Frank Richter:

Gesetzesbegriff und Technikgesetz
Bemerkungen zum Text von Annette Schlemm
sowie zu dem Kommentar von Herbert Hörz dazu.

Dieser Text kann an einer anderen Stelle als Open-Theory-Projekt
abschnittsweise kommentiert werden.

Erklärung: Mein Text stammt aus dem Jahre 1983 und er gibt freilich damit primär meinen eigenen Erkenntnisstand aus jener Zeit wider. Der Text ist ein Kapitel auf einem geplanten Buchmanuskript mit dem Titel "Praktische Wissenschaftstheorie", aus dem jedoch – ob nun primär aus Papiermangel oder mangelndem Interesse an der Thematik generell – dann nichts wurde. Natürlich könnte man den Text jetzt bearbeiten. Es ist aber vielleicht reizvoller, in der von Annette Schlemm dankenswerterweise angestifteten Debatte einmal zeigen zu wollen, wie wir damals diskutiert (oder eben nicht diskutiert) haben. Verweise im Text auf andere Kapitel habe ich stehengelassen, denn es gab ja weitere Kapitel...

In der Regel bin ich mit meinen Auffassungen damals bei den betroffenen DDR-Philosophen auf Ablehnung oder Unverständnis gestoßen. Am ehesten fand ich noch einen gemeinsamen Draht mit Herbert Hörz, obwohl ich auch bei ihm eine wirklich philosophische Auswertung der Erkenntnisstandards der Technikwissenschaften vermißte. Wir redeten viel über die Technikwissenschaften, gaben ihnen gute Ratschläge, wie sie mittels Dialektik ihre Leistungen erhöhen könnten und maßen uns an, über das Risiko technischer Entwicklungsarbeit zu reden, als es längst um unser Versagen vor den Risiken des Philosophierens hätte gehen müssen.

Nicht erst damals steckte unser DDR-marxistisches Philosophieren in einer Krise, und daran änderten auch solche guten Ansätze wie die von Herbert Hörz zum statistischen Gesetz oder von Karl-Fried Wessel zum marxistischen Menschenbild u.a. grundsätzlich nichts. Es handelte sich nur um punktuelle Dinge, der Boden für ein interessiertes Aufnehmen und Weiterführen war nicht bereitet, und schließlich fühlten wir uns in unseren geistigen Nischen dann doch noch ganz wohl. Die Risiken hielten sich eben in Grenzen.

Die nachfolgenden Ausführungen sind DDR-zentriert, das muß ich zugeben. Sowjetische Literatur habe ich an anderer Stelle auszuwerten versucht, westliche Literatur gab zu diesen Themen nichts oder wenigstens nicht viel her, wie ich mit zahlreichen Rezensionen bis 1990 (in der Deutschen Literaturzeitung bei der Akademie der Wissenschaften der DDR) belegen konnte und heute noch kann. DDR-Philosophie tauchte in den zu besprechenden Arbeiten praktisch niemals auf, und auch eine "Gesetzesproblematik" existierte eigentlich nicht. Dafür wurde zum Theorie- und Modellbegriff umfassend gearbeitet, und da waren dann Parallelen schon sichtbar. Die Arbeiten von Stachowiak und Stegmüller zum Theorieverständnis waren für mich damals wichtig und ich habe mich damals bemüht, wenigstens für mich dorthin bestimmte Brücken zu schlagen. Das wäre Stoff für einen weiteren Beitrag.

Hier antworte ich im einstweilen nur auf die Frage von Annette Schlemm zu den Technikgesetzen. Es wird allerdings auch sichtbar, daß eine Antwort darauf im Prinzip alle Aspekte der Gesetzesproblematik berühren und umfassen muß.

Gibt es spezifische Technikgesetze?

Seit dem Ende der 60er Jahre wird in der DDR diese Frage diskutiert 1 Fünfzehn Jahre später ist die Debatte noch nicht beendet, es gibt sowohl Befürworter wie Gegner im "Lager" der Techniker wie Philosophen, und bis jetzt hat wohl keine der beiden Seiten solche schlagenden Argumente, die den Streit entscheiden könnten. Mißverständnisse tragen wie üblich zur Verwirrung bei. Dabei habe ich den Eindruck, als verhielte sich die Mehrheit der Techniker zurückhaltend bis ablehnend, bei den engagierten Wissenschaftstheoretikern dominiert die Tendenz der Anerkennung solcher Gesetze. Dafür wiederum sollte wesentlich der Zufall verantwortlich sein, daß die Mehrheit der Wissenschaftstheoretiker, die sich mit den TW [Technikwissenschaften] befassen, gerade diese Auffassung bevorzugen. Der Wunsch ist da vielfach der Vater des Gedankens, und noch nicht in erster Linie das überzeugende Argument. Sicher ist die Beweisführung naheliegend: Wenn es sich bei den TW tatsächlich um Wissenschaft handeln soll und wenn eine stärkere theoretische Durchdringung und Verallgemeinerung der Ingenieurarbeit auf der Tagesordnung steht, dann trägt gerade das Aufdecken von Technikgesetzen dazu bei, jenen Verwissenschaftlichungsprozeß zu beschleunigen. 2 Das stimmt mit der materialistischen Position überein, daß wissenschaftliche Erkenntnis Gesetzeserkenntnis ist. Auch läßt sich die materialistische Bestimmung des Gesetzes als wesentlicher, allgemeiner und notwendiger, an bestimmte Bedingungen gebundener Zusammenhang ohne Schwierigkeiten auch auf technische Strukturen und Prozesse übertragen: Wir beherrschen eine Technologie ohne Zweifel gerade dann, wenn wir die Bedingungen kennen bzw. herstellen können, unter denen ein Verfahren zuverlässig arbeitet. Das heißt gleichzeitig, daß wir die wesentlichen Parameter des Verfahrens beherrschen und reproduzieren können - auch unter verschiedenartigen territorialen und betrieblichen Bedingungen. 3 Auch ließe sich die statistische Gesetzeskonzeption, die von H. Hörz entwickelt wurde, wahrscheinlich ohne größere Modifikationen auch in der Technik anwenden, denn die Dialektik von System und Element in der Technik führt dazu, daß die Dialektik von Notwendigkeit und Zufall in der Gesetzesstruktur berücksichtigt werden muß. 4 Allerdings klammert Hörz bisher den Bereich der Technik aus seinen Darlegungen aus. 5 Das ist zumindest ein indirekter Hinweis darauf, daß die obige "Beweisführung" für die Existenz von Technikgesetzen so sicher noch gar nicht ist und sich einigen Gegenargumenten bisher nur schwer entziehen kann. Es sei hinzugefügt, daß es mir so vorkommt, als gestatte es der bisher erreichte Entwicklungsstand unserer Gesetzestheorie trotz der von der Schule Herbert Hörz‘ eingebrachten umfangreichen Ergebnisse noch nicht, die oben gestellte Frage beweiskräftig beantworten zu können. Das betrifft insbesondere Teilfragen, die mit der Objektivität, der "Existenz" und dem "Wirken" von Gesetzen zusammenhängen, sowie das Verhältnis von Gesetz und Bedingung sowie von Gesetz und menschlichem Handeln.

Einer systematischen Erörterung der verschiedenen Argumente vorgreifend, möchte ich mich zu der Auffassung bekennen, daß es in technischen Verfahren und Gebilden spezifische Technikgesetze gibt, die sich nicht auf eine Gesamtheit von Naturgesetzen bzw. Naturprozessen und auch nicht auf eine Gesamtheit von Natur- und gesellschaftlichen Gesetzen und Prozessen zurückführen lassen. Es ist dann zu erwarten, daß es dann auch in der Technik allgemeinere und speziellere Gesetze gibt.- Es kann und wird dabei nicht um endgültige Beweise o.ä. gehen. Vielfach handelt es sich um Hinweise, die auf philosophische und wissenschaftstheoretische Verallgemeinerungsfähigkeit hin erst noch geprüft werden müssen. In den nachfolgenden Abschnitten wird damit begonnen, aber mehr auch nicht.

M. E. sind folgende Teilfragen zu beantworten:

  1. Ist es notwendig, den z. Z. gebräuchlichen Begriff von "Objektivität von Gesetzen" zu ändern, wenn wir die Existenz von Technikgesetzen anerkennen?

  2. Ergeben sich Konsequenzen für den materialistischen Theoriebegriff, wenn wir technischen Strukturen, die ja ihren ideellen Abbildern zumindest den Charakter von potentiellen Aufforderungen verleihen, gesetzmäßigen Charakter zusprechen?

  3. Nach welchen Kriterien wären solche Gesetzesformulierungen zu bewerten (Wahrheit? Beherrschbarkeit, Nützlichkeit, Funktionalität?)

  4. Existieren Analogiebeziehungen zwischen juristischen und Technikgesetzen oder vielleicht genereller zwischen gesellschaftlichen Gesetzen und Technikgesetzen?

  5. Was meinen wir eigentlich, wenn wir sagen, daß in technischen Systemen Naturgesetze wirken bzw. existieren?

  6. Läßt sich die Unterscheidung von philosophischem Reduktionismus und einzelwissenschaftlicher Reduktion heuristisch für die Analyse des Verhältnisses von Natur- und Technikgesetzen nutzen?

  7. Wie gelangt der Techniker eigentlich zu technischen Prinzipien 6 und welche Rolle spielen dabei Naturgesetze?

  8. Ist die systemtheoretische Betrachtungsweise hinreichend und/oder notwendig, um die Existenz von Technikgesetzen nachweisen zu können?

  9. Welche unterschiedlichen Gruppen von Technikgesetzen sind denkbar?

  10. Welche praktischen Konsequenzen hätte die Existenz von Technikgesetzen für die Arbeit des Technikers?

Ich habe die Hoffnung, die wichtigsten Fragen gefunden zu haben - das wäre schon ein wesentlicher Schritt zur Lösung unseres Problems. Machen wir den Versuch, sie zu beantworten!

 

Bereits die erste Fragen bereitet erhebliche Schwierigkeiten, auf die wir schon z. T. bei der Darstellung des Gegenstandsbegriffs gestoßen sind. Objektiv im Sinne von subjektunabhängig 7 kann ja verschiedenes bedeuten, weil Subjektunabhängigkeit relativ ist: die Bedeutungsvielfalt reicht von "materiell" bis "intersubjektiv". Außerdem kann Objektivität erkenntnistheoretisch und/oder handlungstheoretisch aufgefaßt werden; ersteres dominiert ("Wissenschaftliche Gesetze sind deshalb objektiv, weil sie die Gesetze der objektiven Realität widerspiegeln"), und die Bestimmung von Objektivität als "Invarianz in und gegenüber menschlichem Handeln" 8 hat m. W. in entsprechende Standardwerke noch keine Aufnahme gefunden. Beide Interpretationen lassen sich m. E. unbedenklich auf technische Strukturen anwenden. Sowohl das technische Prinzip des Sauerstoffaufblasverfahrens (Erschmelzung von Stahl in einem Konverter durch Einblasen reinen Sauerstoffs. Siehe Fallstudie 17 als auch das realisierte Verfahren sind in beiderlei Hinsicht subjektunabhängig. 9Es gibt aber eine weitere Möglichkeit, die Objektivität von Gesetzen zu bestimmen, indem wir auf die Beziehung von Gesetz und Bedingung reflektieren: Ein Gesetz ist insofern objektiv, als die wesentlichen und allgemeinen Zusammenhänge eines Systems durch spezifische Bedingungen mit einer bestimmten Notwendigkeit in subjektunabhängiger Weise determiniert werden. Gesetze sind durch Bedingungen gesetzte Zusammenhänge, wobei Objektivität durchaus auch Resultat bewußter Tätigkeit des Menschen sein kann: Das Möglichkeitsfeld setzbarer Zusammenhänge in Technik, Politik und Kultur ist nicht im einzelnen vorgegeben, sondern nur in seinen Grenzen durch allgemeingültige Natur- und Gesellschaftsgesetze bestimmt. 10 Die erkenntnis- wie handlungstheoretische Interpretation von Objektivität können dann als spezielle Sichtweisen des Zusammenhangs von Gesetz und Bedingung aufgefaßt werden, wobei die erkenntnistheoretische Sicht wiederum Moment der handlungstheoretischen werden kann und muß, wenn wir die Veränderung der Welt und deren innere, theoretisch abhebbare Strukturen im Auge haben.

Wir brauchen demzufolge den Begriff von Objektivität nicht zu ändern, um die Existenz von Technikgesetzen anerkennen zu können. Wir sehen aber sofort, daß die Konsequenzen für unseren traditionellen Theoriebegriff größer sind. Die strenge Trennung von Theorie und Methode läßt sich dann nicht mehr aufrechterhalten, 11 selbst wenn technische Theorien nicht unbedingt den Charakter von Normen oder Aufforderungen im strenge Sinne besitzen. 12 Da sie jedoch angeben, was zu tun ist, um diesen oder jenen technischen Zweck zu erfüllen, enthalten sie stets ein normatives bzw. präskriptives Moment, wogegen wir unter Theorie bislang im der Regel eine begrifflich deskriptive Abbildung eines bestimmten Gegenstandes verstehen. Um das zu ändern, müssen wir unseren Theoriebegriff sowohl erweitern als auch einengen: Wir stellen künftig Theorie nur der Praxis (verstanden als materiell-gegenständliche Tätigkeit gegenüber, wobei Theorie als wissenschaftliches Wissen identisch mit Gesetzeswissen ist. Gegenüberstellungen von Theorie zu Hypothese wie zu Empirie (ja! wohlgemerkt: auch zu Empirie und gerade zu Empirie 13) müssen entfallen, um die in der Literatur vorkommenden vielfältigen Verwechslungen und Mißverständnisse zu vermeiden: Alles wissenschaftliche Wissen, auch das deskriptiv-präskriptive Wissen der TW ist dann theoretisch.

Wird nun nach Kriterien gefragt, nach welchen dieses theoretische Gesetzeswissen in den TW bewertet werden kann, so finden wir in der Literatur die Kriterien Wahrheit, Richtigkeit, Adäquatheit und Erfüllbarkeit. 14

Diese Diskussion macht sich nur deshalb erforderlich, weil die Wahrheit - wiederum wegen der Forderung nach Objektivität - jenen Formen des Wissens vorbehalten bleiben soll, durch welche Gegenstände deskriptiv abgebildet werden. Wir werden im nächsten Abschnitt detaillierter als das hier möglich ist zu zeigen versuchen, daß die in der Antwort zur ersten Frage hergestellte Beziehung von Objektivität und Technikgesetz auch die Grundlage dafür liefert, technische Theorien als objektiv und damit als wahr auszuzeichnen, wobei andere Kriterien, wie z. B. Erfüllbarkeit, zur näheren Kennzeichnung der Spezifik technischer Theorien durchaus geeignet und brauchbar sind.

Letztendlich läuft eine derartige Bestimmung von Objektivität auch darauf hinaus, verschiedene Qualitäten von Objektivität zu kennzeichnen. Dann ergibt sich die Möglichkeit, solche Zusammenhänge wie juristische Gesetze, die als Ausdruck der Existenz von Klasseninteressen, folglich als von subjektiver Natur gewertet und auf diese Weise vom Gesetz im philosophischen Sinne, d. h. hier im Sinne einer Objektivität der Gesetze, säuberlich unterschieden werden, 15 unter diesem erweiterten Gesichtspunkt in die Gesetzesproblematik einzubeziehen. Der Zusammenhang von juristischen Gesetzen und Gesellschaftsgesetzen ist dann nicht mehr auf die ohne Zweifel außerordentlich wichtige Frage der Verwirklichung gesellschaftlicher Gesetze mit Hilfe juristischer Gesetze reduzierbar, sondern betrifft dann auch gesetzmäßige Zusammenhänge im Recht selber. 16 Sind die spezifischen Gesetze des Rechts Zusammenhänge des Prozesses der rechtlichen Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse, 17so drängen sich bestimmte Vergleiche zu den Technikgesetzen geradezu auf, so wie umgekehrt das Studium technischer Gesetze bestimmte Aufschlüsse über die Gesetze der Struktur und Entwicklung von Rechtsverhältnissen geben könnte. Zwar ist die Subjektunabhängigkeit solcher Gesetze nicht identisch mit derjenigen von Naturgesetzen, aber objektive Gesetze gibt es offensichtlich nicht nur in der bewußtseinsunabhängigen Natur und Gesellschaft (genauer: hinsichtlich bewußtseinsunabhängiger Strukturen der Gesellschaft), sondern auch in und für die menschliche Tätigkeit in ihren verschiedenen Dimensionen. Die Strukturen solchen Handelns sind weder gottgegeben, noch menschlicher, subjektiver Willkür gegenüber offen. Gerade darauf kommt es aber an, wenn wir die weltanschauliche Bedeutung des Gesetzesbegriffes rekapitulieren.

Damit sind wir bei der Frage nach der Wirkungsweise von Naturgesetzen in technischen Systemen angelangt. Das ist ein sehr schwieriges, in unserer Literatur m. E. unterschätztes Problem, weil die in solchen Zusammenhängen verwendeten Termini Wirkung und Existenz durch ihre (meist unausgesprochen bleibende) Kopplung an andere Termini (wie Ursache und Essenz bzw. Wesen) ständig irgendwelche Assoziationen hervorrufen, 18die beim besten Willen nicht gemeint sein können, aber einer befriedigende Klärung der Sachlage wesentlich erschweren oder gar völlig unmöglich machen. Letztlich sind wir dann doch wieder an den Universalienstreit verwiesen, für den wir aber wohl auch nur Lösungen erster Näherung besitzen. 19 Was wir aber über den Zusammenhang von Technik und Natur immer sagen können, ist dies: Alle in technischen Systemen vorkommenden Elemente und Relationen zwischen den Elementen sind naturgesetzlich möglich. Ich sage bewußt nicht, daß es sich bei diesen Strukturen und Vorgängen samt und sonders um Naturvorgänge usw. handelt, denn sofort gerate ich dann in die Schwierigkeit sagen zu müssen, daß zumindest ein Teil dieser Naturvorgänge in der Natur nicht oder nur mit einer nahe bei null liegenden Wahrscheinlichkeit vorkommt. Zumindest für jede stofflich-energetische Beziehung in einem technischen System kann der Techniker im Prinzip das entsprechende Gesetz bzw. die entsprechenden Gesetze nachweisen bzw. den Naturwissenschaftler auffordern, die entsprechenden Gesetze zu suchen. So lassen sich die Verbrennungsprozesse von Kohlenstoff, Phosphor und Stickstoff beim Sauerstoffaufblasverfahren auf die entsprechenden physikalisch-chemischen Gesetze zurückführen - und zwar zurückführen zunächst im Sinne von Erklären. Bereits der Übergang von der thermodynamischen zur kinetischen, also die Geschwindigkeit der Oxidationsprozesse berücksichtigenden Betrachtung bringt neue Parameter ins Spiel, die auf Grund ihrer Komplexität nur noch "theoretisch" (hier: zwar noch fiktiv annehmbar, aber niemals verwirklichbar) auf Naturgesetze oder -vorgänge zurückgeführt werden können. Da das Verfahren aber in endlicher Zeit zum Laufen gebracht werden muß, sind diese Parameter als von technischer Natur auf spezifische Weise, und zwar empirisch-theoretisch 20 zu finden und zu bestimmen - selbst wenn in dieser Ebene des technischen Systems ökonomische oder arbeitswissenschaftliche u. a. Gesichtspunkte noch keine Rolle spielen. Wenn wir nun noch berücksichtigen, daß technische Systeme immer als hierarchisch strukturierte Systeme aufzufassen sind, wobei die Ebene der Mikroprozesse zwar von immer größerer Bedeutung für die Beherrschung des Gesamtprozesses wird, aber insgesamt eben nur ein Element, eine Ebene dieses Systems darstellt, so wird klar, in welchem Sinne man von einer Reduktion technischer Strukturen und Prozesse auf Naturgesetze sprechen darf und in welchem Sinne nicht. 21

Die Überlegungen von Helge Wendt über die strategische Nutzung von Naturgesetzen und die "Herleitung" von technischen Prinzipvorschriften aus Naturgesetzen (Frage 7) liefern deshalb zwar eine theoretische Rekonstruktion bestimmter logischer Beziehungen zwischen technischen und naturwissenschaftlichen Theorien, aber die bewußte Ausklammerung des Vorganges der Problembildung im technikwissenschaftlichen Forschungsprozeß 22 verführt den Verfasser, die logischen Beziehungen zwar nicht im Sinne einer logischen Ableitung, so doch aber als Herleitung 23 zu interpretieren, ohne hinreichend zu berücksichtigen, daß die Aufgabenstellung, bestimmte Naturgesetze für die Entwicklung eines technologischen Verfahrens zu nutzen, eigentlich immer auf dem Wissen darüber beruht, daß ein bestimmtes Verfahren bereits existiert, schon einigermaßen zufriedenstellend funktioniert (oder eben noch nicht) und daß es nun darum geht, dieses Verfahren zu verbessern, zu optimieren. 25 Selbst dann, wenn wie in der Keramikforschung völlig neue Technologien gesucht werden (wo das Wendtsche Erklärungschema also noch am ehesten zutreffen sollte) 25, stehen die alten Technologien zumindest indirekt Pate. (Sicher trifft das auch für die Kernenergie u.ä. zu.)

Eine wissenschaftstheoretische Erklärung dieser technikwissenschaftlichen Arbeitsweise wird durch systemtheoretische Betrachtungen 26 sicherlich gefördert, m. E. jedoch nicht schon bereitgestellt. Die Elemente und Relationen müssen schließlich interpretiert werden. Das aber kann nur eine allgemeine Theorie der Technik leisten. Die Systemtheorie könnte uns andererseits zwingen, das, war wir als Dialektiker bei der Analyse wie (theoretischen) Synthese technischer Gebilde und Verfahren gern miteinander verknüpfen möchten und müssen (also die natürlichen, technischen, ökonomischen usw. Aspekte) erst einmal sauber voneinander zu unterscheiden. Sie kann abstrakte Modelle komplexer dialektischer Strukturen liefern, die dann wiederum zu konkretisieren wären. Auf diese Weise kann sie den Dialektiker davor bewahren, aus Angst vor der Metaphysik selber zum Metaphysiker zu werden. 27

Damit sind wir schon bei der Untergliederung der Technikgesetze angelangt, die wir jetzt ganz allgemein als antizipierende (normativ-beschreibende, präskriptiv-deskriptive), relativ allgemeingültige und zur materiell-gegenständlichen Realisierung fähige Widerspiegelungen technischer Systeme kennzeichnen wollen. Ist die Realisierbarkeit gegeben, so ist das entsprechende Gesetz objektiv - gleichgültig, ob das Verfahren schon realisiert ist oder nicht. 28 Es scheint nun zweckmäßig zu sein, die Existenz solcher Technikgesetze in zumindest zwei Allgemeinheitsgraden anzuerkennen: Einmal in der Ebene universell anwendbarer Strukturen von technischen Prinzipvorschriften, etwa in Gestalt der schon dargestellten Hierarchie verfahrenstechnischer System oder der Hierarchie der Automatisierungsmittel in funktioneller und räumlicher Hinsicht. 29 Andererseits dürfte es auch sinnvoll sein, den Gesetzesbegriff in Bezug auf Grundklassen verfahrenstechnischer Systeme anzuwenden, weil hier die grundlegenden Verfahrensprinzipien in wiederum typisch gesetzmäßiger Weise abgewandelt und konkretisiert werden. Wahrscheinlich kann man hier wiederum in verschiedene Unterebenen gliedern (z. B. Filtrieren, Destillieren, Agglomerieren; das verfahrenstechnische Prinzip des Siemens-Martin-Ofens, des Elektroofens, des Sauerstoffaufblasverfahrens, usw.)

Damit sind bei der Frage nach dem Wert all dieser Überlegungen angekommen. Ich bin nicht so optimistisch wie mein Kollege Hochmuth, der annimmt, daß insbesondere die Durchsetzung eines solchen Gesetzesdenkens in den TW deren Verwissenschaftlichungsprozeß wesentlich stimuliert 30 Zum einen sind es ja Bezeichnungsfragen, und ob ich etwas technische Prinzipvorschrift oder Gesetz nenne, ist nicht so wichtig, wenn ich nur die Spezifik des Technischen in Lehre und Forschung ausreichend beachte. Und das ist prinzipiell auch mit der alten Terminologie möglich. Dort, wo keine ausreichende Klarheit über die Spezifik des Technischen besteht, kann eine derartige Diskussion zum Nachdenken anregen und insofern indirekt wirken. Wichtig ist die Klärung der hier angeschnittenen Fragen für eine richtige Einordnung der TW in das Wissenschaftssystem insgesamt und für die weitere Klärung und Diskussion bestimmter philosophischer Kategorien.


)1 Die Diskussion beginnt etwa mit der Arbeit von Johannes Müller: Zur Bestimmung der Begriffe "Technik" und "technisches Gesetz". DZfPH 1967,12. Einen Überblick über die sich daran anschließende Literatur gibt u.a. G. Banse/B. Thiele: Gesetz und Gesetzmäßigkeit in der Technik. DZfPH 1977, 2, 190f. Gegen die Existenz von Technikgesetzen hat sich vor allem H. Wendt ausgesprochen, u. a. in: Natur und Technik-Theorie und Strategie. Berlin 1976, S. 144f.

)2G. Hochmuth/D. Rausendorff: Zum Unterschied zwischen Gesetz und Bedingung in technischen Gebilden und Verfahren. DZfPH 1982, 1, S. 110

)3 Entsprechend der in der Literatur üblichen Klassifizierung der Bedingungen in spezifische Wirkungsbedingungen und Begleitbedingungen, wobei sich nur die ersteren auf das Gesetz auswirken, gehören die territorialen und betrieblichen Bedingungen zu den Begleitbedingungen. Allerdings ist die philosophische Begriffsbildung hier noch nicht ganz zufriedenstellend. Wenn sich die Begleitbedingungen nicht auf das Gesetz auswirken, sind sie also gar keine Bedingungen für das Gesetz. Sie sind also nur Bedingungen für den realen Prozeß, das technische Gebilde, in dem das betreffende Gesetz wirkt.

)4 vgl. dazu H. Hörz: Zufall - eine philosophische Untersuchung. Berlin 1980, S. 97,99.- Insbesondere durch eine Einbeziehung von Zuverlässigkeitstheorie und Beobachtungstheorie in die Problematik technischer Gesetze sollte sich die Dialektik von Notwendigkeit und Zufall entsprechend berücksichtigen lassen.

)5 In seiner Arbeit zum Zufall behandelt Hörz die Bereiche der Physik, Biologie, Mathematik und Gesellschaftswissenschaften.

)6 H. Wendt: Natur und Technik - Theorie und Strategie. Berlin 1976, S. 122f.

)7 H. Hörz: Zufall..., a.a.O., S. 86

)8 H. Hörz: Ergebnisse und Aufgaben einer marxistischen Theorie des objektiven Gesetzes. Berlin 1968 (Sitzungsberichte er Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie.., 1968, Nr. 7), S. 22

)9 So besitzen einmal geschaffene Gebilde die Eigenschaft der Materialität, weil sie bei einer erfolgenden ideellen Widerspiegelung primär gegenüber den sie abbildenden Empfindungen sind. Daß sie vom Menschen einmal mit Bewußtsein hergestellt wurden, spielt bezüglich dieser Abbildrelation keine Rolle. In dieser Beziehung fallen also "objektiv" und "materiell" zusammen.
In handlungstheoretischer Hinsicht sind technische Gebilde objektiv, d. h. invariant gegenüber und in menschlichem Handeln, weil sich wirklich funktionierende Technik nicht willkürlich und beliebig herstellen und verwenden läßt.

)10Dazu gehören z. B. der Energierhaltungssatz, aber auch solche gesetzmäßige Zusammenhänge, daß der Mensch essen muß, um leben und Politik treiben zu können und daß sich die Bedürfnisse stets entwickeln.

)11H. Metzler: Zum Verhältnis von Theorie und Methode. DZfPH Sonderheft 1965, S. 267

)12 vgl. dazu die bei Wendt: Natur und Technik.., a.a.O., S. 22f geführte und reflektierte Diskussion über den logischen Charakter der in technischen Vorschriften stets vorkommenden Aufforderungen

)13 Obwohl der Unterschied zwischen Theorie und Hypothese relativ ist (es gibt keine vollständig bestätigten erfahrungswissenschaftlichen Theorien), verführt die Gegenüberstellung Theorie/Hypothese doch immer wieder dazu, Theorien für endgültig bestätigt zu halten. Außerdem macht eine jede Überprüfung einer Theorie aus dieser eine Hypothese - zumindest gegenüber jenem Objektbereich, der mit Hilfe dieser Theorie nach Möglichkeit (neu) erklärt werden soll. Das ist ein zweiter Aspekt der Relativität von Theorie und Hypothese.
Auch das erkenntnistheoretische Operieren mit einem Gegensatzpaar wie Empirisches/Theoretisches verführt uns als "Dialektiker" häufig dazu, Positionen einzunehmen, die wir als positivistisch oder dem Positivismus nahestehend eigentlich ablehnen müßten. Selbst bei Wendt (ebenda S. 75) finden wir letztendlich das Zweisprachenkonzept der 30er Jahre. Wir müssen das Empirische entweder konsequent als empirisches im Sinne von vorwissenschafltichem Herangehen an die Realität werten, oder als erfahrungswissenschaftliches Herangehen, was aber stets theoriegeleitet ist. Dann aber sind Empirisches und Theoretisches keine Alternativen.

)14 H. Wendt: Natur und Technik, a.a.O., S. 127
)15 vgl. Philosophisches Wörterbuch, hrsg. von G. Klaus und M. Buhr, Leipzig 1969, Bd.1, S. 443)
16 K. A. Mollnau: Objektive Gesetze, sozialistisches Recht und seine gesellschaftliche Wirksamkeit. DZfPH 1982, 10, S. 1250

)17 ebenda

)18 Was soll es heißen, daß ein Gesetz wirkt? Theologisch hätte diese Aussage den Sinn, daß göttliches Gesetz menschliches Handeln bestimmt und lenkt - also das Gesetz wirkt. Das ist möglich, weil es von der irdischen Welt getrennt existiert, und deshalb ist die Kausalbeziehung hier sprachlich einsetzbar.
Wir sind aber keine Theologen. Für den Dialektiker existieren Gesetze nicht außerhalb der Zusammenhänge, deren wesentliche Struktur sie bestimmen. Eine Herauslösung der wesentlichen usw. Seiten ist nur in der theoretischen Abstraktion möglich. Verwenden wir jedoch die Kausalbeziehung, um etwas über Gesetze auszusagen, so verdinglichen wir unsere Abstraktionen, und wir können es uns zum Schluß aussuchen, ob das nun mechanistisch oder quasitheologisch ist.

)19 Natürlich existiert das Allgemeine im Einzelnen, bevor es im Erkenntnisprozeß ideell aus dem Einzelnen herausgelöst wird. Aber diese Feststellung dürfte noch nicht die ganze Wahrheit über die Beziehungen von Allgemeinem und Einzelnem sein. Was ist denn Einzelnes? Es ist dialektisch identisch mit dem Allgemeinen , denn es existiert nicht anders als in dem Zusammenhang, der zum Allgemeinen führt (W. I. Lenin: Zur Frage der Dialektik. Werke Bd. 38, Berlin 1978, S. 340). Diese Tautologie läßt sich offensichtlich nur auflösen, wenn wir die ganze Angelegenheit als einen Prozeß auffassen. Nun ist die Erkenntnis ja wirklich ein Prozeß, und für Hegel ist die Dialektik der Realität tatsächlich identisch mit der Erkenntnis, da sie eine Widerspiegelung der Erkenntnis ist. Der Materialist muß diese Beziehung jedoch umkehren, und damit wird für uns jene Identität von Allgemeinem und Einzelnem im Gesetz, die sich in einem Prozeß entfaltet und so auflöst, zu einem Problem. Ich glaube nicht, daß wir diese Frage in unserer Philosophie terminologisch ausreichend erfaßt haben, geschweige denn in den Einzelwissenschaften. Letztere "behelfen"" sich, indem sie an ein Problem der "Vernunft" mit den Mitteln des "Verstandes" herangehen - und selbst diese Formulierung ist selbst äußerst anfechtbar, wie wir im Abschnitt 3.3. (S. 177) gesehen haben

)20 Siehe den zweiten Teil der Fußnote 13. Die Anpassung der Parameter eines Models an die Realität ist also eine theoretische Arbeit, in welche die Abbildung und Konstruktion von Erfahrungswirklichkeit eingeschlossen ist.

)21 vgl. dazu die stark vereinfachte Prozeßhierarchie eines verfahrenstechnischen Prozesses (nach K. Hartmann, Hrsg.: Analyse und Steuerung von Prozessen der Stoffwirtschaft. Berlin/Leipzig 1971)
  • Gesamtanlage
  • Reaktor
  • Reaktorteile
  • Elementarvolumen
  • Elementarreaktionen (kinetische Gleichungen)

)22 H. Wendt: Natur und Technik..., a.a.O., S. 40

)23 ebenda S. 113

)24 J. Albert/E. Herlitzius/F. Richter: Entstehungsbedingungen und Entwicklung der Technikwissenschaften. Leipzig 1982 (Freiberger Forschungshefte D 145), S. 88

)25 J. Wiegmann: Keramische Werkstoffe zwischen Empirie und Wissenschaft. Spectrum 1977, 2, S. 10f.

)26 G. Banse/B. Thiele: Gesetz und Gesetzmäßigkeit in der Technik, a.a.O., S. 196, 199

)27 Diese sprachliche Spielerei gründet sich auf die zwei verschiedenen Bedeutungen, die der Terminus Metaphysik in der Geschichte der Philosophie angenommen hat: Metaphysik als antidialektisches oder zumindest nicht-dialektisches Denken und als spekulatives, die Grenzen der Erfahrung überschreitendes Denken. Im letzteren Falle kann man wiederum ein zulässiges und ein unzulässiges Überschreiten unterscheiden.

)28 Die Kompliziertheit dieser Form der Widerspiegelung (gegenüber der einfachen deskriptiven Abbildung) scheint geradezu geschaffen zu sein, um als Modell für den Platonismus zu dienen (vgl. F. Dessauer: Streit um die Technik. Frankfurt a. M. 1958, S. 153-255), wo die Erfindung als Entdeckung von prästabilierten kosmischen Objekten interpretiert wird. Allerdings dürfte es schwierig sein, Dessauers Position eindeutig als Platonismus zu kennzeichnen, da er die Auffassung ablehnt, alle Erfindungen würden heute schon bestehen (S. 158). Außerdem spricht er dem Menschen die Fähigkeit der kombinatorischen Gestaltung zu (S. 141).

)29 vgl. dazu H. Töpfer/W. Kriesel: Automatisierungstechnik. Gegenwart und Zukunft. Berlin 1982, S. 28, Bild 14

)30 s. Fußnote 2

Zum Projekt "Gesetze in Natur und Gesellschaft"

Diese Bemerkungen beziehen sich auf den Text:
   Vom Umgang mit dem Gesetzesbegriff in Wissenschaft und Politik der DDR und
   Herbert Hörz: Bemerkungen zu A. Schlemm "Vom Umgang mit dem Gesetzesbegriff in Wissenschaft und Politik der DDR"
 
siehe auch:    Meine Erfahrungen mit der DDR-Philosophie
und    Gesellschaftswissenschaft in der DDR
sowie    Frank Richters Webseiten



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