Gesetz und Prozess

 

Frank Richter, Freiberg

 

(Erweiterter und überarbeiteter Vortrag auf der Tagung der RSL zum Thema Gesetz und Zufall am 02.02.02 in Leipzig)

 

 

Motto: Aus Michel Houellebecq: Elementarteilchen. List Taschenbuch 2001 (orig. 1998) S. 157/158

 

Als er wieder in seiner Küche war, wurde ihm klar, daß der Glaube an eine vernunftgesteuerte freie Entscheidung in bezug auf das menschliche Handeln ‑ eine der natürlichen Grundla­gen der Demokratie ‑ und insbesondere der Glaube an eine ver­nunftgesteuerte freie Entscheidung im Bereich der individuel­len politischen Parteinahme vermutlich das Ergebnis einer Verwechslung zwischen Freiheit und Unvorhersehbarkeit war. Die Turbulenzen einer strömenden Flüssigkeit in der Nähe eines Brückenpfeilers sind strukturell unvorhersehbar; niemand wür­de aber deshalb auf den Gedanken kommen, sie als frei zu bezeichnen. Er schenkte sich ein Glas Weißwein ein, zog die Vorhänge zu und legte sich hin, um nachzudenken. Die Glei­chungen der Chaostheorie stellten keinerlei Bezug zu dem phy­sischen Medium her, in dem sie ihre Wirkung zeigten; dieser universelle Charakter ermöglichte es, daß sie in der Hydrodyna­mik wie auch in der Bevölkerungsentwicklung, in der Meteoro­logie wie auch in der Gruppensoziologie Anwendung finden konnten. Ihr Vermögen zur morphologischen Modellbildung war gut, doch ihre Voraussagefähigkeit praktisch gleich Null. im Gegensatz dazu erlaubten die Gleichungen der Quantenmecha­nik das Verhalten mikrophysischer Systeme mit hoher Präzision vorauszusagen, und sogar mit vollkommener Präzision, wenn man ganz darauf verzichtete, zu einer materiellen Ontologie zu­rückzukehren. Es war zumindest verfrüht, wenn nicht gar unmöglich, eine mathematische Verbindung zwischen diesen beiden Theorien herzustellen. Michel war jedoch davon überzeugt, daß die Struktur der Attraktoren innerhalb des sich entwickelnden Netzes von Neuronen und Synapsen der Schlüssel zur Erklärung der menschlichen Meinungen und Handlungen war.

 

 

1.      Theoretische Aufgabenstellungen

 

Eben dieses Zitat – hier als Motto genommen – spricht ziemlich genau  die Thematik der genannten Tagung der Rosa-Luxemburg-Gesellschaft an, das ursprünglich mit dem Generalthema Zufall und Gesetz ansetzte und dann aber auch immer mehr in das Fach politische Verantwortung und Geschichtsprozess einmündete. Nur scheinbar handelte es sich dabei um ein Verlassen des Themas, jedenfalls meiner Meinung nach. Die im Rahmen der bekanntlich sehr umstrittenen Entschuldigungen seitens des Vorstandes der PDS (in Bezug auf die Vereinigung von KPD und SPD, den Bau der Mauer 1961 u.a.) setzen ja voraus – insofern sie sinnvoll sein sollen -, dass es sowohl zum betreffenden Zeitintervall eine freie Entscheidung der damaligen Akteure, im Rahmen oder „trotz“ der mannigfaltigen Umwelteinflüsse und persönlichen Biographien, gegeben hat wie auch dass von diesen Zeitpunkten an bis zu uns heute eine nachvollziehbare „Kette“ von Determinationen existiert, die uns immer noch als Teil jenes historischen Prozesses sehen lässt, um dessen politische, ökonomische und moralische Berechtigung noch so intensiv gestritten wird und für den man überhaupt noch Verantwortung übernehmen kann. Das sind aber auch Fragen des Determinismus.

Besondere Brisanz erhält die Problematik offensichtlich auch und gerade dadurch, dass die immer noch in unseren Köpfen existierende - mehr oder weniger offen akzeptierte oder abgelehnte - Vorstellung vom gesetzmäßigen Verlauf jenes Prozesses das Verständnis der Möglichkeit solcher Entschuldigungen zu verstellen scheint.[1]

Müssen wir uns also für die Existenz von Gesetzen entschuldigen (was ja nun paradox wäre), oder vielleicht dafür, dass wir Abweichungen von solchen Gesetzen und also auch so etwas wie Zufälle zugelassen haben? Kann es sein, dass wir existierende Alternativen nicht wahrgenommen haben – und welchen Stellenwert haben solche im Rahmen objektiver Gesetze? Gehören sie zu diesen Gesetzen oder nicht, sind sie also Abweichungen oder Verletzungen von Gesetzen oder gerade wesentliche Inhalte von Entwicklungsgesetzen? Geht es dabei überhaupt um die Gesetze selber oder nicht vielmehr um die realen Prozesse in  der Dialektik von Plan und Verlauf, Gesetz und Zufall, Bedingungen und Entscheidung, Handlungen und Unterlassungen?

 

2. Gesetz, Kausalität und Zufall in der Geschichte

 

Eine Reflexion der Hörzschen Gedanken zu Gesetz, Kausalität und Zufall und deren Übertragung auf gesellschaftliche Vorgänge[2] erscheint sinnvoll, um sich der Problematik nähern zu können.

Natürlich können nur einige Aspekte herausgegriffen werden und ich werde Fragen und Bemerkungen sofort in Klammern anfügen. Hörz betont u.a.:

-         Jedes Ereignis besteht aus einem Komplex von Kausalbeziehungen, eben der Wechselwirkung, in der Ursachen und Wirkungen ihren Platz wechseln. Um das Ereignis in seiner Bedeutung zu erkennen, zu erklären und die Erklärung zur weiteren Gestaltung nutzen zu können, lösen wir aus dem Komplex bestimmte Beziehungen experimentell und theoretisch heraus, die wir Kausalbeziehungen oder Regularitäten und Gesetze nennen. (Frage: Was sind und auf welcher Ebene liegen historische Ereignisse? Z. B. Oktoberrevolution als Ganzes oder Entmachtung der Kerenski-Regierung o.ä.? Eine Differenzierung hinsichtlich verschiedener Ebenen oder Komplexitäten ist sicher sinnvoll, aber bei historischen Analysen muß man sie dann auch durchhalten.)

-         Die Gesamtheit der direkt oder indirekt mit einem Ereignis in Beziehung stehenden Kausalverhältnisse sind die Bedingungen des Ereignisses. Sie sind in notwendige und zufällige, wesentliche und unwesentliche zu differenzieren. Dabei ist es nicht leicht, die wesentliche Bedingung herauszufinden, die das Ereignis bestimmt. Sie bezeichnen wir als Ursache. (Frage: Kann es eine Ursache der OR geben? Ist die Fassung der Ursache als wesentliche Bedingung nicht auch schon wieder „lineares Denken“?)

-         Wir können die Laplacesche Erkenntnisstufe der Kausalität auch als einfache Ablaufkausalität bestimmen, in der das Geschehen vorausbestimmt und voraussagbar war. Die Frage nach dem Warum wurde nicht mehr gestellt. Es reichte, Abläufe zu kennen. Wissenschaft löste Warumfragen in Wiefragen auf und beantwortete sie mit der Erkenntnis von Gesetzen und wesentlichen Kausalbeziehungen, was neue Warumfragen auslöste, die entweder Philosophie und Religion zugeschoben oder als neue Wiefragen behandelt wurden. (Frage: Wie weit traf diese Position auch noch auf den „realsozialistischen“ Marxismus-Leninismus zu?)

-         Die nicht-lineare Denkweise von Aristoteles war linearisiert worden. Ein neuer Übergang zur nicht-linearen Denkweise, die mit der Bohrschen Erkenntnisstufe der Kausalität verbunden ist, erwies sich als erforderlich. (Frage: Gibt es Analogien zur Bohrschen Erkenntnisstufe in den Gesellschaftswissenschaften? Wie weit trägt eine philosophische Verallgemeinerung des Bohrschen Konzeptes wirklich für alle Wissenschaften?)

-         Wichtig für den Übergang von der linearen zur nicht-linearen Denkweise sind die Forschungen zur Selbstorganisation. Auf jeden Fall ist eine enge Fassung des Kausalbegriffs unter dem Aspekt der Selbstorganisation nicht haltbar, da die komplexen Prozesse nicht in kausale Beziehungen aufzulösen sind. Die Konsequenzen aus dieser Einsicht in die Ordnung der Wirklichkeit sind kaum bis zu Ende gezogen worden. (Frage: Was ist Selbstorganisation in der Gesellschaft? Eine Trivialität? Vgl. die Kritik der SED-Führung an der Kybernetik in den 70er Jahren! Wer ist hier dieses Selbst?[3])

-         Zufällig ist das, was möglich ist, aber sich nicht unbedingt durchsetzt und das, was als individueller Spielraum im notwendigen Geschehen einer Gesamtheit existiert. Deshalb ist bei nicht realisierten Möglichkeiten und bei der Durchsetzung der Notwendigkeit in zufälligen Ereignisse die Frage zu stellen, in welcher Beziehung ein Ereignis notwendig oder zufällig sei, unabhängig davon, daß es auf der Grundlage von Kausalbeziehungen überhaupt erst möglich ist. (Frage: In welcher Beziehung stehen  solche zufälligen  individuellen Spielräume zu den gesetzmäßigen Verteilungen im Rahmen der Systemgesetzmäßigkeit? Sind sie identisch oder gibt es Spielräume zweiter usw. Art? Oder muß viel radikaler gedacht werden: Die Bifurkation als entscheidenden Aspekt des historischen Gesetzes (Entwicklung!) nehmen und nicht nur als einen nachgeordneten Gesichtspunkt ihrer Verwirklichung! D. h. die Bifurkation wird als aufeinander bezogene Entwicklungsmöglichkeit(en) selber zum Gesetz! Damit ist Linearität auch schon vom Gesetzeskonzept her ausgeschlossen und nicht nur vom realen Prozess selber).

-         Gesetze als allgemein-notwendige, d. h. reproduzierbare Beziehungen, die der Erkenntnis als Grundlage sachkundiger Entscheidungen dienen, sind keine unausweichlichen Vorgänge. Sie bieten Spielräume. Eben das wird in der statistischen Gesetzeskonzeption erfasst. Ein statistisches Gesetz als ein allgemein-notwendiger und wesentlicher Zusammenhang umfasst eine Systemmöglichkeit, die sich unter Systembedingungen notwendig verwirklicht, aber zugleich für das Verhalten der Elemente ein Möglichkeitsfeld konstituiert, aus dem sich Möglichkeiten mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit realisieren. (Frage: Ist das einfach nur durch den Unterschied von Gesetz und realem Prozess bedingt oder ist das Möglichkeitsfeld selber gesetzmäßig, wobei es in der Gesellschaft eben nicht nur um eine Möglichkeit für die Gesamtheit der Elemente gehen darf (und dann mehrere Möglichkeiten für die Elemente), sondern für die Gesamtheit selber. Das Engelssche Analogon zur Resultante mehrerer Vektoren muß dann entfallen oder es muß eben an mehrere Resultanten gedacht werden.)

-         Für das Verhalten von Individuen, soweit sie als solche erkennbar sind, besteht die Möglichkeit, wesentliche Kausalbeziehungen zu entdecken. In Diskussionen zwischen Philosophen und Rechtswissenschaftlern in der DDR um die strafrechtliche Verantwortlichkeit spielte das eine Rolle. (Frage: Was waren wesentliche Kausalbeziehungen für W. Ulbricht im Rahmen des Mauerbaus, für die er verantwortlich zu machen war oder nicht? Man muß also Systembedingungen, Kausalität, Entscheidung und Verantwortung analysieren)

 

Wir können festhalten: Soll am Gesetzeskonzept in der Gesellschafts- wie Geschichtswissenschaft festgehalten werden, müssen nach Hörz Gesetz, Kausalität, Bedingung und Zufall in Gestalt dessen zusammengefügt werden, was er statistische Gesetze der Gesellschaft nennt. M. E. haben die historischen Materialisten in der DDR wie auch die meisten Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftler diesen Hinweis von Hörz nicht aufgegriffen. Zu den wenigen Ausnahmen gehörten Wolfgang Küttler und Wolfgang Eichhorn, die 1989 folgendes schrieben: „Wir müssen also die Fragen nach der Vernunft oder der Möglichkeit von Vernunft in der Geschichte mit der These in Verbindung bringen, dass die Geschichte ein objektiv gesetzmäßig strukturierter Prozess ist. Aber dabei muß sogleich berücksichtigt werden, was aus der Sicht des dialektischen und historischen Materialismus unter Gesetzen der historischen Entwicklung zu verstehen ist. Wir haben es mit Gesetzen von Massenprozessen zu tun – in der Literatur statistische Gesetze genannt, die Möglichkeitsfelder und Wahrscheinlichkeitsverteilungen beschreiben und so in jedem Moment ein weitgespanntes Feld alternativer Handlungsmöglichkeiten sichtbar machen.“[4] Natürlich folgt ein Literaturhinweis auf Herbert Hörz.

Dennoch bleibt der Halbsatz vom weitgespannten Feld alternativer Handlungsmöglichkeiten doch letztendlich abstrakt, er wird nicht zum tragenden Moment der Arbeit und bestimmt auch nicht näher, wie jenes Feld denn nun konkret-historisch interpretiert werden kann – als Vielfalt individueller Handlungsmöglichkeiten von Individuen im Rahmen von Gesetzen oder als solche Möglichkeiten gesetzmäßigen Verhaltens selber. Wenn der Gedanke der Linearität in der Gesetzes- und Kausalitätstheorie wirklich überwunden werden soll, so muss das betreffende Gesetz an einem bestimmten Bifurkationspunkt beide Entwicklungswege erfassen und nicht nur einen, wo dann der andere Weg als zufällig, nicht gesetzmäßig o.a. interpretiert wird. Und das muss auch für Entwicklungsgesetze gelten.

 


lineare Gesetzesauffassung                                    nichtlineare Gesetzesauffassung

 

 

 

 

 


Gesetz

Abweichung vom Gesetz  

 

 

 

3. Gesetz und Prozess bzw. Zustand

 

In einer Polemik mit den Verfassern des Parteiprogrammentwurfes des Vorstandes der PDS wirft der Sozialdemokrat Peter von Oertzen jenen vor, sie würden das Marxsche Verständnis objektiver Gesetze verletzen, wenn sie die Aufhebbarkeit oder Modifizierung des kapitalistischen Grundgesetzes, der sogenannten Kapitallogik, für möglich halten und dies programmatisch festschreiben wollten. [5]  Hat er Recht? Ist der Programmentwurf  in dieser Hinsicht wirklich eine Mogelpackung?

Die Frage ist komplex, und die Antwort wird es nicht minder.

Aber es ist eine ganz einfache Frage, die uns ins Zentrum der Auseinandersetzung führt: Wenn ein Flugzeug nicht abstürzt, sondern fliegt, wozu es ja da ist, wird dann das Fall- bzw. Gravitationsgesetz verletzt? Analog dazu: Wenn die Kapitallogik nicht rein und allein in der Wirtschaft wirkt, wird es dann aufgehoben oder verletzt?

Die Vermutung liegt nahe, dass die hier genannten Unklarheiten auf einer Verwechslung von Gesetz und Prozess (bzw. Zustand, wenn es sich nicht um in der Zeit ablaufende Vorgänge handelt) beruhen. Zunächst haben wir es ja immer mit Vorgängen oder Zuständen zu tun, um deren Erkenntnis und Beherrschung willen eine Komplexitätsreduktion vorgenommen wird: Die Vielzahl innerer und äußerer Beziehungen des betrachteten Prozesses muss verringert werden, es werden wesentliche Kausalbeziehungen und Gesetze gesucht und schließlich auch gefunden. So ist die mathematische Bestimmung des Gravitationsgesetzes

 

 

wobei F die Gravitationskraft ist, m1und m2 die Massen der beiden Körper, d die Entfernung zwischen den Körpern und G die Gravitationskonstante, ein typisches Beispiel dafür, wie aus einem komplexen Zustand, z. B. unserem Sonnensystem, bestimmte Relationen in Form eines Gesetzes herausgegriffen werden. Diese Relationen sind eine Teilmenge der Relationen des betreffenden Systems, und alle wissen, dass in diesem System weitere Relationen (Fliehkräfte, Drehimpulse, Rotationen, Strahlung, Wärmeaustausch, chemische Reaktionen u.a.) existieren, die von genanntem Gesetz nicht erfasst werden.

Verallgemeinern wir diesen Zusammenhang, dann ergibt sich folgendes Bild mit einer Reihe von Schritten, die das Thema verdeutlichen sollen:

 

 

(1) Rekonstruktion von realem P (Prozess) oder  realem Z (Zustand) durch ein Modell von P oder Z, verstanden als Gesetz:

 

PG oder ZG , gebunden an Bedingungen

 

(2) PG wird als Abbild von P begriffen:

 

PG=f(P)

 

(3) und gleichzeitig als objektiver  Zusammenhang in P:

                             

P=f(PG), d.h. PG bestimmt wesentlich das Verhalten von P

 

(4) entsprechend der Komplexität von P wird PG in eine Mannigfaltigkeit von Gesetzen aufgegliedert: 

                                    PGn   , d.h. P lässt sich auf mehrere Gesetze hin bestimmen

 

(5) Bei Anwendung der Gesetzeserkenntnis PG auf P zeigt sich

                                   

                                    P als Tendenz bezüglich  PG  (oder: P ist gesetzmäßig in Bezug auf PG . D.h. P ist reichhaltiger an Beziehungen als PG bzw. PGn ).[6]

 

 

Zurück zu unserem Beispiel: Wenn also „trotz“ Existenz des Gravitationsgesetzes die Erde nicht in die Sonne stürzt, so liegt das daran, dass neben dem Gravitationsgesetz noch weitere Gesetze existieren, die das verhindern, z. B. Gesetze der Fliehkraft. Natürlich wirkt das Gravitationsgesetz dennoch, denn die Erde würde sonst ins Weltall geschleudert, und insofern ist es verkehrt zu sagen, dass das Gravitationsgesetz nicht mehr wirke oder nur eingeschränkt wirke, oder modifiziert werde o.ä. Das Gravitationsgesetz sieht ja gerade von solchen Fliehkräften ab, und es gilt, solange und insofern in einem bestimmten Raum schwere Massen existieren.[7] Es gibt sich auch nicht mit der Frage ab, ob Gravitationswellen existieren oder nicht. Logisch  hat obige Formel die Struktur einer Wenn-dann-Beziehung, auch wenn dies nicht gleich und offen zutage tritt: Wenn es solche Massen gibt, dann ist die Gravitationskraft zwischen ihnen von der Größe der Massen, ihrer Entfernung und von G abhängig. Es ist analog so auch in dem bekannten „Gesetz“ Wenn heute Freitag ist, ist morgen Sonnabend. Dieses Gesetz gilt an jedem Tag der Woche, also auch, wenn heute nicht Freitag ist.

 

Exempel Kapitallogik

 

Wir wollen im folgenden prüfen, ob sich diese Verfahrensweise auch auf die Gesellschaft anwenden läßt und zu welchen praktischen Schlussfolgerungen das möglicherweise führen kann. Wir behaupten zunächst einmal, dass es sich beim Wertgesetz tatsächlich um ein Gesetz handelt.[8] Das gilt auch, wenn die Kapitallogik weder die Entwicklung noch den Zustand der kapitalistischen Gesellschaft allein determiniert. In dieser Gesellschaft gibt es nicht nur ökonomische, sondern auch politische, geistige, kulturelle, soziale Beziehungen.  Auch hier ist das entsprechende Gesetz, nennen wir es nun Mehrwertgesetz oder Kapitallogik, eine Komplexitätsreduktion bzw. eine Relation innerhalb eines komplexen Relationsgefüges:

 

Pmax = f(Privateigentum an Pm, freie Lohnarbeit)  unter der Bedingung der Existenz eines Marktes.

 

Soll heißen: Maximalprofit ist eine Funktion des Privateigentums an Produktionsmitteln und der Existenz freier Lohnarbeit (nach Marx). Unter diesen Bedingungen strebt das Kapital nach höchstmöglicher Verwertung, also Vermehrung.

Allerdings verfügen wir über keinen dem Gravitationsgesetz vergleichbaren qualitativen und quantitativen Zusammenhang zwischen den Komponenten dieses Gesetzes. Selbst die Formel des Kapitals G – W – G’ hilft da zunächst nicht weiter.

 

Man könnte das Gesetz auch so darstellen:

 

Pmax = f(Privateigentum an Pm, freie Lohnarbeit, Markt), wenn der Markt nicht als externe Bedingung, sondern als wesentlicher innerer Zusammenhang verstanden wird.

Dann müsste die Frage nach den Bedingungen für das Wirken dieses Gesetzes allerdings neu gestellt werden müssen, und diese befinden sich dann wohl außerhalb des ökonomischen Bereiches – also in der Sphäre der Rechtsvorschriften und politischen Gegebenheiten. Daraus resultierte dann gleichzeitig die Möglichkeiten, gesetzmäßige Realisierungen des Kapitalprinzips unterscheiden zu können – Manchesterkapitalismus vs. Rheinischer Kapitalismus, Marktwirtschaft, soziale Marktwirtschaft usw.

Da die konkreten Parameter in dieser Relation fehlen, sollte man vielleicht wirklich lieber von einem Prinzip und nicht von einem Gesetz sprechen. „Gesetzesartig“ ist dieser Zusammenhang aber auf alle Fälle, da er einen wesentlichen und notwendigen Zusammenhang zwischen den genannten Komponenten behauptet, auch wenn er die betreffende Relation nicht weiter konkretisieren kann. Verallgemeinern wir dabei Maximalprofit zu Gewinn, dann wird jene Formel zu einer Voraussetzung wirtschaftlich vernünftigen Handelns.

Aus der Sicht des kapitalistischen Unternehmens geht es darum, den Mehrwert – also die Quelle des Gewinns – zu steigern. Marx nennt hier zwei Methoden: Einmal die Verlängerung des Arbeitstages und damit die Verlängerung der Mehrarbeitszeit (absoluter Mehrwert). Zum anderen die Verausgabung von mehr Arbeit bei gegebenem Arbeitstag (relativer Mehrwert), z. B. durch Erhöhung der Stückzahl.

Nach Marx wird im kapitalistischen Produktionsprozess nur der Wert der Ware Arbeitskraft in Form von Lohn bezahlt, nicht aber die wirkliche Leistung des Lohnarbeiters. Anders gesagt beruht der Gewinn auf der Aneignung von Arbeitsproduktivität, von unbezahlter Arbeit durch die Unternehmen. Letzteres bezeichnet Marx als Ausbeutung.

Damit ließe sich also ein weiteres ökonomisches Gesetz bestimmen, das die Struktur des Mehrwertes selber genauer darstellt.

Gleichzeitig ist zu beachten, dass im Unterschied zum Gravitationsgesetz das Mehrwertgesetz als Form einer Komplexitätsrelation auch eine Reihe von theoretisch-methodologischen Voraussetzungen besitzt, die sehr umstritten sind: die Werttheorie, die Beziehung von Arbeit und Arbeitskraft, das marxistische Konzept von Ausbeutung.

Dieses Problem wollen wir jedoch hier nicht weiter erörtern, sondern dem Pluralismus-Modell wissenschaftlicher Erkenntnis zuordnen: es sind jeweils verschiedene Reduktionskonzepte möglich und sinnvoll, und das marxistische ist eines von ihnen, wobei es gute Gründe gibt, es anzunehmen.[9] Selbst innerhalb eines hinreichend weitgefassten marxistischen Grundkonzeptes lassen sich speziellere Modelle entwickeln.

Wir können dieses Thema um so mehr hier beiseite lassen, insofern wir eigentlich in der Behandlung unserer Frage, inwieweit Kapitallogik aufhebbar oder wenigstens modifizierbar ist, so weit vorangekommen sind, dass wir schon fast die Ergebnisse einfahren können.

  1. Da Gesetze an Bedingungen gebunden sind, wirken sie nur soweit, wie diese Bedingungen vorhanden sind. Beseitigt man das Privateigentum an Produktionsmitteln, so ist die Kapitallogik selber aufgehoben. Wenn es sich wirklich um ein Gesetz handelt, ist nun auch kein Maximalprofit mehr möglich. Nimmt man dem Ausdruck Maximalprofit seine pejorative Bedeutung, heißt das, dass wirtschaftliches Handeln nicht oder nur noch sehr eingeschränkt möglich wird – nämlich durch die Entwicklung von „Ersatzmechanismen“, etwa die gesamtgesellschaftliche Planung oder ideologische Komponenten (etwa den sozialistischen Wettbewerb). Wir halten fest: Selbst objektive Gesetze lassen sich aufheben – zumindest in der Gesellschaft. Auch in den vorkapitalistischen Gesellschaften wirkte oder existierte es nicht. Strenggenommen müsste man sagen: Das Gesetz als solches wirkt als die oben geschilderte Wenn-dann-Beziehung, aber es wirkt in der eben bestimmten Gesellschaft nicht.
  2. Es gibt keine einzige Gesellschaftsform, in der nur das Mehrwertgesetz gilt und wirkt. Zunächst einmal gibt es noch andere ökonomische Gesetze, außerdem sind auch die Teilsysteme Politik und Ideologie (hier inbegriffen Weltanschauungen und darunter die Religionen) durch wesentliche Zusammenhänge selbst bestimmt wie auch mit dem Bereich der Ökonomie verbunden. Ökonomie, soziale Gleichheit und politische Freiheit sind miteinander verbundene Grundsätze, wobei die jeweiligen konkreten Relationen sehr verschieden voneinander sein können (freie Marktwirtschaft, soziale Marktwirtschaft – bei aller Umstrittenheit dieser Bezeichnungen; sozialistische Gesellschaftsformen). Gesellschaft ist ein komplexes Phänomen, in dem auf verschiedenen Ebenen Gesetze wirken. Der Einsatz staatlicher Regulierungsinstrumente in Bezug auf die Ökonomie (etwa durch Steuergesetzgebung und Eintreiben der Steuern) hebt das Mehrwertgesetz keineswegs auf, sondern Steuern bauen auf den Gewinnen auf, und für die ist das Mehrwertgesetz zuständig.
  3. Strenggenommen wechselwirken also nicht verschiedene Gesetze miteinander, überlagern sich oder modifizieren einander, sondern es geht eigentlich um verschiedene Teilprozesse, die im oben geschilderten Sinne mit Gesetzen verbunden sind, und die in ihrem Wechselspiel die Gesellschaft in einem (stabilen oder labilen) Gleichgewicht halten. Will man einseitiges Gewinnstreben aus ökologischen oder moralischen Gründen verhindern, dann muss man dafür nicht das Mehrwertgesetz aufheben, sondern man kann für sein Wirken unterschiedliche Bedingungen schaffen. Man kann auch sagen:  Man kann auf der Basis dieses Gesetzes und seiner Kenntnis gegensteuern.
  4. Das Programm der PDS muss also kein Mogelpaket sein, wenn es die Modifikation des Mehrwertgesetzes fordert. Von den damit verbundenen inhaltlichen Problemen abgesehen, ist das freilich eine philosophisch anfechtbare Terminologie. Aber das dürfte für die Programmdebatte nicht entscheidend sein.

 

 

Exempel Marxsches Gesetzeskonzept

 

Es hat den Anschein, als ob Marx selber nicht ganz unschuldig wäre an den beschriebenen Verwirrungen. Seine Bemerkungen zum Tendenzcharakter der Gesetze und zur Modifikation von Gesetzen deuten darauf hin, dass auch er im Kapital die Beziehung von Gesetz und Prozess sprachlich nicht präzise fasst. Da wir für den nächsten Abschnitt einen Begriff von Entwicklungsgesetzen der Gesellschaft benötigen, wird dieses Thema hier gleich mit abgehandelt, soweit es direkt Marx betrifft.

Marx betont:

-         Der Physiker sucht, den reinen Prozess zu beobachten oder aber er stellt bestimmte Experimente unter solchen Bedingungen an, „welche den reinen Vorgang des Prozesses sichern“. Der Ökonom muss solche Experimente durch die Abstraktionskraft ersetzen.

-         „Es handelt sich um diese Gesetze selbst, um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen“ (Kapital Bd. I/S. 12)

 

Dem Theoretiker Marx geht es also hier um den reinen Prozess. Damit wird er das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft meinen, das er in England für am weitesten ausgeprägt und entwickelt sieht. Wie der Physiker durch seine Experimente zur Gesetzeserkenntnis gelangt, kommt der Ökonom auf dem Wege der Abstraktion zum gleichen Ergebnis – zur Erkenntnis der Gesetze. Der reine Prozess wird durch die Gesetze charakterisiert. An anderer Stelle spricht er vom „...absolute(n), allgemeine(n) Gesetz der kapitalistischen Akkumulation. Es wird gleich allen anderen Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört.“ (Kapital Bd. I/S. 674)

Die reinen, absoluten Gesetze werden durch mannigfaltige Umstände modifiziert, sagt Marx. Nun wirken Gesetze ja immer unter Bedingungen, die man auch wieder klassifizieren kann,
z. B. in wesentliche Bedingungen und Begleitbedingungen. Das Gesetz existiert in diesem Sinne nur dann, wenn entsprechende wesentliche Bedingungen existieren, also hier Privateigentum an Produktionsmitteln. Werden diese Bedingungen aufgehoben, existiert auch das Gesetz nicht mehr. Von einer Modifizierung des Gesetzes kann hier also nicht gesprochen werden.

Haben wir die Begleitbedingungen im Sinn, z. B. in Deutschland und England existierende historische Voraussetzungen oder auch Rechtsvorstellungen, so beeinflussen diese zwar den konkreten ökonomischen Prozess – eine Modifikation des entsprechenden ökonomischen Grundgesetzes liegt aber nicht vor. Wenn etwas modifiziert wird, dann ist es der konkrete historische Prozess selber. Der Ausdruck Modifizierung setzt freilich voraus, dass es so etwas wie einen reinen, unverfälschten, nichtmodifizierten, originellen Prozess überhaupt gibt. Den gibt es aber gar nicht, es sei denn, man bestimmt diesen als das reine Gesetz selber. Damit haben wir aber nur wieder jene m. E. falsche Identifizierung von Gesetz und Prozess vor uns. Ob es sinnvoll ist, den konkreten historischen Prozess als Modifikation der diesem zugrundeliegenden Gesetze aufzufassen, ist immerhin denkbar, führt jedoch wohl nur immer wieder in jene Verwirrung hinein, die wir doch eigentlich ausräumen wollen.

Gleiche Probleme bereitet uns in diesem Zusammenhang der Terminus Tendenz.

Tendenzcharakter, von dem Marx spricht, und dieser Ausdruck reicht immer noch in die marxistische heutige Gesetzestheorie hinein, wird durch Marx nicht jenen Modifikationen zugesprochen, sondern den Gesetzen selbst. Das verwundert, denn eigentlich ist es ja die Realität, sind es die Prozesse und Zustände, deren Verhalten im Verhältnis zum Gesetz „nur“ als diesem entsprechende Tendenz erscheint.[10] Springt man an dieser Stelle kurz einmal zu Herbert Hörz’ Konzept der statistischen Gesetze hinüber, wo auch von Tendenz gesprochen

wird, so stellt man fest, dass es sich dort um die tendenzielle Verwirklichung der Systemnotwendigkeit im und durch das Verhalten der Elemente handelt, ein Tendenzcharakter also auf der Ebene des Systemverhaltens gar nicht gemeint ist.[11] Freilich gilt auch hier: Die Tendenz kommt dem realen Prozess zu und nicht dem Gesetz, auch nicht dem statistischen. Möglicherweise ist also auch hier der Begriff der Tendenz fehl am Platze, so wie auch der Terminus Verhalten der Elemente zu unterstellen scheint, als handele es sich bei den Elementen, also Elementarteilchen wie Elektronen oder a-Teilchen, um ganz normale Masseteilchen auf einer ganz normalen Bahn durch den Raum – aber eben alles viel, viel kleiner... Tatsächlich kann ein einzelnes Teilchen das Gesetz auch nicht im entferntesten tendenziell verwirklichen, da das Gesetz nur durch die Gesamtheit der Teilchen verwirklicht werden kann und überhaupt nur für diese definiert ist.[12]

In der menschlichen Gesellschaft kann das jedoch ganz anders sein. Hier gibt es verschiedene Typen struktureller Beziehungen zwischen Systemen und Elementen. Stellte England so etwas wie den Prototyp der kapitalistischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts dar, dann ist es schon sinnvoll, nach Abweichungen bei anderen Ländern zu fragen, und dann kann man auch von Tendenzen der Annäherung an den „reinen Prozess“ sprechen. Das ökonomische Bewegungsgesetz des Kapitalismus (also das Mehrwertgesetz) ist keines der großen Zahl, also kein statistisches Gesetz: In jedem individuellen ökonomischen Vorgang wirkt dieses Gesetz, und wenn dieses Gesetz also den Äquivalentenaustausch beinhaltet, dann tangiert ein Verletzen dieses Grundsatzes den realen Prozess der kapitalistischen Warenproduktion, nicht aber das diesen beherrschende Gesetz. Daran wird Marx sicher gedacht haben, wenn er über die Modifikation von Gesetzen spricht.

Etwas anderes ist es, wenn ich über das Verhältnis von handelndem Individuum und Gesellschaft bzw. Geschichtsprozess nachdenke. Hier kommt die Engelssche Thematisierung dieser Problematik per „Resultante“ ins Spiel. Eigentlich geht es hier aber auch gar nicht um das Gesetz, sondern wiederum um den konkreten historischen Prozess. Den kann man als Resultat des Handelns aller Gesellschaftsmitglieder auffassen, wobei der geometrische Begriff der Resultante jedoch nicht weiterführt. Hinzukommt, dass es marxistischem Denken möglich ist, durch die Einführung des Prinzips Klasse und Klassenkampf die möglichen zahlreichen Varianten individuellen Handelns auf einige wenige, in der Regel auf zwei oder drei zu reduzieren. Die Vorstellung, dass Arbeiterklasse und Bourgeoisie in ihrem gegensätzlichen Handeln den Geschichtsprozess im Sinne einer Resultante realisieren, also sich irgendwie in der Mitte treffen, ist aber gerade nicht marxistisch, sondern eher reformistisch im klassischen Sinne der Arbeiterbewegung um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Heute mag man sich diesem Gedanken neu stellen, insofern es überhaupt gelingt, das Klassenkonzept sinnvoll weiterzuentwickeln.

 

Zusammenfassung: Unterscheiden wir den realen historischen Prozess sauber von jenen wesentlichen Zusammenhängen, die wir Gesetze nennen, dann ist es sinnvoll, den Ausdruck Modifikation von Gesetzen überhaupt zu verwerfen, wogegen ein sog. Tendenzcharakter eindeutig dem realen Prozess zugesprochen werden muss, jedoch wiederum nicht den Gesetzen.

Was bei Marx und heute landläufig als Modifikation von Gesetzen bezeichnet wird, ist  immer Ausdruck der Tatsache, dass komplexe Prozesse in der Regel nicht auf ein einziges Gesetz reduziert werden können und deshalb der Eindruck entsteht, als würde dieses Gesetz – verglichen mit dem Prozess selber – nicht rein und unverfälscht existieren bzw. wirken.

Man muss also das Mehrwertgesetz bzw. die Kapitallogik nicht modifizieren, wenn man das Kapital in der heutigen Gesellschaft in Schranken halten will. Es ist ausreichend, andere wesentliche Beziehungen in dieser Gesellschaft zu etablieren und/oder deren Wirkungen zu intensivieren (Sozialgesetzgebung, Einführung der Tobin-Steuer o.ä.) Hier kann man von Wirkungsbedingungen im Unterschied zu den Existenzbedingungen sprechen.

 

 

4. Gesetz und Entwicklung

 

 

Bisher haben wir uns in der Erörterung auf Struktur- bzw. Bewegungsgesetze konzentriert, Entwicklung im eigentlichen Sinne kam noch gar nicht vor. Dabei ist doch der Kernbereich der marxistischen Theorie direkt an die Anerkennung von Entwicklung in Gesellschaft und Natur sowie deren gesetzmäßigen Verlauf gebunden. Die Argumente gegen eine theoretische Erfassung von Entwicklungsvorgängen als objektive Gesetze sind vielfältig, sie reichen von der angeblich grundsätzlich anderen Relevanz des Individuellen gegenüber dem Allgemeinen in Geschichte und Entwicklung bis zur Betonung der Unmöglichkeit, telelogische Aspekte wissenschaftlich erfassen zu können. Nicht zuletzt wird die Richtigkeit der Annahme bestimmter gesellschaftlicher Gesetze bestritten, z. B. das der Abfolge von Gesellschaftsformationen, die Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus im Weltmaßstab, usw.

Hörz versteht unter einem Entwicklungsgesetz objektive allgemeine und wesentliche Zusammenhänge, die einen zeitlichen Ablauf in seiner Einmaligkeit wie Wiederholbarkeit zugleich erfassen und durch die Existenz relativer Ziele gekennzeichnet sind.[13]

Verknüpft mit dem Prinzip der Offenheit von Entwicklung ergeben sich damit für das Gesetzesverständnis in Gesellschaft und Geschichte mehrere Probleme. Diese betreffen einmal das Gesetzesverständnis in der Gesellschaft generell, sodann die Vorstellung von Entwicklungsgesetzen und darüber hinaus auch die Anwendbarkeit des Hörzschen Verständnisses von statistischen Gesetzen auf die Gesellschaft:

-         Bei Gesetzen, die auf die Entwicklung der gesamten Gesellschaft bezogen werden, ist es problematisch, den Aspekt der Wiederholbarkeit und Allgemeinheit zu begründen (etwa im Zusammenhang mit einer angenommenen Abfolge von Gesellschaftsformationen auf der Welt im Ganzen).

-         Die für Entwicklungszusammenhänge erforderlichen Fortschrittskriterien (Hörz nennt u. a. wachsende Komplexität und Gestaltbarkeit, letztendlich also Gewinn an Humanität und Freiheit)  scheinen sich einer objektiven Bestimmung zu entziehen, wenn sich Entwicklung im Resultat gegensätzlicher Klassenkräfte vollzieht.

-         Nicht nur gesellschaftliche Prozesse, sondern auch deren Gesetze selber, sind an menschliches Handeln gebunden, an das Wissen der Menschen usw. [14] Wie können sie dann objektiv sein, wenn man jene Objektivität nicht ausschließlich nur an ein „Wirken der Gesetze hinter dem Rücken der Akteure“ binden will?

-         Gesellschaftliche Entwicklungsprozesse gelangen häufig an sog. Bifurkationspunkte,  wo gegensätzliche Entscheidungen bzw. Weiterentwicklungen oder auch Fehlentwicklungen möglich werden. Wie soll solche Bifurkationalität in ein Gesetzeskonzept integriert werden? Macht es Sinn, beide Alternativen in ein Gesetz einbinden zu wollen?

-         Die Küttlersche Vorstellung, gesellschaftliche Gesetze seien statistischer Natur, weil die Zukunft offen sei,[15] verlässt eine eigentlich anstehende gründliche Untersuchung des ersteren, eben behaupteten Sachverhaltes zugunsten einer ziemlich nebulosen Kopplung von Gesetz und Offenheit. Wenn es ein Gesetz des Sieges des Sozialismus geben sollte, was ist hieran Offenheit: Dass dieser Sieg viele Gesichter haben kann oder dass er möglicherweise gar nicht eintritt – entweder weil die Welt vorher schon zerstört worden ist, oder weil der Kapitalismus die Auseinandersetzung mit dem Sozialismus gewinnen könnte? Und wenn es sich „um viele Gesichter“ handeln soll, kann man dazu ebenfalls Gesetze erkennen?

-         Gleichzeitig treten weitere Fragen auf: Wenn jenes Gesetz beinhaltete, dass auf die Epoche des Kapitalismus notwendig die Epoche des Sozialismus folgt, so ist das eine außerordentlich komplexe Behauptung, die ökonomische, politische und ideologische Zusammenhänge quasi in einen einzigen Satz hineinzwängt. Soll es sich wirklich um ein Gesetz handeln, dann muss auch hier eine Komplexitätsreduktion erfolgen. Das geht zunächst einmal über die ökonomische Schiene (Ersatz des Mehrwertgesetzes durch eine gesellschaftliche Planung), oder die politische Schiene (Ersatz der bürgerlichen Demokratie durch eine sozialistische), durch Charakterisierung der politischen Akteure, usw.

-         Da es sich nachgewiesenermaßen spätestens seit 1989/1990 bei jenem Gesetz um einen bezweifelbaren Zusammenhang handelt, ist die Forderung berechtigt, die Bedingungen für einen solchen Übergang zum Sozialismus genau zu bestimmen. Da es sich überdies noch um einen Entwicklungszusammenhang handeln soll, sind zugleich Fortschrittskriterien anzuwenden bzw. neu zu definieren. Diese könnten, wie Hörz das tut, an Freiheitsgewinn für die Individuen geknüpft werden. Dass freilich auch der reale Sozialismus von uns Philosophen in ziemlich naiver Weise als eine Form solchen Freiheitsgewinns gewertet wurde, muss Veranlassung sein, einen Begriff wie Freiheitsgewinn präziser zu bestimmen.

 

Ein Versuch könnte, reduziert auf eine ökonomische Komponente, wie folgt aussehen:                                         

                            

Kap (d.h. Mehrwertgesetz) Þ Soz (d.h. Planungsgesellschaft)  :

 

Gilt unter den Bedingungen, dass und wenn der Kapitalismus die grundlegenden Aufgaben sozialer, ökonomischer, politischer und ökologischer Natur nicht mehr lösen kann und der Sozialismus geeignete Mechanismen gerade zur Lösung jener Konflikte anbietet. Diese Mechanismen sind im Rahmen eines solchen Gesetzes zu bestimmen.

 

Doch auch diese Formulierungen dürften noch viel zu vage sein, um wirklich annähernd von einem Gesetz sprechen zu können.

Ganz sicher handelt es sich bei einem solchen Gesetz – wenn es denn eines ist – nicht um ein Gesetz von Massenerscheinungen. Das ist so, auch wenn der Sozialismus  – wenn es denn ein solcher war, der die obigen Bedingungen erfüllt –  in vielen Staaten errichtet wurde, denn dann müsste ja z. B. auch das Gravitationsgesetz ein statistisches sein – nur weil es für alle Massen, z. B. alle Sterne zutrifft. Das ist erst recht so, wenn es um die menschliche Gesellschaft als Ganzes geht, auch wenn hier ein „zweiter Versuch“ nicht auszuschließen ist.

Es ist auch nicht sinnvoll, die Gegebenheit als statistisches Gesetz an dieser Stelle einfach deshalb zu konstatieren, weil es letztendlich viele Individuen sind, die die Prozesse realisieren, welche durch dieses Gesetz wie auch durch weitere Gesetze bestimmt sind. Das ist ein geistiger Sprung über mehrere gesellschaftliche Ebenen hinweg, über die individuelles Handeln mit globalen Effekten vermittelt ist. Gesetze, die in diesem Sinne das Verhalten von Individuen bestimmen, sind eher im Bereich der Sozial- und Individualpsychologie o.ä. zu finden – so wie Marx sich für das Verhalten einzelner Kapitalisten nicht interessiert, weil es eben die Problematik der ökonomischen Gesetze nicht  tangiert. Die Engelssche Vorstellung, man könne Analogien zur Vektoranalyse ziehen und das Handeln der Einzelnen quasi als Vektoren auffassen, die sich schließlich zur gesetzmäßigen vektoriellen Resultante vereinigen, ist deshalb nicht haltbar. Bestenfalls  noch könnte man so den konkreten historischen Prozess beschreiben: Geschichte ist das Handeln vieler Einzelner – vom König und Feldherrn bis zum Koch (Brecht). Eine Erklärung durch Gesetze ist damit aber nicht gegeben. So ist es auch in der Marxschen Theorie mit dem Marktpreis als gesellschaftlichem Durchschnitt, der sich aus den vielen konkreten Produktions- und Zirkulationsprozessen realisiert. Auch hier befinden wir uns nicht in der Ebene des Gesetzes, sondern der des realen Prozesses selbst. Im Gesetz ist schon der Durchschnittspreis vorausgesetzt.[16]

Es bringt auch nicht viel, nun dieses individuelle Verhalten als zufällig in Bezug auf die ökonomischen etc. Gesetze zu bezeichnen. Das mag wiederum zur Beschreibung realer sozialer und ökonomischer Prozesse interessant sein (z. B. ob die utopischen Sozialisten um Owen nun Erfolg hatten oder nicht, oder welche Charaktereigenschaften ein bestimmter Politiker hatte); für die Gesetze selber ist das irrelevant. Zufälle sind für Gesetze nur relevant, wenn es sich um statistische Gesetze handelt, wo es also zufälliges und nur wahrscheinlichkeitstheoretisch fassbares Verhalten von Individuen ist, das eine bestimmte Wahrscheinlichkeitsverteilung hervorbringt, welche den Kerngehalt dieses Gesetzes darstellt.

Für gesellschaftliche Gesetze in dem hier besprochenen Sinne trifft das nicht zu, und schon gar nicht, wenn es sich um Entwicklungsgesetze handeln soll.

Erst recht handelt es sich nicht um statistische Gesetze vom Bohrschen Typ, da eine Analogie zwischen menschlichen Individuen und quantenmechanischen Individuen, die eine Einheit von Welle und Teilchen darstellen und nicht als Individuen lokalisiert werden können, kaum vorstellbar ist. Wo also ist die Analogie zu Wahrscheinlichkeitsdichten oder stochastischen Verteilungen, wenn es sich bei gesellschaftlichen Gesetze um statistische Gesetze handeln soll?

Außerdem wären statistische Gesetze in der Gesellschaft sämtlich vom klassischen Typ: die Individuen sind identisch und zugleich unterscheidbar (zählbar), die Wahrscheinlichkeiten entstehen durch Unsicherheit in der Bewertung der Anfangssituationen, wobei die hier auftretenden Probleme höchstens noch in der Wärmetheorie ihren Vergleich finden mögen, nicht jedoch in der Quantenmechanik.

Das gilt auch für Herbert Hörz’ Beispiel für die Beziehung von Notwendigkeit und Zufall bei technischen Unfällen und Fehlhandlungen, wobei es sich hier sowieso nicht um statistische Zusammenhänge handelt. Wahrscheinlichkeit im Verhalten der Individuen (=Systemelemente) kann dort nur klassisch gemeint sein, als Unsicherheit bezüglich der Individualbedingungen, also gemäß dem klassischen Ideal). Der Zufall ist dann gerade diese Unsicherheit und Unbestimmtheit. Die Wahrscheinlichkeiten sind quantitativ nicht fassbar. Hier würde erst recht die Hörzsche Einschränkung gelten: es handelt sich (bestenfalls) um potentielle bzw. qualitative statistische Gesetze.[17]

Es wird zu prüfen sein, ob die Zurückweisung des Laplaceschen Determinismus auf eine solche Weise ausreicht und ob der Zugang zu den Erscheinungen der Selbstorganisation wie der Bifurkationsprozesse dadurch nicht versperrt wird. Möglicherweise ist aber der Zugang über entscheidungstheoretische Wege sogar viel effektiver: jeder menschlichen Entscheidung wohnt der Aspekt der Bifurkation inne, sonst wäre es gar keine. Die Problematik der Bewertung eigener Geschichte (einschließlich einer Kritik geschichtlicher Handlungen und gegebenenfalls von Entschuldigungen dafür) soll an dieser Stelle noch einmal aufgegriffen werden, weil sie etwas mit dem Verständnis gesellschaftlicher Gesetze zu tun hat.

Solche Überlegungen glichen einer Zeitreise in die Vergangenheit, wenn es die gäbe: Man „begibt sich in die Vergangenheit“, kann aber trotz des Wissens um die damals abgelaufenen Vorgänge nicht eingreifen und die Geschichte korrigieren; man kann aber – sofern man „zurückkehrt“ – die historischen Entscheidungen besser verstehen und vielleicht sogar auch Konsequenzen für heute ableiten.

Folgende Bedingungen müssten freilich dafür erfüllt sein:

1. Geschichtliche Verläufe geschehen nicht als streng determinierter, linearer Fortschrittsprozess mit jeweils nur einem Ziel, einem möglichen Weg und unter Anwendung einer und nur einer, optimalen Methode. Vielmehr tun sich an Bifurkationspunkten mehrere Wege auf und die Wahl für einen Weg ist zwar nicht völlig zufällig, jedoch immer auch zufallsbedingt. Die Entwicklung vor dem Bifurkationspunkt hat bestimmte weitere Entwicklungsmöglichkeiten im bzw. nach dem Bifurkationspunkt eröffnet und gleichzeitig bestimmte Linien abgeschnitten.

2. In der Evolution können Sackgassen und Rückbildungen auftreten, d.h. in diesem Falle eröffnen sich im Verlaufe eines bestimmten Entwicklungsabschnittes weder neue Bifurkationspunkte noch gibt es die Möglichkeit des Fortsetzens dieses Weges. In der biotischen Evolution kommt es zum Aussterben der betroffenen Art, in der Gesellschaft wird es in der Regel zu einer Art von mehr oder weniger feindlichen Übernahme kommen (Kolonisation, Okkupation, Anschluss).[18]

3. Wir müssen davon ausgehen, dass es für die maßgeblichen historischen Akteure in einem Bifurkationspunkt die Möglichkeit einer Entscheidung gegeben hat. Zwar musste eine solche Entscheidung unter den damaligen objektiven historischen und aktuellen Bedingungen getroffen werden und sie ist immer abhängig  von der individuellen Biographie und Charakterzeichnung der betreffenden Person oder der Personengruppe, wobei zu den subjektiven Bedingungen auch das mögliche wie real vorhandene Wissen der betreffenden historischen Persönlichkeit über die möglichen künftigen Entwicklungen gehört. Der Historiker muss jedoch der Versuchung widerstehen, eine bestimmte Entscheidung letztendlich in jene objektiven und subjektiven Bedingungen auflösen zu wollen, und speziell der marxistische Historiker darf die objektiven Bedingungen nicht verabsolutieren oder überbewerten – wozu er durch einen trivialisierten historischen Materialismus verführt werden könnte. Er würde damit die Möglichkeit von freien Entscheidungen – die immer eine Entscheidungen in Unsicherheit sind – und damit die Bedeutung historischen Handelns leugnen. Der Akteur wird zur Marionette des Maxwellschen Dämons (der im Marxismus als objektiver gesetzmäßiger Geschichtsprozess verstanden werden konnte).

4. Je nach der „Tiefe“ (in struktureller wie historischer Hinsicht) und Richtung der angestrebten Analyse der Bedingungen für historisch relevante Entscheidungen wird es dann verschiedene historische Bewertungen der damaligen Entscheidung geben. Das gilt insbesondere nach Regressionen bzw. historischen Niederlagen. Gleichzeitig hat der Historiker die Möglichkeit, jene damalige Entscheidung in den vorangegangenen wie darauffolgenden historischen Prozess einzuordnen und sie möglicherweise für eine Regression verantwortlich zu machen.

5. Dieser Bewertungsprozess hat eine hermeneutische Dimension: Das konkrete historische Wissen über damalige Entscheidungen und die Wertebasis, auf deren Grundlage solche Entscheidungen bewertet werden, hängen voneinander ab. Wenn man daraus nicht die Unmöglichkeit objektiver historischer Analysen ableiten will, kann Objektivität nur als Resultat und Bedingung eines iterativen kommunikativen und zugleich interdisziplinären Forschungsprozesses verstanden werden.[19]

6. Wenn Geschichte das Austragen von Klassengegensätzen o.ä. ist, die Entscheidungsträger von Klassen also einander zur Kenntnis nehmen und aufeinander reagieren müssen, sollte auch eine historische Analyse die aktuellen Analysen historischer Gegner oder Rivalen reflektieren und beachten. Das ist wiederum wichtig nach Regressionen. Als eine solche Regression kann man die Wende 1989/1990 in Ostdeutschland auffassen: Mit ihr erwies sich die vorangegangene realsozialistische Entwicklungsetappe nicht nur in der DDR historisch als Sackgasse; ihre Strukturen und Methoden werden zurückgenommen (Regression) – der Ausweg ist ein Sprung auf den anderen Evolutionsast.

7. Eine kritische Selbsteinschätzung solcher Regressionen ist sinnvoll. Sie wird die Kette der Bifurkationen der betreffenden Entwicklungsrichtung nach rückwärts analysieren und nach ihrer historischen Bedeutung werten. Sie muss insbesondere dort ansetzen, wo die betreffende Etappe bzw.  ein relevanter Zyklus ihren Ausgang genommen haben. Eine solche Analyse ist vor allem dann wichtig, wenn die historischen Umstände und Probleme, unter deren Einfluss  damals jene „fatale“ Entscheidung getroffen wurde, heute immer noch, möglicherweise in anderer Form, existieren, z. B. die Kapitallogik. Ohne radikale Selbstkritik besteht die Gefahr, dass ähnliche Fehler wieder begangen werden, z. B. eine erneute Unterordnung von „Freiheit“ unter „Gleichheit“.

8. Ob eine solche Selbstkritik in eine Entschuldigung einmünden muss oder soll, hängt mit der Antwort auf die Frage zusammen, wer sich warum wem gegenüber wofür entschuldigen soll. Entschuldigen kann sich nur der, der Verantwortung für bestimmte Entscheidungen trägt bzw. übernommen hat. Entschuldigen kann man sich nur für Entscheidungen, deren Konsequenzen sich bis in die Gegenwart hineinziehen. Entschuldigen kann man sich nur bei den Opfern dieser Entscheidungen, und das sind nicht unbedingt die früheren Gegner, sondern oftmals eigentliche Kampfgefährten. Letztendlich ist es auch eine Sache der geistigen Hygiene.

 

Ich kann resümieren:

 

-         Das Thema Entschuldigung hat einige determinismustheoretische Voraussetzungen: Die betreffenden Ereignisse sind nur schwach determiniert (Hörz), es muss Entscheidungsspielräume bei aller Systemdetermination gegeben haben. Vgl. auch die entsprechende Feuerbach-These von Marx, der den bisherigen Materialismus wegen seiner Überbetonung der Umstände kritisiert. Beide Aspekte lassen sich vielleicht als Komplementarität fassen.

-         Für eine sinnvolle Entschuldigung muss es eine weitere Bedingung geben: Es muss eine ideologische und praktisch-politische Verbindung zwischen den jeweiligen Akteuren geben, die eine Verantwortung auch in die Vergangenheit hinein erklärbar macht. Das schließt auch eine Art von Verpflichtung ein, bestimmte Konsequenzen aus jener Wertung/Entschuldigung für künftige Entscheidungen zu ziehen. Letztendlich ist die Möglichkeit von Entschuldigungen nur zu begründen, wenn und insofern es einen traditionell-sachlichen Zusammenhang zwischen den Akteuren gibt, der einzelne politische Etappen übergreifend zusammenschließt und der einen Zyklus bildet. Also: Marx, Lenin, Oktoberrevolution, Stalin, Situation Ende 2. Weltkrieg, kalter Krieg, Mauerbau, Scheitern der DDR, SED/PDS, demokratischer Sozialismus.[20] Hier werden entwicklungstheoretische Aspekte relevant: Entwicklungsetappen, Bifurkationen, relative Ziele (Hörz: causa finalis)

-         Wertungen historischer Ereignisse müssen konkret sein: Es kann z. B. nicht einfach nur um die Verteidigung der historischen Berechtigung der Oktoberrevolution gehen (indem man das durch den Zarismus verursachte Elend der Bauern und Proletarier hervorhebt, das beseitigt werden musste), sondern man muss gleichzeitig das konkrete Was und Wie und Wohin der betreffenden Entscheidung analysieren. D.h. das abstrakt genommene Ereignis ist in seine Kausalbeziehungen aufzulösen, wobei es sicher mehrere wesentliche Kausalzusammenhänge gibt und nicht nur einen. Entscheidungsfehler werden zumeist erst bei einer solchen konkreten Betrachtung sichtbar werden und die Entscheidungsträger dürfen auch nicht nachträglich von ihrer Verantwortung in dieser Hinsicht freigesprochen werden. Verantwortung hängt ja immer zusammen mit der Freiheit von Entscheidungen unter unsicheren Bedingungen, und wer sich solche Entscheidungen von historischer Tragweite zutraut, muss vor der Geschichte dafür gerade stehen.

                       

 




[1] Ernst Wurl: Geschichtspolitik und Geschichtskultur in einem gespalten vereinten Land. Utopiekrativ Heft 134, Dezember 2001, S. 1115-1125

[2] in Vorbereitung auf die hier erwähnte Konferenz hatte Herbert Hörz seine Auffassungen auf der Website http://www.hg-graebe.de/moderne/Seminar/2-2.html dargestellt. Meine Reflexion setzt an diesen Ausführungen an.

[3] Es hat den Anschein, als werde Selbstorganisation in der Gesellschaft vielfach oder gar ausschließlich an die Organisation der Gesellschaft durch Gruppen und Individuen aufgefaßt – im Gegensatz zu  einer „zentralen“ Steuerung und Regelung. Vgl. dazu u.a. Annette Schlemm: Surfende Schmetterlinge im politischen Chaos. Packpapierverlag Osnabrück 2001, S. 20

[4] Wolfgang Eichhorn und Wolfgang Küttler: „...daß Vernunft in der Geschichte sei“ Berlin 1989, S. 264 Siehe auch Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaft (Meiner Verlag Hamburg 1990)

[5] Peter von Oertzen: Grundsatzprogramm und politische Strategie des Sozialismus. In: Beilage Z Nr. 46 Juni 2001, S. 15f.

[6] Wir werden sehen, dass der auch von Marx gebrauchte Ausdruck, die Gesetze trügen Tendenzcharakter, in diesem hier analysierten Sachverhalt missverständlich und eigentlich ungeeignet ist.

[7] Da die Objekte im mikrophysikalischen Bereich keine solche Massen sind, existiert dort auch das Newtonsche Gravitationsgesetz nicht. Das Bohrsche Atommodell (im Unterschied zum Rutherfordschen) benötigt zu seiner Darstellung andere Gesetze.

[8] Hans-Georg Trost stellt das in Frage; es gehe hier eher um Prinzipien oder gesetzesähnliche Zusammenhänge. Vgl. dazu. Dagegen aber wiederum Stegmüller

[9] Vgl. dazu Frank Richter: Pluralität oder Pluralismus? In: UTOPIEkreativ 132 Oktober 2001, S. 889-902

[10] Auch das sog. Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate spiegelt eine (in der Realität gegebene) Tendenz in einem nicht-tendenziellen Sinne wider.

[11] Wenn z. B. der Kapitalist x aus humanistischen Gründen auf Maximalprofit verzichtet – wie sollen wir diesen Zusammenhang beschreiben? Am Gesetz selber ändert das gar nichts, denn der Kapitalist x taucht in diesem Gesetz gar nicht auf. Man kann auch nicht sagen, dass er dieses Gesetz tendenziell verwirklicht und man kann auch nicht sagen, dass alle Kapitalisten zusammen das Gesetz verwirklichen, denn auch hier gilt: sie tauchen im Gesetz gar nicht auf. Was sie aber tun: Sie realisieren einen komplexen ökonomischen Prozess, und wenn ich diesen Prozess analysiere, stoße ich u.a. auf das Kapitalprinzip. Weder ist dieses Prinzip eine Ursache für das Verhalten der einzelnen Kapitalisten, noch ist das Prinzip eine Wirkung jenes Verhaltens. Das sind nämlich andere Realitätsebenen.

[12] Analoges gilt schon für die klassischen statistischen Gesetze. Wenn die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer in einem bestimmten Land 70 Jahre beträgt, verwirklicht jemand, der 69 Jahre alt wird, dieses Gesetz tendenziell? Scheinbar ja, aber was ist mit einem, der nur 20 oder  30 Jahre alt wird? Er weicht aber natürlich auch nicht von diesem Gesetz ab, denn dieses ist ja ausdrücklich eines der großen Zahl.

[13] Herbert Hörz: Philosophie der Zeit, Berlin 1989, S. 156

[14] Vgl. die Poppersche Argumentation, Anmerkung 2

[15] Küttler und Eichhorn schreiben: Geschichte ist offen heißt, dass das Modell des Laplaceschen Dämons auch für die menschliche Geschichte nicht anwendbar ist. Geschichte ist nicht prädeterminiert. Das bedeutet aber auch nicht, dass es nun überhaupt keine Gesetze in der Gesellschaft gäbe. Vernünftiges Handeln in der Gesellschaft ist nur möglich, wenn es Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte gibt. Entwicklung wäre sonst ein irrationaler Strom. „Wir müssen also die Fragen nach der Vernunft oder der Möglichkeit von Vernunft in der Geschichte mit der These in Verbindung bringen, dass die Geschichte ein objektiv-gesetzmäßig strukturierter Prozess ist. Aber dabei muss zugleich berücksichtigt werden, was in der Sicht des dialektischen und historischen Materialismus unter Gesetzen der historischen Entwicklung zu verstehen ist. Wir haben es mit Gesetzen von Massenprozessen zu tun – in der Literatur statistische Gesetze genannt, die Möglichkeitsfelder und Wahrscheinlichkeitsverteilungen beschreiben und so in jedem Moment ein weitgespanntes Feld alternativer Möglichkeiten sichtbar machen.“ S. 264)

[16] Karl Marx: Das Kapital Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 180

[17] H. Hörz: Zufall – eine philosophische Untersuchung. Berlin 1980, S. 89/90

[18] Bildlich gesprochen: Es muss von einem Evolutionsast  direkt auf einen anderen gesprungen werden, und es kann die Evolution nicht durch Rückwärtsgehen und dann Neuanfangen korrigiert werden.

[19] Das gilt im Prinzip für jede Wissenschaft und nicht nur für Geschichtswissenschaft. Strengenommen kann es immer nur eine Evolution hin zu „objektiverem Wissen“ geben. Auf diese Evolution ist dann aber wiederum das ganze Instrumentarium einer Entwicklungskonzeption anwendbar, so wie auch solche Konzeptionen selber evolvieren...

[20] Auch hier gibt es Modellvielfalt: Wollen wir jenen Zyklus mit der „Wende“ abschließen, oder mit der Errichtung eines demokratischen Sozialismus, der die von Marx analysierten Probleme wenigstens annähernd löst?