Freiberger Modell

Frank Richter, Freiberg

Lange Zeit ist der Modellbegriff in der materialistischen Erkenntnistheorie, und erst recht in den marxistischen Gesellschaftswissenschaften mit äußerster Skepsis betrachtet bzw. total abgelehnt worden. Für die meisten unserer Erkenntnistheoretiker war die Auffassung idealistischer Philosophen, die menschliche Erkenntnis könne immer nur ein Modell der Realität, niemals jedoch eine wahrheitsgetreue Abbildung dieser Realität sein, für eine solche Ablehnung hinreichend. "Modell" konnte dabei vieles sein: Ein System von Zeichen, gar von Hieroglyphen (wie beim österreichischen Physiker Ludwig Boltzmann, mit dem sich deshalb Lenin anlegte), oder als eine Art von Projektion der Realität auf unser Bewußtsein, mit der Konsequenz, daß es dann immer mehrere Projektionen ein und derselben Realität geben könne. Die Realität selber bleibt dabei im Dunklen. Georg Klaus hat dann durch eine materialistische Rezeption der Semiotik den Versuch unternommen, sowohl den Zeichencharakter unserer Erkenntnis als auch deren Projektionsform in die marxistische Weltanschauung zu integrieren. Das gelang - aber nur partiell; der unkritische Realismus in unserer Erkenntnistheorie wurde damit nicht beseitigt, und erst recht hatte das keine Konsequenzen für die Beseitigung erkenntnistheoretischer Dogmen in den marxistischen Gesellschaftswissenschaften, speziell im Wissenschaftlichen Kommunismus. Da die als Kritiker der bisherigen marxistischen Theorie und Praxis auftretenden sogenannten Revisionisten häufig von Modellen des Sozialismus sprachen und damit also an Alternativen zum sowjetischen System der Vorkriegs- und Nachkriegszeit dachten, war es ziemlich einfach, die Verwendung des Modellbegriffs prinzipiell zu diskriminieren. Erinnern wir uns an die Debatten um das jugoslawische oder das schwedische Modell des Sozialismus, an die Debatten um den Sozialismus in den Farben Frankreichs oder an den "deutschen Weg zum Sozialismus", an die mehr als halbherzige Auseinandersetzung in der Frage, ob die Sowjetunion das Grundmodell des Sozialismus darstelle oder nicht... Der Modellbegriff war suspekt und das blieb so bis zur Wende.
Diese Wende konnte ich schon deshalb nicht nur als Konterrevolution verstehen, weil die bisherige marxistische Verweigerung dem Modellbegriff bzw. dem Modelldenken gegenüber wesentlich zum Untergang des europäischen Realsozialismus beigetragen hat. Modelldenken ist gerade eine akzeptable Form, die Dialektik von Allgemeinem und Einzelnem zu begreifen. Die sozialistische Staatengemeinschaft hat dieses Problem nie bewältigt und nie zu der Flexibilität gefunden, die erforderlich gewesen wäre, anstehende komplexe Probleme in der verfügbaren Zeit zu lösen. Im Gegenteil - die Probleme wurden unzulässig vereinfacht, darunter auch die Erfordernisse effektiver ökonomischer Strukturen selber, das Thema "Sozialismus und Modellvielfalt" wurde nie ernsthaft auch nur thematisiert (von seiner intensiven Behandlung und gar Lösung ganz zu schweigen), "Pluralismus" wurde generell kritisch behandelt, und einen echten Diskurs über anstehende grundsätzliche Probleme in Theorie und Praxis gab es nicht bzw. wenn doch, wie im Fall der Debatte um die "entwickelte sozialistische Gesellschaft", dann nur in Ansätzen und schnell wieder im Konsens endend. Es dominierte das Modell "Befehlsempfang auf der Krim".
Meine Beschäftigung mit erkenntnistheoretischen Fragen der Technik und der Technikwissenschaften hatte mich dagegen - freilich mit aller Konsequenz auch erst Ende der siebziger Jahre - zu der Erkenntnis und Überzeugung geführt, daß aus der technikwissenschaftlichen Denkweise für die Philosophie mehr herauszuholen sei, als damals allgemein angenommen wurde. Die Technik zählte zwar viel, weil sie innerhalb des marxistischen Konzeptes von Arbeit, industriellem Wandel und Produktivkraftentwicklung eine besondere Rolle einnahm - bis hin zu gelegentlichen Übertreibungen schon bei Marx selber. Dieser ließ die industrielle Revolution mit der Herausbildung des Maschinensystems beginnen, und er ordnete die verschiedenen Gesellschaftsformationen bestimmten technischen Entwicklungen zu; der Feudalgesellschaft entspricht die Handmühle, dem Kapitalismus die Dampfmühle. Dem korrespondierte dann später im Marxismus ein verbreiteter Technikoptimismus und -zentrismus, trotz der These von der "Hauptproduktivkraft Mensch". Die sogenannte innere Logik der Produktivkraftentwicklung wurde eigentlich immer als Entfaltung der Technik nach deren eigenen Entwicklungsgesetzen verstanden.
Darum soll es hier aber nicht gehen. In der Erkenntnistheorie spielte die Technik anfangs überhaupt keine Rolle, später ging es dann um die Diskussion der Dämonie-Problematik und die Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Platonismus bei Friedrich Dessauer. Die Tatsache, daß der Ingenieur eine Wirklichkeit in Gedanken entwirft und dann praktisch realisiert, ist ja von Aristoteles an immer eine Verführung zu idealistischem Denken gewesen - bis hin zu der Vorstellung bei Oswald Spengler, der Ingenieur sei der Schöpfergott von heute. Dabei ist es den marxistischen Erkenntnistheoretikern zunächst völlig entgangen, daß man diese Eigenheit technischen bzw. technikwissenschaftlichen Denkens sehr gut für eine Spezifizierung unserer eigenen Weltanschauung nutzen kann. Vereinfacht gesagt, ist es doch so, daß der Ingenieur zwar konstruiert, aber zugleich der praktischste und "materialistischste" Mensch unter den Gebildeten und Studierten ist. Der Materialismus muß also vielleicht doch gar nicht so sehr und so einseitig auf ein Abbildkonzept fixiert werden? Kann man nicht außerdem "Abbildung" und "Konstruktion" so zusammenbringen, daß beiden Aspekten Rechnung getragen wird?
Wir haben das im Bereich Philosophie an unserer Sektion Marxismus-Leninismus der Bergakademie Freiberg versucht und dem Projekt den Namen "Freiberger Modell" gegeben. Unser Ziel war es dabei, Konsequenzen aus den Technikwissenschaften für die Weiterentwicklung der marxistischen Theorie zu ziehen. Wir hatten nicht die Illusion vieler meiner Kollegen, den Ingenieuren dadurch bei deren Arbeit zu helfen und ihnen das dialektische Denken beizubringen. Wenn die nicht gut genug für den Sozialismus arbeiteten, dann lag es ganz sicher nicht daran, daß sie die Dialektik unzureichend beherrschten, sondern dann gab es darür Ursachen im gesellschaftlichen Bereich. Hier hatten Philosophen vorrangig anzusetzen, wenn sie die 11. Feuerbachthese ernstnehmen wollten.
Der Grundgedanke des Freiberger Modells sollte deshalb kein geringerer sein, als das in den Technikwissenschaften zu einer bestimmten Perfektion gebrachte Modelldenken als entscheidende Eigenheit menschlichen, und dann also auch marxistischen Denkens zu begreifen und damit also zu praktizieren. Freilich bereitete es einige Schwierigkeiten, das als eine Form materialistischen Denkens verständlich zu machen. In der Tat läßt sich ja technisches Denken nur auf eine Weise charakterisieren, die in traditioneller Lesart eher idealistisch klingt:
1. Das eigentliche Untersuchungsobjekt der Technikwissenschaften ist ja im Unterschied zu dem der Naturwissenschaften weniger die Natur selber, sondern eher der Mensch in seinen Beziehungen zur Natur, und zwar hinsichtlich der in jenem Stoffwechsel zu entwickelnden und einzusetzenden materiell-gegenständlichen Instrumente.
2. Das Ziel dieser Tätigkeit ist demzufolge weniger die Abbildung einer bestimmten Realität, sondern die Schaffung von Realität, deren Gestaltung und nicht zuletzt Beherrschung, und dies auf der Grundlage von konstruktiven Ideen.
3. Die grundlegende Methode dabei ist weniger die Abstraktion, also das in den Wissenschaften übliche Aufsteigen vom Einzelnen zum Allgemeinen mit der einen und richtigen Theorie am Ende des Erkenntnisprozesses, sondern die Konkretisierung. Hier geht es um die interdisziplinäre Verknüpfung allgemeineren wissenschaftlichen Wissens zu einer Singularität, zu einer bestimmten Technik oder Technologie, die unter ganz bestimmten Bedingungen funktionieren muß. Dafür gibt es in der Regel aber mehrere Möglichkeiten (z.B. verschiedene Motortypen, Prozessoren oder Stahlerzeugungsverfahren u.ä.), so daß hier Modellvielfalt typisch ist.
Diese drei Aspekte auf eine materialistische Erkenntnistheorie zu projizieren ist das "Freiberger Modell".
Die Absicht des Freiberger Modells war dann eine zwiefache: Einmal wollten wir diese Bestimmungsstücke technischen Wissens auf menschliches Wissen generell übertragen: Technisches Wissen sollte nun nicht mehr ein Sonder- oder Grenzfall wissenschaftlichen Wissens sein, sondern umgekehrt: traditionell an den klassischen Naturwissenschaften gemessenes und orientiertes Wissen sollte nun ein Sonderfall von Wissen sein, technisches Wissen im obigen Sinne der paradigmatische Fall. Eingedenk der ja nicht unberechtigten Kritik an der Technik bzw. am Technizismus mußte allerdings in einer zweiten Hinsicht eine Korrektur des allgemeinen Modells vom Denken erfolgen: Die Selbstbeschränkung der Ingenieure auf die Beherrschung technischer Systeme unter Abstraktion von all jenen Aspekten, die für das technische Verhalten von Menschen genauso wichtig sind wie die Gewährleistung eines einwandfreien Funktionierens - als da sind: Ökologie, Folgen für zwischenmenschliche Beziehungen im Produktionsprozeß, ästhetische Aspekte, moralische Anforderungen und Konsequenzen, war zu überwinden. Diese Selbstbeschränkung, die den Stoff für die gesellschaftstheoretische Reflexion der Technik durch nicht-technische Sphären der Kultur wie Philosophie und Kunst liefert, ist ja eigentlich schon dadurch aufgebrochen, weil sich Ingenieure vielfach sowohl um wirtschaftliche Aspekte funktionierender Technik als auch um Sicherheitsprobleme beim Umgang mit Technik zu kümmern hatten. Die ersten Ingenieure waren oft auch zugleich Unternehmer wie Siemens und Diesel, und Lehrstühle für technische Sicherheit gibt es an technischen Hochschulen oder Universitäten nicht erst heute.
Eine - wenn man so will: materialistische - Theorie der Technik kann hier ansetzen und konsequent den Gedanken verfolgen, daß der Mensch der Gegenstand von technischer Forschungs- und Entwicklungsarbeit ist. Es ist zwar eine historische Wahrheit, daß das technische Wissen über lange Zeit hinweg tatsächlich als originäre Vorlage für ein Konzept instrumentellen Wissens wie dann auch für die Kritik dieses Konzeptes (z.B. durch die kritische Theorie von Adorno und Horkheimer) gedient hat; und es ist auch wahr, daß dieses Selbst- wie Fremdverständnis von Technik durch die Mehrzahl der technischen Entwicklungen bis in unsere Tage hinein immer wieder bestätigt wird und technikpessimistische und -kritische Auffassungen dadurch neue Nahrung erhalten. Insofern ist es auch eine historisch berechtigte Forderung, dem unkontrollierten Wirken ökonomischer und technischer Entwicklungen Grenzen zu setzen. Aber die Korrekturmechanismen greifen offensichtlich nicht oder immer wieder zu kurz - Ausdruck der Tatsache, daß wir an die Problematik mit einer falschen Theorie herangehen. Diese Theorie behauptet und läßt es gleichzeitig zu, daß sich Technikwissenschaftler und Ingenieure aus ihrer grundlegenden Verantwortung für die Gesellschaft heraushalten und die Berechtigung dafür mit dem Wirken angeblich objektiver Gesetze begründen, die sie nicht außer Kraft setzen könnten. Dann kommen die üblichen Thesen von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, Wettbewerb, Globalisierung, Standort, Effizienz, unternehmerischer Freiheit usw.
Demgegenüber müßte eine materialistisch sein wollende Theorie viel mehr über den Menschen aussagen, der technische Systeme will, sie entwickelt, einsetzt und nutzt. Sie hätte die gängigen Abstraktionen von Technik und technischem Fortschritt als das zu nehmen, was sie sind - als Abstraktionen, die einen realen Prozeß nur in einem ganz bestimmten Aspekt erfassen, zugleich den Blick für die höchst komplexe, konkrete Situation aber eher versperren denn öffnen.
Ob man eine solche Techniktheorie dann der Moderne oder aber schon der Postmoderne zuordnet, ist für die Menschheit ziemlich unwichtig. Sie wäre jedoch auch eine Form des Neuen Denkens, freilich nicht gegen Technik und Technologie gerichtet, wohl aber gegen die meisten Formen, in denen sie sich heute entfalten, wachsen, entwickeln. Capra und Bahro wären im Kreise der Disputation herzlich willkommen, ohne daß wir ihre Lösungen schon für bare Münze nehmen müssen. Es geht eigentlich genau um jenes "und", das Ulrich Beck in seinem Buch über die Erfindung des Politischen zu bestimmen sucht: die Zeit der Trennung und Entgegensetzung, Spezialisierung, der Eindeutigkeit und Berechenbarkeit müsse durch eine Zeit des Nebeneinanders, der Vielheit, der Ungewißheit, der Ambivalenz ersetzt werden bzw. sie hat sich schon wesentlich in dieser Richtung bewegt.
Im marxistischen Sprachgebrauch kommt dieses "und" dem dialektischen Denken nahe, obwohl der Aspekt der Widersprüchlichkeit im Zusammendenken gegensätzlicher Bestimmungen wohl noch schärfer akzentuiert werden müßte. Gleichzeitig müssen wir uns fragen, ob die traditionelle Bestimmung "determinatio est negatio", d.h. Definieren sei immer eine Verneinung, nicht auch gerade durch jenes "und" tatsächlich erst dialektisch wird. Eine Bestimmung, die es scheut, ihren Gegenstand gerade an den Grenzen traditionell voneinander getrennter Gebiete anzusiedeln, verfehlt immer mehr die Forderungen unserer Zeit. Materialismus geht also auf Historizität, auf Komplexität, auf die Beziehung von Individuellem und Sozialem, auf eine praktikable Bestimmung des Materiellen in unserem Leben - und nicht auf eine möglichst exakte Trennung von Ideellem und Materiellem. Materiell an der Gesellschaft ist nicht die Technik oder der biologische Organismus des Menschen - das wäre der übliche materialistische Reduktionismus, der dann in Idealismus umschlägt, wenn menschliches Handeln wirklich erklärt werden soll.
Ein dialektischer Materialismus darf deshalb das Materielle im menschlichen Leben auch nicht mehr absolut dem Ideellen gegenüberstellen wollen. Auch die Frage nach dem Primat läßt sich nur noch in der Beziehung von menschlichem Geist auf der Erde und dem Kosmos als Ganzem stellen und beantworten: Als Materialist nehme ich an, daß sich das Bewußtsein ohne Zutun eines göttlichen Schöpfers aus der kosmischen Materie entwickelt hat - auch wenn der Beweis dafür wohl niemals lückenlos geführt werden kann. Aber dafür ist das ja eine philosophische, und keine einzelwissenschaftliche Behauptung. In allen anderen Aspekten der Beziehung von Materiellem und Ideellem gleicht die Situation der Beziehung von Henne und Ei, und wer wollte hier die Primatfrage stellen und beantworten? Insofern müssen wir uns von der früheren Form des Materialismus trennen, wenn wir noch "Materialismus" haben wollen. Das ist auch die einzige Möglichkeit, Angriffe gegen den Materialismus ins Leere laufen zu lassen.
Es ist nicht nur bezeichnend für die Geschichte des Materialismus, sondern für die des menschlichen Geistes im allgemeinen, daß sich neue Konzepte innerhalb bestimmter philosophischer oder wissenschaftlicher Strömungen nur ganz schwer durchsetzen. Es gibt immer genügend "gute" Gründe, am Alten, anscheinend Bewährten festzuhalten und die Einsicht zu verdrängen, daß gerade auf diese konservative Weise das eigene theoretische System immer mehr degeneriert und schließlich mehr oder weniger gewaltsam abgelöst werden muß.
Im allgemeinen wird die Weiterentwicklung des Materialismus stets mit dem Argument abgelehnt, daß die Gefahr des Abgleitens in den Idealismus droht. In unserem Fall sind es sowohl das Festhalten am traditionellen Abbildbegriff als auch das naive realistische Gegenstandskonzept, das die oben angestellten Überlegungen im Freiberger Modell als idealistisch erscheinen lassen. Außerdem sind solche philosophischen Gedanken natürlich auch niemals zwingend; Technik und Technikwissenschaften lassen sich auch ganz traditionell interpretieren: Letztere haben die Natur bzw. die Technik zu ihrem Gegenstand, als allgemeine Theorien stehen dem Ingenieur die der Mathematik, Physik, Chemie usw. zur Verfügung, welche sich als invariant gegenüber den technischen Modellen erweisen. Technische Modelle repräsentieren dann keine eigenständigen theoretischen Konstruktionen technischer Art, sondern sie sind nichts weiter als Anwendungen naturwissenschaftlicher Theorien. Einen eigenständigen Theoriebildungsprozeß in den Technikwissenschaften gibt es dann nicht. Die technischen Modelle sind keine Theorien, sondern nur Anwendungen von Theorien. Insofern gibt es keinen Grund, die traditionelle Wahrheitsauffassung durch das Modellkonzept zu ersetzen.
Interessanterweise wird diese traditionelle Interpretation von der Mehrzahl der Ingenieure und Technikwissenschaftler geteilt - weil es eben die traditionelle ist. Sie reizt die in der Technik liegenden weltanschaulichen Potenzen und Problemstellungen nicht aus. Die traditionelle marxistische Erkenntnistheorie konnte damit sehr gut leben und sah ihr Abbildkonzept unbehelligt. Tatsächlich kann man - wenn man für ein Modelldenken eintritt, das auf Vielfalt und Pluralität setzt - auch eine solche Interpretation tolerieren und ihren eigenen Sinn selbst dann begreifen, wenn eine andere Interpretation für besser gehalten wird. Aber es ist eben nicht die einzig mögliche Interpretation. Bereits die Anerkennung der Tatsache, daß es solche verschiedenartigen Modelle geben kann, wirft jedoch das altbekannte Wahrheitskonzept über den Haufen, welches seit Aristoteles auch für das materialistische Konzept gehalten worden ist: Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, einem Ausschnitt der objektiven Realität.
Diese auf den ersten Blick so überzeugende, und insofern bis heute im Alltag und in den meisten Wissenschaften immer noch praktizierte Wahrheitsbestimmung ist tatsächlich mit so vielen Problemen beladen, daß immer mehr Philosophien entstanden, die sich mit dieser Bestimmung nicht mehr identifizieren wollten. Instrumentalismus, Pragmatismus, Positivismus, Existenzialismus, Konstruktivismus, analytische Philosophie sowie deren wissenschaftstheoretische, aber auch diskurstheoretische Konkretisierungen gehören hierzu; Thomismus, kritischer Realismus, die evolutionäre Erkenntnistheorie sowie der dialektische Materialismus bemühten sich dagegen, die oben genannte korrespondenztheoretische Fassung des Wahrheitsbegriffs durch Relativierungen, Ergänzungen, Erweiterungen und Korrekturen zu retten.
Im dialektischen Materialismus dominierte dabei die Angst, in den Idealismus abzugleiten; die anderen fürchteten sich vor einem naiven Realismus und Materialismus. Auch hier kam es zu keiner auch nur einigermaßen befriedigenden Lösung. Verschiedene Schulen stehen einander gegenüber, ihre Positionen sind unversöhnlich. Jeder hält sich für den Größten. Der Pluralismus wird verpönt, Toleranz wird nur in dem Sinne praktiziert, wie in vielen Fällen der "Gesunde" einen "Behinderten" akzeptiert und dessen Existenz akzeptiert: als den Schwächeren, Unterlegenen, eigentlich Lebensuntüchtigen, als "falsche" Wirklichkeit.
Da wird natürlich die Höhe des Toleranzgedanken Lessings nicht im entferntesten erreicht, sondern ins Gegenteil verkehrt. In der Urform der Ringparabel von Giovanni Boccaccio (1313-1375) wird Toleranz mit der Begründung eingefordert: Jeder glaubt, die Erbschaft des Vaters und die wahren Gebote in seinem Besitz zu haben; wer sie aber in Wahrheit sein eigen nennt, ist, wie bei den Ringen, noch unentschieden.- Es ist also noch nicht entschieden, wer recht hat, und bis dahin (?) ist Toleranz auf alle Fälle angebracht. Es ist dies eine historische Lösung, und keine systematische.
Für Lessing ist das viel zu wenig, wenngleich auch der historische Aspekt nicht völlig verschwindet: der Vater kann die drei Ringe nicht mehr unterscheiden, und der zur Lösung des Streites angerufene Richter mutmaßt zum einen, daß der echte Ring verlorengegangen ist und die Ringe allesamt nicht echt seien; zum anderen fordert er von den drei Söhnen, jeder sollte seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nacheifern. Dann sei es über tausende Jahre vielleicht möglich festzustellen, wer in diesem Wettstreit die Kraft des Steines, vor Gott und Mensch angenehm zu machen, tatsächlich besitzt.
Die Angelegenheit bleibt unentschieden, möglicherweise für immer. Das Original ist verloren, vielleicht hat es ein solches aber auch gar nicht gegeben. Das Urbild ist eine nicht so sehr theoretische als vielmehr praktische Idee, die unser Handeln regulativ beeinflußt und gleichzeitig eine Sicherheit verleihen kann, die aus rein theoretischer Begründung niemals entsteht. In dieser Weise dürfte also Lessing Aufklärung verstanden haben, und wir sehen dabei, daß Aufklärung nicht auf wissenschaftliche Begründung oder gar Wissenschaftszentrismus, Scientismus, reduziert werden darf.
Aber es bleibt dennoch das interessante theoretische Problem, wie man solche Pluralität von Weltanschauungen nicht nur spontan und praktisch akzeptieren, sondern auch wiederum theoretisch, philosophisch, als möglich denken kann. Der Leser wird es nun schon selber erraten haben: mit dem klassischen Wissenschaftsverständnis ist das freilich gerade nicht zu haben.
Bleibt die Frage nach dem Diskurs. Modelldenken, wie ich es von den Technikwissenschaften her begründet habe, ermöglicht und erfordert den Diskurs, die Diskussion. Sowohl die objektivistische Wahrheitsauffassung als auch die postmoderne Konzeption der Beliebigkeit machen den Diskurs eigentlich unnötig bzw. sie schließen ihn von ihrem theoretischen Ansatz her aus; im ersten Fall verkommt der Diskurs zur Agitation und Belehrung, im zweiten geht es nur noch um den Disput um des Disputes willen. Natürlich ist der Disput selber schon interessant und Ausdruck menschlicher Denk- und Sprechfähigkeit; aber auf Dauer bleibt das unbefriedigend. In meinem Modell der Technikwissenschaften stellt sich der Diskurs als interdisziplinäres Gespräch - ob im Kopf des einzelnen oder in der Forschungsgruppe oder auf der Konferenz - zwischen Vertretern verschiedener theoretischer Konzepte ohne festgelegte Hierarchie dar. Die Physik kann in bestimmte Fällen das Sagen haben, sie muß sich aber auch unterordnen können; es gibt nicht den absoluten Schiedsrichter. Für jede einzelne technische Lösung im Sinne einer Singularität baut sich eine konkrete Hierarchie von theoretischen Ebenen auf, die aber eben nicht universell gültig ist. Es gibt keinen absolut festen Punkt, von dem aus man die Erde aus den Angeln heben könnte. Und wenn doch, dann ist er bezüglich praktischen Handelns so abstrakt wie das Verbot eines perpetuum mobile: Das Verbot kann uns vor Irrwegen bewahren, sagt aber überhaupt nichts darüber aus, was wir weshalb in dieser Welt technisch gestalten wollen.
Wenn man diesen Aspekt methodologisch auf die Behandlung gesellschaftstheoretischer Fragen überträgt, könnte es möglich werden, ein solches Niveau von Diskussion und Diskurs zu erreichen, das es uns gestattet, wirklich Probleme zu lösen, anstatt immer nur beweisen zu wollen, daß nur "ich" dazu in der Lage bin. Die Arbeitsweise des Ingenieurs kann dafür als Modell dienen - wenn wir sie so verstehen, wie oben angedeutet: als auf Zukünftiges bezogen, offen für Neues, kooperativ und interdisziplinär, materialistisch im heuristisch-regulativen Sinne. Es geht nicht nur ums Überleben der Menschheit schlechthin, sondern um ein neu zu entwerfendes sinnvolles Leben, und niemand hilft uns dabei, wenn wir uns nicht selber helfen. Also dorthin, so denke ich, geht der Materialismus, wenn er denn überhaupt noch gehen soll. Freilich muß dann auch Modellvielfalt in dieser Angelegenheit gelten.

Weiterführende Literatur:
- Philosophie in der Krise. Dietz Berlin 1991
- zusammen mit H.Gebauer: Für ein komplexeres Verständnis von Wissenschaft, in: DZPh 1987, 3, S. 243-250
- Montanwissenschaft und Philosophie, Freiberger Forschungshefte D 184, Leipzig 1988