierten neuen Ansätzen sind die bestimmenden Momente einer freien Gesellschaft "individuelle Selbstentfaltung, kollektive Selbstorganisation, globale Vernetzung und wertfreie Vergesellschaftung" (Meretz 2001).

Sie treffen sich mit Forderungen aus der Geschlechterproblematik. Die "Abschaffung von Macht- und Abhängigkeitsverhältnissen" (Schmollack 1993) steht sowieso im Mittelpunkt und eine "Vermenschlichung der Geschlechter" (ebd.) ermöglicht die Orientierung auf Selbstentfaltung und Freie Vereinbarungen von vornherein. Auf jeden Fall haben sich die Frauen dabei "ihre Unabhängigkeit zurückerobert" (Athenäum). Fast identisch ist die eben ausgeführte Vorstellung mit der Meinung von Jutta Ditfurth: "Soziale Utopie ist, einen Zustand zu erreichen, indem die Forderung nach Gleichheit überflüssig wird, weil der Mensch, der alle Möglichkeiten hat, sich in einem Gemeinwesen zu entfalten, nicht einem anderen gleich sein muß, sondern individuell so unterschiedlich sein kann, wie sie und er will." (Ditfurth 1995)

Dies gelingt aber nur, wenn nicht eine Rückkehr zu vorkapitalistischen Lebens- und Wirtschaftsformen ins Auge gefasst wird (was letztlich die Konsequenz einer radikalen Subsistenzperspektive aus ökofeministischer Sicht wäre), sondern die Lebens- und Wirtschaftsweise auf noch umfassendere Weise umgewälzt wird: Selbstentfaltung als zentraler Faktor des Lebens und Impuls seiner Entwicklung umfasst den ökologischen Aspekt ebenso wie den unterschiedlicher kultureller oder ethnischer Selbstbestimmungen. Der Horizont der Veränderung ist nicht eine Reduktion des Gesellschaftlichen auf lediglich kooperative Interaktionen in Gemeinschaften – sondern eine Neugestaltung auch der überindividuellen Strukturen der Gesellschaft selbst. Es wird dann nicht mehr eine gleiche Ausbeutung in der Lohnarbeit geben, sondern keine Ausbeutung in keiner Lohnarbeit. Auch jegliche strukturelle Benachteiligung ist aufgehoben, weil die Selbstentfaltung jedes Individuums im Mittelpunkt steht und die gesellschaftlichen-kooperativen Strukturen frei vereinbart sind. Auch die Kinderbetreuung wird in solchen Vereinbarungen selbst bestimmt (und wir wollen dafür keine perfekte Lösung vorab festlegen). Es muß jedoch z.B. auch gesichert werden, dass jede Frau jederzeit das Recht hat "gehen zu können", d.h. sich nicht unbedingt fürs selbst geborene Kind verantwortlich fühlen zu müssen.

Allerdings haben wir hiermit erst eine Aufgabe erledigt. Wir wissen, inwieweit die Orientierung auf die individuelle Selbstentfaltung Parallelen in den Zielvorstellungen allgemeiner Konzepte und vieler feministischer Konzepte übereinstimmt (einige feministische Konzepte wie Ökofeminismus haben eher die Tendenz das Individuelle gegenüber den ökologischen Notwendigkeiten zurückzustellen; oder wie der Radikale Feminismus die Identität "weiblicher" Individuen auf ihr Frau-Sein festzulegen).

Diese Zielbestimmung kann jedoch noch keine ausreichende Orientierung für das Handeln geben – denn dazu brauchen wir noch die Bestimmung dessen, woher wir kommen, aus welchen Bedingungen heraus wir dieses Ziel erreichen wollen.

Sehen wir nicht alle strukturellen Hindernisse auf diesem Weg, wird unsere Strategie zu kurzschlüssig. Sie wirken dann besonders angesichts der Expansion des global-neoliberalen Kapitalismus recht hilflos und können den Niedergang der Neuen Frauenbewegung nicht aufhalten. Frauenpolitische Forderungen, die quasi als Randkorrektur an die überbordende Ausbreitung der Herrschaft der Wertverwertung herangetragen werden und schließlich in Form formaler Gleichstellung in der Unterwerfung münden, sind wohl geeignet, einige wichtige Schutzmaßnahmen zu realisieren – aber sie haben keine positiv mobilisierende Wirkung mehr. Die postmoderne Hervorhebung der Individualisierung wirkt unter den gegebenen Bedingungen nicht etwa befreiend, sondern läuft parallel mit den neuen Unterdrückungsformen: der Auflösung kollektiver Strukturen, "privilegierter" Lohnarbeitsverträge und der Entstehung vereinzelter "Kleiner Selbstständiger" in der ganzen Welt. Diese Konzepte nehmen die vom Globalisierungsprozeß ausgehenden strukturellen Zwänge innerhalb des kapitalistischen Systems nicht als solche ernst, und es klingt bei ihnen oft so, als handle es sich dabei eher um eine bloße Ideologie des Kapitals und der politischen Klasse. (nach Scholz 2000, S.161)

4. Eine Feministische Ökonomie im Vergleich mit Oekonux
Diskussion dieses Teils unter:
http://www.opentheory.org/femoekonomie

Ich finde in den in Oekonux diskutierten Vorstellungen über eine nichtkapitalistische Gesellschaft auch jene Forderungen wieder, die von Carola Möller als "Feministische Ansätze zu einer alternativen Ökonomie" (Möller 1996) vorgestellt wurden. Es geht um ein "basisdemokratisch organisiertes bedarfsorientiertes vorsorgendes Wirtschaften". Interessant ist eine unbeabsichtigte Paralellität der Beschreibungen des neuen Wirtschaftens: Carola Möller spricht von der Arbeit für das "gemeinsame Eigene" und bei Ökonux geht die Redewendung vom "gemeinsamen Eigeninteresse". Die in Ökonux zusätzlich vorausgesetzte globale Vernetzung (bei Beibehaltung der Selbst-Organisierung "von unten") fügt diesem bisher aufs Regionale beschränkten Konzept eine weitere notwendige Dimension hinzu. Obwohl in den Ökonux-Diskussionen tatsächlich quantitativ sehr viel mehr Männer diskutieren als Frauen, treffen auf sie die Kritikpunkte von Carola Möller an den üblicherweise von Männern erzeugten Konzepten nicht gut zu:

  • "Linke Männer konzentrieren sich weiterhin auf die Lohnarbeit. sie ist für sie der Ansatzpunkt für die Aufhebung kapitalistischer Produktionsverhältnisse." – Nein, Ökonux stellt nicht nur die Lohnarbeit in Frage, sondern jegliche abstrakte Arbeit und die damit verbundene Wert-Abspaltung (nach Scholz). Entsprechend Oekonux verzichten Freie (Re-)Produzenten sogar auf einen Äquivalentenaustausch, dem ja auch (üblicherweise als typisch "männlich" konnotierte) Identifikationen von qualitativ Unvergleichbarem zugrunde liegen.
  • "Sie fragen nicht nach der Funktion der unbezahlten Arbeit fürs Kapital" – Mit der radikalen Kritik an der Wert-Vergesellschaftung, inclusive der Wert-Abspaltung, ist diese unbezahlte Arbeit selbst mit enthalten und ihre Aufhebung in dieser Form ist integraler Bestandteil des Konzepts (wenn auch bisher zu wenig expliziert).
  • "Männer-Vorschläge bleiben auf der Ebene der "Systemreparatur" – Nun, genau das bleibt Ökonux in keinster Weise. Kein anderes Konzept – auch jene der "bedarfsorientierten Wirtschaft", der "Gemeinwesenwirtschaft" etc. nicht – stellt die Vergesellschaftung auf Grundlage des kapitalistischen Wertverhältnisses so konsequent in Frage, wie Oekonux.
  • "Sie thematisieren nicht den Zusammenhang und das Zusammenspiel der verschiedenen Einflusssphären: Wirtschaft, Staat, Sozialpolitik, Umwelt, Machthierarchien, Kultur, Geschlechterpolitik, Gesetze, Normen und Kultur im weitesten Sinne" – nun, wir thematisieren alles, was unsere Beteiligten thematisieren wollen. Das betraf bisher fast alle der eben genannten Sphären in verschiedenster Weise.
  • Männer sind unfähig, bzw. nicht bereit "Wirtschaften von der Reproduktion her zu denken statt von der Produktion" . Das ändert sich spätestens mit Ökonux: Die hier entwickelten Vorstellungen gehen prinzipiell davon aus, dass die individuelle Selbstentfaltung (im richtig verstandenen Sinne) Ausgangspunkt aller Produktion ist – damit auch die Reproduktion und Produktion entsprechend den Bedürfnissen. Dabei werden die Bedürfnisse noch nicht einmal eingeschränkt auf "notwendige und wünschenswerte" Bedürfnisse wie bei Carola Möller, denn welche Instanz sollte diese festlegen dürfen?
Hier zeigen sich dann auch Differenzen: Ausgangspunkt bei Oekonux ist die Selbstentfaltung menschlicher Individuen. Vielleicht finden manche Feministinnen hier wieder einen Kritikpunkt, weil sie in dieser Selbstentfaltung das "typisch männliche" Transzendenzbestrebungen wieder finden. Tatsächlich - dies ist hier vorausgesetzt: für alle Menschen, jedes Individuum, unabhängig vom Geschlecht. Nicht die Reproduktion von Gesellschaft oder Gemeinwesen ist das Ziel, dem sich die Menschen unterzuordnen hätten. Bedürfnisse nach ökologischer Intaktheit gehören zu den Selbstentfaltungsbedürfnissen immanent dazu, müssen nicht zusätzlich ins System gebracht werden (durch eine Instanz, die über die "Richtigkeit" der Bedürfnisse entscheidet). Über "Kostendeckung" wird in Oekonux wenig nachgedacht, weil eine Selbstentfaltungs-Wirtschaft schon immer eine Mehrproduktwirtschaft sein wird und prinzipiell keine Kosten mehr quantifiziert werden können. Das "Vorsorgeprinzip" ist ebenfalls immanent in der menschlichen Bedürfnisstruktur enthalten und braucht nicht "von außen" an die ihre eigenen Bedürfnisse im Rahmen der Selbstentfaltung (und Reproduktion natürlich) selbst-organisierend befriedigenden Menschen und ihre Kooperationsbeziehungen gebracht werden. (Mehr dazu in: Oekonux – die etwas andere Alternative Ökonomie). Wie sie sich immanent umsetzen, ist allerdings durchaus eine interessante Frage, für die es noch wenig Erfahrung gibt. Wir bleiben gespannt...

Die Anspruch nach einer vor allem von Frauen geforderten "radikalen Um- oder Neubewertung von Arbeit aus der Sicht der Reproduktion des Lebens" (Behrend 2000) bedeutet, den ursprünglichen Zweck der Arbeit, Mittel zum Leben hervorzubringen (Braun 1998, S. 31) – gegenüber der selbstzweckhaften Warenproduktion wieder einzusetzen. Während Anneliese Braun dies nur innerhalb des real existierenden Kapitalismus auf Grundlage einer weiterentwickelten sozialen Grundsicherung denken will (Braun 1998, S. 160) – setzt Oekonux voraus, daß eine solche Zweckumkehr prinzipiell nur außerhalb der Wert-Vergesellschaftung möglich ist. Nach Braun soll jede/r gegen Leistung ihres/seines Anteils an der notwendigen Reproduktionszeit, welche die notwendige Reproduktion und die Produktion notwendiger Mittel beinhaltet, Anspruch auf Existenzsicherung haben. Hier reproduziert sich die Leistungsgesellschaft – "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen". Wer also seine notwendige Reproduktionsarbeit nicht geleistet hat, hat keinen Anspruch auf Existenzsicherung? Im Oekonux-Konzept gibt es keinen erpresserischen Zwang zur Arbeit mehr – weder zur Produktions- noch zur Reproduktionsarbeit. Gerade hier steht der ursprüngliche "Zweck der Arbeit, Mittel zum Leben hervorzubringen", im Mittelpunkt – weil jede einzelne Person selbst entscheiden, was sie wann zur Reproduktion und Produktion beitragen will und wird und welche Vereinbarungen sie dazu mit anderen trifft. So utopisch dies klingt: das ursprüngliche Ziel, "von der Reproduktionsarbeit aus" zu denken, verlangt eben eine völlig andere Vergesellschaftung als die vorherrschende kapitalistische, die auf Erzwingung der Arbeitsleistung beruht, oder auch eine sozialistische "Leistungs"gesellschaft. Das Hereinnehmen der Reproduktionstätigkeit in die politökonomische Be-"Wert"ung vermag ihr einen Lohn zu verschaffen – aber nicht die gesellschaftlichen Strukturen zu verändern, welche die Reproduktion gegenüber der Kapitalakkumulation prinzipiell vernachlässigen. Nicht die "Vergesellschaftung des Lebens" (Behrend 2000) auf weiterhin kapitalistischer Grundlage darf unsere Forderung sein, sondern die Abschaffung der kapitalistischen Vergesellschaftungsform auf der Basis des ökonomischen Wertgesetzes.

5. Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun?

Diskussion dieses Teils unter:
http://www.opentheory.org/huehnerdollar

Diese Frage ist ein Ausgangspunkt der Untersuchungen von Claudia von Werlhof über den Zusammenhang von Kapitalismus und der spezifischen Unterdrückung von Frauen und der Titel eines ihrer Bücher (Werlhof 1991) Sie kritisiert die traditionelle marxistische Theorie über den Kapitalismus wegen ihrer Blindheit für die Geschlechterspezifik:

"Nur ein Drittel der Arbeit auf der Welt wird von Männern gemacht. Sie erhalten dafür 90 Prozent aller Einkommen und besitzen 99 Prozent aller Produktionsmittel... was diesen Kapitalismus vor allen anderen Produktionsweisen in der Geschichte ja angeblich so kennzeichnet, ist die Lohnarbeit... Entweder leben wir gar nicht im Kapitalismus... oder der Kapitalismus ist anders, als wir bisher geglaubt haben." (Claudia v. Werlhof, S. 194)
Claudia von Werlhof betont, daß im Kapitalismus die Produktion nicht nur warenförmiger wird, sondern eine neuartige geschlechtliche Arbeitsteilung entsteht (Werlhof 1991, S. 53). Sie nennt diesen Prozeß "Hausfauisierung":
Die "Die Frauen werden zu "Hausfrauen" definiert, damit all ihre Arbeit, sei sie zur Subsistenz, sei sie direkt für den Markt, gratis bleiben kann, so als wären sie über den Lohn des Ehemannes "versorgte" Nur-Hausfrauen." (S. 71).
Sie produzieren laut v. Werlhof zwar Waren, gelten aber weiter als Subsistenzproduzentinnen (S. 73). Als solche tragen sie zum Mehrwert bei, was in der traditionellen marxistischen Theorie vergessen wird. Schon Rosa Luxemburg sah die Mehrwertproduktion nicht auf die Arbeiter beschränkt, sondern verwies auf die Permanenz der "ursprünglichen" Akkumulation, die weiterhin bei der Ausbeutung anderer Länder und Gesellschaftsschichten realisiert wird.
Berechtigt verweist v. Werlhof darauf hin, daß die Subsistenzproduktion nicht nur ein Überbleibsel vorkapitalistischer Produktionsweisen ist, sondern "selbst Produkt der modernen Entwicklung" (S. 55). Subsistenz- und Warenproduktion werden getrennt, tendenziell wird die Subsistenz- immer mehr zur Warenproduktion – aber die Warenproduktion beruht auf der kostenlosen Produktion und Aneignung des weiblichen Arbeitsvermögens. Worin besteht die Besonderheit der Frauen- und bäuerlichen Arbeit? Ihre Produktionsmittel (Boden und Uterus) hängen noch von Naturkräften ab. "Die Produktion in diesem Bereich mußte daher unter dem allgemeinen Blickwinkel der Kapitalverwertung organisiert werden, aber in unterschiedlicher Form und getrennt vom Rest der übrigen gesellschaftlichen Produktion." (S. 95). Zur Aneignung dieses zusätzlichen Mehrwerts wird nicht der wertvermittelte Tausch verwendet - sondern Formen wie Kreditvergabe, Bindung an Produktionsmittel bis hin zu neuer Sklaverei). Claudia von Werlhofs Lösung wäre, diese Frauen- und bäuerliche Arbeit mit in die Warenökonomie hineinzunehmen, sie als wertschöpfend anzuerkennen. Damit jedoch bleibt sie innerhalb der verhängnisvollen kapitalistischen Vergesellschaftung über verselbständigte ökonomische Wertverhältnisse gefangen...

6. Wert-Abspaltung

Das folgende Konzept geht auch davon aus, daß die vor allem Frauen zugewiesenen Tätigkeiten nicht innerhalb des ökonomischen Wertverhältnisses stehen. Es will sie jedoch dem nicht noch unterwerfen, sondern alle gesellschaftlichen Verhältnisse, die vom ökonomischen Wertverhältnis beherrscht werden, aufheben. Die nicht direkt dem Wert zugeschriebenen Anteile der kapitalistischen Vergesellschaftung werden hier als "abgespaltene" beschrieben - nicht direkt aus dem Wertverhältnis ableitbar – aber mit ihm in einer einheitlichen (totalitären) Vergesellschaftungsform vermittelt.

Menschliches Leben ist immer gesellschaftlich – die Formen der Vergesellschaftung werden durch die Menschen (bisher eher unbewusst) verändert. Die kapitalistische Vergesellschaftungsform ist aber erstens dadurch gekennzeichnet, dass in ihr die ökonomischen Beziehungen (dem Wertgesetz unterworfen) alle anderen Bereiche beherrschen, wie nie zuvor. Zwar betonen die traditionellen MarxistInnen die Notwendigkeit der Betrachtung materieller und ökonomischer "Basis"-faktoren auch für die nichtkapitalistischen Gesellschaftsformen – aber in keiner wurde die Ökonomie derart dominant für alle Lebensbereiche. Diese Dominanz ist verbunden mit der Kapitalform des marktvermittelnden Geldes. Die gesamte Gesellschaft wird zum Vehikel zum "Mehrwerthecken" (Kapital = mehrwertheckender Wert). Alle Teilbereiche, alle Lebensäußerungen werden an dieser Art "Rentabilität" gemessen – oder abgespalten. Ohne Profit dreht sich nichts mehr in der globalisierten Welt... Zweitens entwickelte sich auch erst im Kapitalismus jene Vorstellung von Zweigeschlechtlichkeit, die wir seither kennen und fälschlicherweise auch oft auf vorkapitalistische Zeiten übertragen. Auch vorher wurde das Mensch-sein weitestgehend mit dem Mann-sein identifiziert. Die Frau war dann eher ein "unvollkommener" Mann. Als eine solche Person wurde sie noch nicht ausschließlich als Hausfrau und Mutter definiert, sondern sie hatte ihren eigenen Verantwortungsbereich und der weibliche Beitrag zur materiellen Reproduktion wurde durchaus geschätzt. Die Frau war weniger als Sexobjekt begehrt, als wegen praktischer Tüchtigkeit geschätzt. Patriarchal waren die Verhältnisse nichtsdestotrotz. Für das Patriarchat im Kapitalismus sind diese Vorformen historische Vorläufer – ihre Qualität ändert sich jedoch grundsätzlich. Gerade weil die gesamte Gesellschaft dem Ziel des Mehrwertheckens unterworfen wird, rücken jene Prozesse, die sich dem nicht unterwerfen lassen, in eine "andere Hälfte". Sie werden abgespalten.

Die eben genannten Punkte "erstens" und "zweitens" hängen unmittelbar miteinander zusammen. Daß der Kapitalismus mit spezifischer geschlechtlicher Unterdrückung irgendwie zusammen hängt, ist ja kaum bezweifelt. Was ist nun das Besondere an der Wert-Abspaltungs-These?

Das Abspaltungstheorem besagt im Kern, daß die Warenform als solche eine geschlechtliche Besetzung und Voraussetzung aufweist: alles, was an sinnlicher Welt des Menschen in dieser Form nicht aufgehen kann, wird als weiblicher Lebenszusammenhang von der Form und den Prozessen abstrakter Ökonomisierung der Welt "abgespalten", wodurch sich die Warenform gleichzeitig als männlich besetzt erweist. Die Abspaltung eines weiblichen Lebenszusammenhangs, der für die wertförmig nicht erfaßbare Seite des menschlichen Lebens "zuständig" ist, wird so zur "Bedingung der Möglichkeit" für die Entfesselung der Warenform – und die von der kapitalistischen Produktivkraftentwicklung blind erzeugte Möglichkeit einer weiblichen Rollendistanz somit zum Krisenmoment der Warenform als solcher. (Kurz 1992)

Das heißt:
"Das warenproduzierende Patriarchat kann nicht existieren, ohne dass bestimmte Tätigkeiten und Verhaltensformen wie "Liebe", Hege, Pflege usw. in Bereiche "abgeschoben" werden, die der Wertlogik mit ihrer Moral von Konkurrenz, Profit, Leistung usw. entgegengesetzt sind – also in den Reproduktionsbereich, die Privatsphäre, die Familie, und die dabei gewissen Personen zugewiesen werden, nämlich den Frauen, die diese dem "Wert" entgegengesetzten Eigenschaften besitzen, bzw. denen sie zugeschrieben werden." (Scholz 2000, S. 114)

Diese Abspaltung ist nicht identisch mit der "Hausfrauisierung" von Claudia von Werlhof. Bei v. Werlhof produzieren die Frauen in Wirklichkeit durchaus Waren – sie gelten aber weiterhin als Subsistenzproduzentinnen (Werlhof 1991, S. 73). v. Werlhof meint, die Frauen produzierten in Wirklichkeit doch "Werte" .
"Solange Frauenarbeit als nicht nur außerhalb der Wertbestimmung, sondern auch als außerhalb der Warenproduktion, ja sogar als außerhalb der Warenökonomie gedacht wird, wird sie doch überhaupt geleugnet und zur "Naturkonstante" degradiert!" (v. Werlhof 1991, S. 192)
Von Werlhof reduziert also selbst alles nicht lediglich Natürliche ausgerechnet auf ökonomische Werte innerhalb einer Warenökonomie. Entweder wert-kapitalistisch oder "aufs Natürlich degradiert". Sie steckt damit selbst im Fetisch des Werts und der Warenproduktion. Auf der Ebene der Erscheinungen stimmen Werlhof und Scholz überein: Der Kapitalismus basiert auf – Frauen zugewiesener – Reproduktion, die innerhalb der Wertökonomie nicht auftaucht. v. Werlhof sieht eine angemessene Betrachtung darin, diese "unsichtbare" Tätigkeit dadurch zu erfassen, daß auch ihr Wert zugeschrieben wird. Scholz erfasst sie dadurch, daß sie das Verständnis von Kapitalismus erweitert und als Einheit von Wert und Wert-Abspaltung versteht.

Nicht nur auf der Ebene der soziologischen oder kulturell-symbolischen oder psychologischen Erscheinungen ist die Herrschaft des Wertes und die Notwendigkeit der Wert-Abspaltung verwurzelt, sondern durch das Verhältnis Wert-Wertabspaltung wird das Ganze der Gesellschaft konstituiert. Dabei erhält das mit der abstrakten Arbeit verbundene Werthafte die Form, die (z.B. im traditionellen Marxismus und der traditionellen Wertkritik) begrifflich und logisch rekonstruierbar ist – das Abgespaltene jedoch entzieht sich dieser Form und Begrifflichkeit. Es macht auch wenig Sinn, diese Bestandteile in die Wert-Begrifflichkeiten hineinzunehmen, wie etwa aus der Beziehungspflege "Beziehungsarbei" zu machen. Damit würde der Situation nicht Rechnung getragen, dass die Totalität (Gesamtheit) des Kapitalismus diese Totalität nicht in einer Unterordnung von allem nur unter das Wert- bzw. Kapitalverhältnis gegeben ist – sondern sein Gesamtes durch beides: den Wert (dem Kapitalprinzip, der Abstraktion etc. Unterworfene) und das notwendigerweise Abgespaltene gegeben ist.

Das Abgespaltene ist weder identisch mit einem bloßen "Rest", sondern stellt einen notwendigen Bestandteil des patriarchal-kapitalistischen Ganzen dar. Es ist auch nicht nur das "Nicht-Identische", das sich bei Adorno der Identifizierung entzieht – wirkt dem "normalen Kapitalismus" nicht entgegen, sondern ist sein zweites Standbein. Es ist auch nicht einfach durch den Gebrauchswert gegenüber dem Wert gegeben – sondern der Gebrauchswert selbst bleibt als ökonomische Kategorie in der Wertsphäre und lediglich der Konsum von Gebrauchsgütern ist abgespalten. Deutlich wird die Bedeutung dieses Abgespaltenen – und auch unsere typische Blindheit dafür – z.B. daran, dass bisher kaum jemand die Unentbehrlichkeit der Frauen bei der Kriegsführung erkannt hat. "Ohne die Reproduktionsarbeit der Frauen hätte keine Armee marschieren können." (Utrio 1987, S. 430)

Wert
Wert-Abspaltung
  • Wert
  • Ware – abstrakte Form
  • Begriffliches und Logisches in der Theorie
  • (lohn/abstrakt) arbeitsbezogen
  • Wert und Gebrauchswert als ökonomische Kategorien
  • dunkle Kehrseite des Werts selbst (nicht nur das "Nicht-Identische" Adornos)
  • Formlosigkeit
  • "Nichtlogisches" und "Nichtbegriffliches"
  • nicht-warenförmig vermittelte Tätigkeiten (Konsum, Zuwendung, Betreuung...), keine Unterscheidung von verpflichtende Tätigkeit und existentieller Lebensäußerung (Scholz 2000, S. 20)
  • z.B. Konsum des Gebrauchswerts (als abgespaltenes Tätigkeitsmoment)

All diese Bestimmungen klingen vielleicht etwas haarspalterisch. Aber nur durch diese Genauigkeit wird deutlich, was das Besondere der Wert-Abspaltungsthese gegenüber anderen z.B. marxistischen Konzepten oder Konzepten, die alle Unterdrückungsverhältnisse in ihrer Bedeutung gleichsetzen (wie wir es oben in der Konsequenz erhielten) ist.

Was ist daran das Besondere gegenüber den anderen Kapitalismustheorien

Die Wertabspaltung ist nicht das "Zweite", eine bloße Folge der Herrschaft des Kapitals. Das Ganze der Gesellschaft wird nicht allein durch die Wert-Vergesellschaftung bestimmt und die Abspaltung des geschlechtlich besetzten Anderen wäre eine bloße Ableitung. Nein, das Ganze der Gesellschaft ist gerade die Vermittlung zwischen Wertaspekten und Abgespaltenem. Das heißt: Wert ohne Abgespaltenes gibt es nicht. Auch wenn es scheint, als sauge der reale Kapitalismus global und neoliberal die allerletzten Lebenstätigkeiten in seine Verwertungsmaschinerie – er braucht immer auch das Nichtwertförmige (als "Bedingung seiner Möglichkeit"). Abgespaltenes ohne Wert gibt es auch nicht –insofern ist eben auch alles, wie Geschlechtsverhältnis etc. qualitativ hier durch das Wertverhältnis als sein Anderes vermittelt – und nicht dasselbe wie in den vorigen Gesellschaftsformen.

Dies zeigt sich theoretisch daran, dass ein nur das Wertverhältnis fassendes Konzept zu eng ist.

"Nun geht es... mir darum, dem, was für die gesellschaftliche Reproduktion notwendig ist, und entscheidend das hierarchische Geschlechterverhältnis betrifft, dem aber mit Kategorien wie Ware, Wert, Warenproduktion etc. nicht beizukommen ist, dennoch theoretisch Rechnung zu tragen..." (Scholz 2000, S. 83) Die Wertabspaltung ermöglicht eine Wahrnehmung und Repräsentation dessen, was gegenüber der Wertform prinzipiell eine Eigenqualität behält (und deshalb auch nicht unter eine Wertform wie Arbeit, z.B. als "Hausarbeit" zu pressen ist).

Für mich bekommt die Wert-Abspaltung deshalb eine besondere Bedeutung, weil sie nicht nur einen feministischen "Anbau" an eine ansonsten unveränderte Theorie ergibt, sondern einen "anderen Begriff des Ganzen" (Scholz 2000, S. 174).

Besonderheit gegenüber den früheren Patriarchaten

Oft wird ja betont, dass das Patriarchat älter sei als der Kapitalismus und deswegen fundamentaler als Unterdrückungsverhältnis. Hier betonen wir die qualitativen Unterschiede patriarchaler Unterdrückungsformen. Bis in das 18. Jahrhundert hinein gab es unterschiedliche Menschen, welche, die als höherstehend und welche, die als niederstehend betrachtet wurden. Unter anderem fanden sich Personen mit biologisch weiblichem Geschlecht tatsächlich eher auf den niederen Stufen wieder. Eine strikte gegensätzliche Definition von "Mann" und "Frau" entstand jedoch erst im 18. Jahrhundert. Woher kommt das? Warum müssen sich Individuen... eigentlich als Männer und Frauen konstituieren? (Scholz, S. 116). Eine Trennung von Privatem und Öffentlichem gab es bereits mindestens seit der griechischen Polis. Das Wirtschaftliche wurde dort allerdings dem Privaten zugeschrieben – "Oikos" war ganz allgemein der Haushalt, in dem auch die Frau eine anerkannte Funktion hatte (Arendt) . Im 18. Jahrhundert, nicht zufällig mit der Entstehung der Wertvergesellschaftung/des Kapitalismus, wurde Wirtschaft zum öffentlichen Bereich und der private Bereich veränderte sich qualitativ und erhielt jenen Inhalt, den wir ihm heute zuschreiben (Scholz 2000, S. 113). "Die Stellung der Frau in der Familie wurde hervorgehoben, während sie sich andererseits immer weniger am öffentlichen Leben beteiligen konnte." (Utrio 1987, S. 313).

Das Herausdifferenzieren unterschiedlicher Subsysteme gegenüber dem Gesamtsystem geschieht in besonderer Weise im Kapitalismus. Weder vorher noch nach Überwindung des Kapitalismus gab es oder wird es diese Form der geschlechtlichen Abspaltung geben.

Besonderheit gegenüber den anderen Unterdrückungsverhältnissen

Viele SystemtheoretikerInnen behaupten, in der neueren Systemtheorie wären die Subsysteme lediglich schwach aneinander gekoppelt und letztlich wäre die Gesellschaft die Summe dieser – einander prinzipiell gleichberechtigten – Subsysteme. Diese Annahme teilen wir nicht, sondern gehen davon aus, dass wirklich fast alle Subsysteme durch das wesentliche Verhältnis des Kapitalismus – die Strukturierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse durch das Wertgesetz (also die Wert-Vergesellschaftung) bestimmt sind. Allerdings unterscheidet sich das Private von den anderen Subsystemen und Sphären (Wissenschaft, Recht, ...): Es ist die einzigste Sphäre, die sich auch im Kapitalismus nicht aus dem Wertverhältnis ableiten lässt (Scholz 2000, S.113). Sie ist zwar mit dieser Gesellschaftsform verbunden – konstituiert sie aber selbst mit und ist nicht "nur" abgeleitet. Das heißt:
"Gesellschaft ist keine einfache Summe von Funktionszusammenhängen, sondern Wert und geschlechtliche Abspaltung sind grundsätzlicher Formzusammenhang und erst daraus werden die verschiedenen Funktionsbereiche gesetzt, d.h. es strukturiert die Gesellschaft auf grundlegende Weise als Ganze." (Scholz 2000, S. 73, 108)

Und weiterhin:
"Der gesellschaftliche Gesamtzusammenhang bestimmt sich also keineswegs allein aus der fetischistischen Selbstbewegung des Geldes und dem Selbstzweckcharakter der abstrakten Arbeit im Kapitalismus. Vielmehr findet eine geschlechtsspezifische "Abspaltung" statt, die mit dem Wert dialektisch vermittelt ist. Das Abgespaltene ist kein bloßes "Subsystem" dieser Form (wie etwa der Außenhandel, das Rechtssystem oder auch die Politik), sondern wesentlich und konstitutiv für das gesellschaftliche Gesamtverhältnis. Das heißt, es besteht kein logisch-immanentes "Ableitungsverhältnis" zwischen Wert und Abspaltung. Die Abspaltung ist der Wert und der Wert ist die Abspaltung. Beides ist im anderen enthalten, ohne deshalb jeweils mit ihm identisch zu sein. Es handelt sich um die beiden zentralen, wesentlichen Momente derselben in sich widersprüchlichen und gebrochenen gesellschaftlichen Verhältnisses, die auf demselben hohen Abstraktionsniveau erfasst werden müssen. Denn dasjenige, was nicht vom Wert erfasst werden kann, also abgespalten wird, dementiert ja den Totalitätsanspruch der Wertform; es stellt das Verschwiegene der Theorie selbst dar und kann deswegen nicht mit dem Instrumentarium der Wertkritik erfasst werden." (Scholz 2000, S. 18)

Obwohl wir hier von ganz grundlegenden Bestimmungen der Gesellschaftsform ausgegangen sind, hat die geschlechtliche Abspaltung verschiedene Ebenen:

  • materielle Ebene
  • kulturell-symbolische Seite
  • sozialpsychologische Dimension.

Dieses Konzept hat nicht nur deskriptive (beschreibende) Ziele. Es soll helfen, die Bedingungen der Geschlechterkonstitution zu erkennen, um sie aufheben zu können.

"Ziel der Wert-Abspaltungstheorie ist nun gerade diese radikale Aufhebung, das heißt die reale Überwindung von sozialer Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie sich in der patriarchalen Moderne und auch noch Postmoderne darstellen, und damit die Abschaffung der abstrakten Arbeit, der "Hausarbeit", der Familie, der "doppelten Vergesellschaftung" von Frauen und der entsprechenden Geschlechtervorstellungen samt der dazugehörigen psycho-sozialen Konstitution." (Scholz 2000, S. 120)

Damit treffen wir uns wieder bei den in 3. aufgeführten allgemeinen feministischen Zielen – angereichert um eine genauere (obwohl gleichzeitig teilweise abstraktere) Analyse der notwendigen Handlungsebenen.

Literatur:
Arendt, Hannah (1997): Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1997
Beauvoir, Simone de (1968): Das andere Geschlecht , Berlin 1968
Behrend, Hanna (2000): Marxismus - Feminismus: Inkompatibel oder verwandt?
Braun, Anneliese (1998): Arbeit ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Arbeit? , Berlin 1998
Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991
Collins, Patricia Hill (1997): Wie Lila für Lavendel, Womanism und schwarzer Feminismus in den USA. In: blätter des iz3w, Nr. 219, Februar 1997, S. 32-35
Ditfurth, Jutta (1995): Über die Verbindung von antipatriarchalem und antikapitalistischem Kampf. In: ÖkoLinX, 19/20 - 1995, S. 68-72
Feyl, Renate (1981): Der lautlose Aufbruch, Berlin 1981
Gould, Carol, C. (1989): Private Rechte und öffentliche Tugenden: Frauen, Familie und Demokratie. In: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik (hrsg.v. E.List und H. Studer), Frankfurt/Main 1989, S. 66-85
Gruppe Gegenbilder (2000): Freie Menschen in Freien Vereinbarungen - Gegenbilder zur EXPO 2000. Saasen 2000
Holzkamp, Klaus (1985): Grundlegung der Psychologie 1985
Korsch, Karl (1968): Auf dem Wege zur industriellen Demokratie, Frankfurt/Main 1968
Kurz-Scherf, Ingrid (1992): Nur noch Utopien sind realistisch. Feministische Perspektiven in Deutschland. Bonn 1992
Kurz, Robert (1992): Geschlechtsfetischismus. Anmerkungen zur Logik von Weiblichkeit und Männlichkeit. In: KRISIS 12/1992.
List, Elisabeth (1989): Denkverhältnisse. Feminismus als Kritik. In: Denkverhältnisse. Feminismus und Kritik (hrsg.v. E.List und H. Studer), Frankfurt/Main 1989, S. 7-34
Lohschelder, Silke (2000): Anarchafeminismus, Rastatt 2000
Meretz, Stefan (2000): LINUX & Co. Freie Software - Ideen für eine andere Gesellschaft. Neu-Ulm 2000
Meretz, Stefan (2001): Linux und Co. Software- Ideen für eine andere Gesellschaft. Thesen beim spw-Theoriekreis, 9.2.2001 (Mail an liste@oekonux.de)
Möller, Carola (1996): Feministische Ansätze einer alternativen Ökonomie. In: CONTRASTE Oktober 1996, S. 10-11
Mies, Maria (1982): Autonome Frauenbewegung und die Organisationsfrage ( Einleitung). In: Sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis für Frauen e.V. (Hrsg.): Autonome Frauenbewegung und die Organisationsfrage, Dokumentation des Kongresses 11.-13.12.1981 in Köln, Köln 1982
Mies, Maria, Shiva, Vandana (1995): Ökofeminismus, Zürich 1995
Schlemm, Annette (1999): Daß nichts bleibt, wie es war... Band II: Möglichkeiten menschlicher Zukünfte, Münster 1999Schlemm, Annette (2001a): Die spezifische Möglichkeitsbeziehung und Handlungsfähigkeit, in: Internet http://www.thur.de/philo/kp/freiheit.htm (2001)
Schlemm, Annette (2001b): Jeder Mensch ist natürlich gesellschaftlich, in: Internet http://www.thur.de/philo/kp/naturmensch.htm (2001)
Schmollack, Simone (1993): Ich bin keine Barbiepuppe. In: Neues Deutschland vom 7. September 1993, S. 14
Scholz, Roswitha (2000): Das Geschlecht des Kapitalismus, Bonn 2000
Shiva Vandana (1989): Das Geschlecht des Lebens, Berlin 1989
Spehr, Christoph (2000): Gleicher als Andere. Eine Grundlegung der Freien Kooperation. zugleich Beantwortung der von der Bundesstiftung Rosa Luxemburg gestellten Frage: "Unter welchen Bedingungen sind soziale Gleichheit und politische Freiheit vereinbar?", Bremen 2000
Thürmer-Rohr, Christina (2001): Gleiche unter Gleichen? Kritische Fragen zur Geschlechterdemokratie und Gender Mainstreaming In: FORUM Wissenschaft, April 2001, S. 34-37
Utrio, Kaari (1987): Evas Töchter. Die weibliche Seite der Geschichte, Berlin 1987
Vester, Frederic (1984), Neuland des Denkens, München 1984
Werlhof, Claudia v. (1991) : Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun? München 1991


Dieser Text kann abschnittweise kommentiert/diskutiert werden unter
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