Typen von Systemen:
Ganzheit und Totalität

Ich möchte im folgenden Beitrag die verschiedenen Typen von Einheiten, die als "System" bezeichnet werden können, deutlich unterscheiden. Es ist durchaus möglich und notwendig, von der Totalität der ganzen Welt zu abstrahieren. Im Erkennen wird nur in den seltensten Fällen von aller Einheitlichkeit innerhalb der erscheinenden Mannigfaltigkeit abgesehen – es ist eher so, dass im Auffinden, d.h. im gedanklichen Rekonstruieren von wirklichen Einheiten der Sinn von Wissenschaft gesehen wird. Dabei gibt es jedoch unterschiedliche Typen von Einheiten und es sollte bewusst sein, mit welchem Typ gerade gearbeitet wird, um nicht unangemessene Interpretationen und Schlussfolgerungen zu ziehen.

Es gibt verschiedene Bezeichnungen für die Zusammenfassung von vielem. Mathematisch wird vor allem mit Mengen gearbeitet, die nach Cantor eine Zusammenfassung von wohlunterschiedenen Objekten unserer Anschauung oder unseres Denkens darstellen. Dabei bezieht sich dieser mathematische Begriff eindeutig auf abstrakte Objekte, keine konkreten, realen Gegenstände. Diese werden nach Frege Kollektionen genannt. (Eine Menge kann leer sein; eine Kollektion gibt es nur, wenn es auch ihre Teile gibt). Sobald reale Objekte sich zu Einheiten zusammenfügen, kann wieder unterschieden werden. Für die Häufungen, bzw. die bloßen Summen gibt es gar keinen eigenen Namen – außer vielleicht das Wort Aggregat (bei Aristoteles: "pantes"- Gesamtheit).

Interessanter sind dagegen jene Einheiten, die gegenüber der Summe ihrer Teile neue Gesetzmäßigkeiten erzeugen, die aus den Teilen allein nicht zu erklären sind, bei denen etwas qualitativ Neues entsteht (Emergenz). Dabei kommen die Beziehungen zwischen den Teilen ins Spiel. Die Teile stehen in einem inneren Zusammenhang miteinander. Hier sprechen wir vom Ganzen (Aristoteles: "holon") und seinen Teilen.

Die "schwache" Definition eines Ganzen verlangt lediglich, dass die Teile eines Ganzen voneinander abhängig sind" (Warnke 1976 und Warnke, Klaus 1976, S. 443), dass "sie in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen" (ebd.)und miteinander wechselwirken.

Eine stärkere Forderung an ein Ganzes ist es, wenn gefordert wird, und "ein Teil nur aus dem Ganzen heraus zu verstehen ist" (Hoffmeister 1955, S. 240).

"Schwache" und "starke" Ganzheiten

Gemeinsam haben "schwache" und "starke" Ganzheiten folgende Eigenschaften:

  • Teile und Ganze werden als "Systeme von Qualitäten", d.h. als "Dinge" (nach Warnke 1974, S. 28) betrachtet, nicht als qualitativ unbestimmte "Stellen".
  • Teil kann nur in bezug aufs Ganze, Ganzes nur in bezug auf seine Teile definiert werden.
  • In der durch die Teile gebildeten Struktur des Ganzen werden Verhaltensweisen möglich, die aus denen der isolierten Teile nicht ableitbar sind (neue Qualität, Emergenz, neue Gesetze für Ganzes).
  • Ein Ganzes ist als Teil einer Hierarchie in anderen und mit anderen Ganzen zu verstehen. Das Wesen einer Ganzheit muß aus ihrer Struktur selbst erfasst werden, erhält aber seinen Sinn erst aus der Erkenntnis der umfassenderen Ganzheit, zu der das Teilganze gehört..." (Hoffmeister 1955, S. 241)

"Schwache" und "starke" Ganzheiten unterscheiden sich aber auch voneinander:

  • In den "schwachen" Ganzheiten werden nur bestimmte Qualitäten betrachtet, nicht alle, die Vollständigkeit der "starken" Ganzheit ausmachen.
  • In "schwachen" Ganzheiten können die Teile aus der Ganzheit isoliert werden (sie verlieren dabei ihren Teilecharakter und ihre Funktion bezüglich des Ganzen und werden zu eigenständigen Dingen), aus "starken" Ganzheiten können die Teile nicht isoliert werden – sie existieren nur in bezug auf ihr Ganzes.
  • "Schwache" Ganzheiten und ihre Teile bzw. ihre Teile werden als relational verbunden (jeweils zweistellig) vorgestellt, während für"starke" Ganzheiten die Vermittlung im Wesen/Begriff begriffen wird.
  • Für "schwache" Ganzheiten gilt die wechselseitige Abhängigkeit der Teile als Erklärungsprinzip" (Warnke 1976b, S. 1215), für "starke" Ganzheiten die Vermittlung im Wesen.
  • "Schwache" Ganzheiten können sich auf beliebige (einzelne) Eigenschaften von Dingen beziehen; die "starke" Ganzheit bezieht sich auf die " Gesamtheit ihrer allgemeinen Bestimmungen in ihrem inneren notwendigen Zusammenhang, ihrem Wesen" (Warnke, Klaus 1976, S. 447)

Zusammengefasst:

I. Kollektion (außermathematisch auch "Menge" oder "Gesamtheit" genannt)

II. Ganzes (schwach)

III. Ganzes (stark)

quantitativ

qualitativ

jede Gruppe von irgendwie zusammengefassten Objekten

können sich auf beliebige (einzelne) Eigenschaften von Dingen beziehen

bezieht sich auf die " Gesamtheit ihrer allgemeinen Bestimmungen in ihrem inneren notwendigen Zusammenhang, ihrem Wesen"

 

Erklärungsprinzip: wechselseitige Abhängigkeit der Teile

Erklärungsprinzip: Vermittlung mit dem Wesen

 

zweistellige Relationen (Wechselwirkungen)

(mindestens dreistellige) Vermittlungen

 

Ganzes hat Teilen gegenüber neue Qualitäten.

Teile sind voneinander abhängig und wechselwirken.

Teile stehen in einem inneren Zusammenhang miteinander.

Teil ist nur aus dem Ganzen heraus zu verstehen..

 

Teile unterhalten wechselseitige Beziehungen.

Teile und "starkes" Ganzes bilden Verhältnisse.

Ganzheit und Totalität

Hegel trägt dieser Unterscheidung Rechnung, indem er nur die "schwachen" Ganzheiten "Ganze" nennt (und in der Wesenslogik behandelt), die hier "stark" genannten jedoch als "Totalitäten" bezeichnet (die in die Begriffslogik gehören).

Wenn Rochhausen (Rochhausen 1991, S. 319) den Unterschied der Totalität von der "schwachen" Ganzheit nur in der Gesamtheit und Vollständigkeit der Teile im Ganzen sieht, übersieht er den dadurch gegebenen qualitativen Unterschied. Vom Wortsinn her ("total" = gänzlich, vollständig) ist mit der Totalität jene Einheit gemeint, bei der von nichts abgesehen, nichts abstrahiert wird. Kant forderte für die Vernunft, dass ihre Begriff "auf die Vollständigkeit, d.i. die kollektive Einheit der ganzen möglichen Erfahrung und dadurch über jede gegebene Erfahrung hinausgehen und transzendent werden." (Kant, S. 83, § 40).

Als Totalität läßt sich der "Reichtum miteinander verbundener Bestimmungen, d.h. als Konkretes, als selbstbegründete, selbstbewegte Mannigfaltigkeit, als relative Stabilität trotz innerer Bewegung" (Erpenbeck 1991, S. 901) bestimmen.

In einer materialistischen Weltanschauung kommt der realen Totalität das Primat zu – es wird davon ausgegangen, daß die objektiv-reale Wirklichkeit selbst eine Totalität ist und deren Momente auch für sich Totalitäten sind.

Im Begreifen dieser Totalitäten sind die verschiedenen Abstraktionen (Totalität als System oder Ganzes zu fassen) Zwischenstufen, die aber letztlich wieder der Konkretion zur geistig reproduzierten Totalität bedürfen. Als geistig reproduzierte Totalität entsteht ein "konkreter Begriff" (Lukács 1923/2000, S. 157) bzw. ein entsprechendes Begriffs"system" (was aber selbst auch eine Totalität ist, d.h. die Begriffe sind nicht unabhängig voneinander bestimmbar und erst dann zum System verbunden).

Man muß nicht mit Hegel behaupten, damit die "absolute Wahrheit" erkannt zu haben. Wegen diesem unangemessenen Anspruch wird häufig vermieden, eine Totalität anzuerkennen und es wird beim Relativismus der verschiedenen Abbildungen des Unmittelbaren oder der Erzeugung abstrakter Allgemeinheiten stehen geblieben. Statt Relativismus und Absolutismus kommt es darauf an, in jedem Erkenntnisgegenstand eine Totalität zu sehen, die selbst wieder Moment anderer Totalitäten ist, und nicht isoliert absolut gesetzt werden kann.

Die geistig reproduzierte Totalität hat wieder die allgemeinen Merkmale einer Totalität. Darin zeigt sich das Urprinzip einer Totalität, das von Nikolaus von Kues als "omnia ubique" - Alles ist in allem; in allen Teilen scheint das Ganze wieder – gekennzeichnet wurde.

Methodisch wird nicht etwa auf etwas starr-Absoutes gezielt. Es kommt darauf an, alles in Bezug auf das jeweils Umfassende, Totale zu betrachten.

"Nicht die Vorherrschaft der ökonomischen Motive in der Geschichtserklärung unterscheidet entscheidend den Marxismus von der bürgerlichen Wissenschaft, sondern der Gesichtspunkt der Totalität. Die Kategorie der Totalität, die allseitige, bestimmende Herrschaft des Ganzen über die Teile ist das Wesen der Methode, die Marx von Hegel übernommen und originell zur Grundlage einer ganz neuen Wissenschaft umgestaltet hat." (Lukács 1923/2000, S. 39, Hervorheb.v.mir).

Nicht das Unmittelbare in seiner Isoliertheit, nicht das Ganze als abgehoben von den Teilen – sondern jeweils auf die Vermittlung zwischen Momenten und Totalem und den Momenten untereinander kommt es an. Die Gegenstände der Empirie erweisen sich als Momente eines geschichtlichen Prozesses (als ihrer Totalität). Daher bekommen sie ihren Sinn, ihre reale Funktion und ihre Bedeutung.

"Erst in diesem Zusammenhang, der die einzelnen Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens als Momente der geschichtlichen Entwicklung in eine Totalität einfügt, wird eine Erkenntnis der Tatsachen, als Erkenntnis der Wirklichkeit möglich." (Lukács 1923/2000, S. 21)

Nur wenn die Realität als Totalität vorausgesetzt wird, macht es Sinn, dem Begreifen als Ziel die Reproduktion der Totalität zu geben. Systemtheoretiker wie Luhmann sehen nur in der Welt als Ganzem eine Totalität, während alle Teilbereiche der Welt selbst abstrakte Existenzen - keine Totalitäten, sondern lediglich Systeme – darstellen sollen.

Dies widerspricht jedoch dem Kuesschen Prinzip: Es gibt auch "unterhalb des Welthorizonts" konkrete, existierende Einheiten, die selbst als Totalitäten wirken und zu begreifen sind. Diese Einheiten haben alle Merkmale von Totalitäten:

  • Totalität und Momente können nicht unabhängig voneinander existieren, sondern setzen sich gegenseitig voraus und konstituieren sich gegenseitig. Dadurch können auch nicht einzelne Momente unabhängig von oder gleichgültig gegenüber anderen existieren.
  • Die gegenseitige Beziehung von Totalität und Momenten sowie der Momente untereinander ist nicht nur von Wechselwirkung und vermittelndem Verhältnis konstituiert, sondern durch reale Widersprüche (gerade indem jede Einheit jeweils eine Einheit von Identität und Nichtidentität ist). Dadurch sind sie nicht nur gesetzt, sondern ihre Selbstbewegung ist aus sich selbst begründet.
  • Dadurch sind Totalitäten keine stabilen Gebilde, sondern Prozesstendenzen, die nur phasenweise eine relativ stabile Struktur bilden. Totalitäten unterliegen der Veränderung und Entwicklung.
  • Aus jedem richtig erfassten Moment kann die ganze inhaltliche Fülle der Totalität erschlossen werden (Lukács 1923/2000, S. 186).

"Gesellschaftliche Einheiten vom Typ der Klassengesellschaft sind nur nach der einen Seite mehr oder weniger ausgeprägte Totalitäten, und nur vom Standpunkt ihrer Entfaltung gilt, daß es in allen Gesellschaftsformen eine bestimmte Produktion ist, die allen übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen Rang und Einfluß anweisen, daß "eine allgemeine Beleuchtung" herrscht, "worin alle übrigen Farben getaucht sind und... (die) sie in ihrer Besonderheit modifiziert." (Marx 1857/1983, S.40)

Totalität als Prozeßtendenz

Wichtig ist folgender Unterschied: "Ein Ding ist [..] noch nicht zwangsläufig in bezug auf sein Wesen erkannt, sofern es als Ganzheit abgebildet wird. Von der Ganzheit zur Erkenntnis der Totalität schreitet das Denken dann fort, wenn es die das Ding bewegende innere Gesetzmäßigkeit (Wesen) erfasst, die dessen Erscheinungsformen prägen." (Warnke, Klaus 1976, S. 447; Hervorh.v.mir). Wenn man ein "Bild" für Totalitäten sucht, ist also kein noch so komplexes statisches Gebilde angemessen, sondern lediglich umfassende Bewegungszusammenhänge können ihnen entsprechen, wenn die oben genannten Merkmale vorhanden sind. In der Geschichte ist jener Zusammenhang eine Totalität, aus dem heraus seine Momente begreifbar werden:

Die Wahrheit jedes Moments im Geschichtsprozeß wird erst in seiner vermittelten Totalität begreifbar (Lukács 1923/2000, S. 181).

Totalitäten sind keine statischen Gebilde, als die man sich Systeme und auch Ganzheiten noch vorstellen kann – sondern reale Totalitäten sind immer nur bestimmte Phasen und Tendenzen in Entwicklungsprozessen.

Letztlich ist es immer eine Totalität, die das Sein und die Entwicklung von verschiedenen Existenzformen der Materie bestimmt – bei Hegel führt das zu einer eindimensional-notwendigen Aufeinanderfolge einander mit Notwendigkeit folgender Entwicklungsschritte. Die Totalität, das Unendliche "zieht" quasi das Einzelne, Endliche in seiner Entwicklung an sich heran. Die Methode des "Ziehens" ist die bestimmte Negation. Jedes Endliche ist durch seine Grenzen bestimmt. Ein Teich ist das, was nicht der umgebende Wald ist. Vom Wald her definiert sich der Teich und über den Wald mit dem Teich hinausgehend wird die gesamte Landschaft benennbar und ausweitbar. Ich sehe diese Bestimmung des Teiches aber nur, wenn ich den Wald irgendwie schon habe. Auf diese Weise bewirkt die jeweils höhere Totalität eine Fortentwicklung des Beinhalteten über jeweils bestimmte Negationen. Spirituell orientierte Menschen sehen darin die Tätigkeit eines "Spirit".

Ob die Welt (Natur, Gesellschaft) sich tatsächlich nach diesem Prinzip entwickelt, ist nicht so einfach zu sagen. Für gedankliche Inhalte (bsw. die Geschichte der Philosophie, für die Hegel selbst eine Parallelität von Logischem und Historischem annimmt) kann sie problemloser angenommen werden, als für zeitliche Prozesse in der Natur und der Geschichte.

Totalitätshierarchien

Ebenso wie Systeme allgemein und Ganzheiten entfalten auch Totalitäten Hierarchien. Jedoch hat ihre "Selbstähnlichkeit" einen anderen Charakter. Während im System von den dazugehörigen Elementen nur jene Eigenschaften berücksichtigt sind, die seiner Funktion zur Konstitution des Systems zugrunde liegen, sind die Momente der Totalität selbst eigenständige Totalitäten. Die Aufeinanderfolge von System-Element® Element als System-deren Elemente ® deren Elemente wieder als System... hält System und Element immer als einander äußerliche und fremde fest. Beim Betrachten solcher Hierarchien muß jeweils immer ein neuer Standpunkt eingenommen werden ("jetzt ist dies das System und dies die Elemente... aber nun sind jenes Systeme und diese die Elemente"). Das Aber erfordert eine Art "Paradigmenwechsel", bei dem jedes Mal der jeweils andere Standpunkt völlig aufgegeben werden muß.

Dadurch ist solch eine Hierarchie eine, bei der die jeweils untergeordneten Elemente ihre Systemhaftigkeit verlieren (d.h. von ihnen wird abstrahiert – in der Realität können sie durchaus Totalitäten sein, werden aber in der Systemsicht nicht als solche begriffen).

Die Totalitäten jedoch bestehen selbst wieder aus Totalitäten. Die Momente verlieren ihren Totalitätscharakter nicht. Hierarchien von Totalitäten sind vor allem niemals statisch denkbare Gebilde – sondern nur als universell miteinander zusammenhängende Prozesse.

Unterschied System/Ganzes - Totalität

Gegenüber der eben genannten Bestimmung von Totalitäten sind im Verhältnis Ganzes-Teile die Teile gegenüber dem Ganzen noch selbständig. Wir wissen aber, daß z. B. die "Teile" eines Organismus nur dann zu einem lebendigen Organismus gehören, wenn sie das, was sie sind, nur im lebenden Organismus sind. Dieser Organismus ist nicht nur ein Ganzes, sondern eine Totalität. Natürlich wird gerade in "Ganzheitlichkeitsphilosophien" oft nicht derart zwischen "Ganzem" und "Totalität" unterschieden. Gemeint ist in solchen "ganzheitlichen" Konzepten oft schon die Totalität, inhaltlich ausgeführt zeigt sich aber ihre Beschränkung dort, wo es um Stabilität und Entwicklung gibt. Hier verrät sich die "Ganzheitlicherei", indem sie typischerweise ihr Ganzes als stabil-harmonisches, Widersprüche gerade ausschließendes Gebilde verstehen will und so doch nicht zur Totalität wird.

Die Betrachtung einer Einheit als Totalität richtet sich auf die Ganzheit unter dem Gesichtspunkt des "organischen" Zusammenhangs der Teile, die dabei zu Momenten werden wobei nicht wie bisher von der inneren Widersprüchlichkeit abstrahiert wird. Eine Totalität ist nicht einfach eine Identität mit sich oder die Wechselbeziehung seiner Teile – in der Totalität ist die dialektische Einheit von Identität und Nichtidentität realisiert.

"Als Lehre vom Ganzen erscheint doch das ewige Werden als eine Lehre von einem ewigen Sein, und hinter dem abfließenden Fluß steht eine unwandelbare Wesenheit, mag sich ihre Wesensart auch im ununterbrochenen Wandel der Einzeldinge ausdrücken. Dagegen verwandelt der dialektische Prozeß bei Marx die Gegenständlichkeitsformen der Gegenstände selbst in einen Prozeß, einen Fluß." (Lukács 1923/2000, S. 197)

Fassen wir die Unterschiede noch einmal ausführlich zusammen:

Ganzes-Teile

Totalität-Momente

System-Element bzw. Ganzes-Teile / Totalität-Momente

System und Element bzw. Teile und Ganzes existieren, sind aber unabhängig voneinander gesetzt. (Woher, bleibt unklar).

Totalität und Momente sind Resultat und Ausgangspunkt von Entwicklung – selbst immer historisch konkret.

bloßes Gelten der Zusammenhänge

Zusammenhänge als notwendige und wesentliche Beziehungen charakterisierbar, auf Selbstbewegung des Gegenstands sich gründend – Erklärung des Objekts aus seinen eigenen Bestimmungen und Zusammenhängen, als sich selbst bedingend

Ihre Beziehung ist eine Äußerliche. Jeweils Ganzes oder Teile sind zuerst da und werden "dann" mit ihrem Anderen zusammengebracht, vermittelt.

Totalität und Momente sind ohne das jeweils Andere nicht denkbar, sie verlieren ihre Selbständigkeit voneinander.

Das Ganze ist, was es ist, durch die Teile (nicht durch sich selbst) und die Teile sind, was sie sind, durch das Ganze (nicht durch sich selbst).

Totalität und Momente sind nicht nur "für-andere", sondern Einheit des "An- und für-sich". Wechselseitige Vermittlung in ihrem jeweiligen Werden.

Charakteristika der Elemente bzw. Teile/Momente

Elemente/ Teile existieren auch außerhalb des Ganzen, verlieren allerdings ihre Funktion für das Ganze. .

Momente existieren nicht außerhalb der Totalität – sie werden von der Totalität in ihrer Entwicklung gebildet und sich untergeordnet. "Das Singuläre ist jederzeit universell vermittelt." (Bartels, S. 1635)

Elemente/ Teile stellen eine mannigfaltige Unmittelbarkeit dar.

Momente existieren nicht unmittelbar, sondern jedes setzt das andere voraus und ist ihm Voraussetzung (Erpenbeck 1991, S. 900)

Elemente/ Teile wechselwirken miteinander (sind z.T. gegensätzlich, aber nicht widersprüchlich)

Momente sind Seiten eines Widerspruchs (d.h.: schließen sich aus, aber die Momente enthalten einander auch)

Elemente/Teile gehen nur insoweit in das System/Ganzheit ein, als zur Identität des Systems/Ganzen beitragen. Die Ganzheit subsumiert die Teile, von den Teilen bleibt nichts Besonderes, außer dem Ganzen, übrig.

Die Momente gehen nicht vollständig in die Totalität ein ("überschießende" Effekte) – weil in ihrer Widersprüchlichkeit zwar einerseits ihre Identität, aber auch ihre Unterschiedlichkeit enthalten ist.

Teile/Elemente: sind nur als mit sich identisch betrachtet (nicht mit ihrem inneren Widerspruch)

Momente: "Elementarform" als Identität miteinander vermittelter Gegensätze ("Ware", "Monopol"), Warnke 1977b, S. 62ff.)

Charakteristika der Einheit (System/Ganzes, Totalität)

Das Ganze ist jenes, was sich im Prozeß der Wechselwirkung der Elemente des Systems jeweils reproduziert: das Verhältnis. (Resultat des Gegensatzes = 0, d.h. Gleichgewichtsdynamik), mit sich identisch bleibt.

Die Totalität reproduziert sich nicht identisch, sondern verändert und entwickelt sich. (Resultat des Widerspruchs = Entwicklung)

als gewordene Struktur

als Vermitteltes und sich Entwickelndes

(Standpunkt der Bewegung als identische Reproduktion)

(Standpunkt des Werdens und der Entwicklung)

Verhältnis als Erscheinungsform der Totalität

 

Totalität als Konkretion

Wir tendieren dazu anzunehmen, die Erkenntnis führe vom konkret-Realen zu immer abstrakteren Gedankengebilden. Dies ist bis hin zum abstrakten Systemdenken zutreffend. Das Begreifen der objektiv-realen Totalitäten erfordert jedoch eine Konkretion, die das System in ihren Zusammenhängen begreift. Diese sind immer nur konkret. Vom Systemdenken zum Begreifen dialektischer Totalitäten führt also nur der Weg der geistigen Konkretion, die jedoch nicht beliebig sein darf, sondern sich gerade auf jene Momente beziehen muß, die tatsächlich die Bestimmenden der konkreten Totalität sind.

Totalität und Totalitarismus

In Systemen und Ganzheiten werden die Elemente und Teile klar in der Form dominiert, daß von jenen ihrer Besonderheiten, die nicht systemkonstitutiv sind, abstrahiert wird.

In Totalitäten bleiben auch die Momente selbst Totalitäten (verlieren ihre Besonderheiten und eigenen inneren Widersprüchlichkeiten nicht). Hier liegt deshalb eine andere Form von Dominanz vor. Während im System das Dominante in der Systemhaftigkeit einfach nur gesetzt ist, begreifen wir an der Totalität übergreifende Momente, die die konkrete Form bestimmen). Die Dominanz der Systeme ist nur gesetzt, kann nicht in ihren konkreten Zusammenhängen und ihrer Veränderbarkeit begriffen werden – erst als Totalität werden sie begreif- und gestaltbar.

Auseinanderzuhalten ist der Begriff der Totalität von jenem des Totalitarismus. Letzteres ist die Bezeichnung für ein politisches Herrschaftssystem, in dem die "totalitäre Herrschaft ihren Verfügungsanspruch über die öffentlich-gesellschaftliche Sphäre hinaus auf den Bereich des Persönlichen" ausgestreckt wird (Brockhaus, S. 268).

Zu beachten ist auch folgender wichtiger Unterschied in den Totalitätsvorstellungen von Hegel und Marx: Während Hegel davon ausging, daß in der Totalität alle Momente restlos aufgehoben (d.h. nicht unbedingt zerstört, sondern auch aufbewahrt) sind, ist diese in der Marx΄schen Verwendung dieses Begriffes nicht der Fall. Letztlich stellt die Totalität eine durchgehende Tendenz der Entwicklung dar – jedoch gibt es auch Gegentendenzen, die nicht von dieser Totalität selbst stammen und die im Verlaufe der Evolution auch nicht "eingefangen" werden, sondern in die weitere Entwicklung als nicht notwendige Faktoren einmünden (vgl. Marx 1857-58/1983, S. 189)

Reichweite von Systemwissenschaften

Die Systemwissenschaften thematisieren Ganzheiten auf zweierlei Weise:

A) Sie untersuchen nicht (qualitativ bestimme) Dinge, sondern abstrahieren gerade von den konkreten Qualitäten und damit den spezifisch-wesentlichen Eigenschaften der Dinge, um abstrakt-allgemeine strukturelle Eigenschaften zu untersuchen. Damit verlieren sie die durch das jeweils konkrete Wesen (die konkrete innere, qualitativ bestimmte Widersprüchlichkeit) der Dinge bestimmte Vermittlung und damit die Möglichkeit des Begreifens von Entwicklung aus dem Auge (vgl. dazu Warnke 1974 und Warnke 1977).

B) Systemwissenschaften untersuchen den Ganzheitscharakter jeweils einer der allgemeinen Eigenschaften von Dingen (die selbst Totalitäten, d.h. Gesamtheiten ihrer allgemeinen Bestimmungen in ihrem inneren notwendigen Zusammenhang, ihrem Wesen sind). "Sie vermögen daher – für sich genommen – beispielsweise weder den Organismus noch die Gesellschaft in der Spezifik ihrer Gesetzmäßigkeiten zu erklären." (Warnke, Klaus 1976, S. 447).

Abstrakte Systemtheorien betrachten also erstens Totalitäten "nur" als Ganze und reduzieren das Ganze zusätzlich noch um ihre qualitativen Komponenten.

Literatur:

Erpenbeck, John (1991): Stichwort "Totalität". In: Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch, Bonn: Pahl-Rugenstein (Hrsg.: Herbert Hörz, Heinz Liebscher, Rolf Löther, Ernst Schmutzer, Siegfried Wollgast). Bonn: Pahl-Rugenstein Verlag Nachfolger GmbH
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1813-1816/1986): Wissenschaft der Logik II, Frankfurt am Main, entspricht Werke 6
Hoffmeister, Johannes (1955): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg: Felix Meiner.
Kant, Immanuel (1783/1979): Proelegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Leipzig: Philipp Reclam jun.
Lukács (1923/2000): Geschichte und Klassenbewusstsein. London: Red Star Press. (Reprint der Erstausgabe von 1923.)
Marx, Karl (1857/1983): Einleitung [zu den "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie]. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke Band 42, Berlin: Dietz-Verlag 1983
Marx, Karl (1857-58/1983): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke Band 42, Berlin: Dietz-Verlag 1983
Rochhausen, Rudolf (1991): Stichwort "Ganzes". In: Philosophie und Naturwissenschaften. Wörterbuch, Bonn: Pahl-Rugenstein (Hrsg.: Herbert Hörz, Heinz Liebscher, Rolf Löther, Ernst Schmutzer, Siegfried Wollgast). Bonn: Pahl-Rugenstein Verlag Nachfolger GmbH
Wahsner, Renate (1996): Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis. Frankfurt a.M., Berlinn, Bern, New York, Paris, Wien: Lang (Hegeliania, Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Hrsg.v. H. Schneider, Bd.7)
Warnke, Camilla (1974): Die >abstrakte< Gesellschaft. Systemwissenschaft als Heilsbotschaft in den Gesellschaftsmodellen Parsons΄, Dahrendorfs und Luhmanns. Berlin: Akademie-Verlag.
Warnke, Camilla (1976): Stichwort "Ganzes". In: Philosophisches Wörterbuch (Hrsg.: Georg Klaus, Manfred Buhr), Leipzig: VEB Bibliographisches Institut.
Warnke, Camilla (1976b): Stichwort "Teil und Ganzes". In: Philosophisches Wörterbuch (Hrsg.: Georg Klaus, Manfred Buhr), Leipzig: VEB Bibliographisches Institut.
Warnke, Camilla (1977): Gesellschaftsdialektik und Systemtheorie der Gesellschaft im Lichte der Kategorien der Erscheinung und des Wesens. In: Heidtmann, Richter, Schnauß, Warnke (1977): Marxistische Gesellschaftsdialektik oder "Systemtheorie der Gesellschaft"? Berlin: Akademie-Verlag, S. 25-68
Warnke, Camilla; Klaus, Georg (1976): Stichwort "Ganzheit", In: Philosophisches Wörterbuch (Hrsg.: Georg Klaus, Manfred Buhr), Leipzig: VEB Bibliographisches Institut.


 

Mehr zur "Totalität"
Teile-Ganzes
Dialektik der Gesellschaft als System

 
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