"Keiner, kein einziger wagt es, Ich zu sagen."
-Kierkegaards Vorschläge, zu leben -

Wenn ich einige Grundgedanken aus den Werken Søren Kierkegaards (1813-1855) notiere, tue ich eigentlich etwas Unmögliches und etwas, was dem Anliegen des Autors von vornherein widerspricht. Søren Kierkegaard veröffentlichte die meisten seiner Arbeitens unter einem Pseudonym und forderte, diese auch unter diesem Pseudonym zu zitieren (Diem: 8). Noch weniger wird ihm eine ordnende Zusammenfassung gerecht, denn der Stil seiner Notierungen in Form von Briefen, "philosophischen Brocken", und scheinbar fragmentarischen Sammelschriften ist gleichzeitig Programm; die Form will zeigen dass man sich der Inhalte nicht in einer systemhaften Struktur ermächtigen kann. Allerdings verweist er als Johannes Climacus darauf, dass es um die "Selbsttätigkeit des Sich-Aneignens" (PB: 11) geht, nicht um irgend eine feststehende Wahrheit. In diesem Sinne berichte ich über meine Gedanken beim Lesen der Arbeiten, wiederum ohne Wahrheitsversprechen, aber in der Hoffnung, andere daran zu interessieren, ihre eigene Aneignung zu vollziehen.

Individuelle Selbstbestimmung * Prinzipien *
Lebensweisen *
Ästhetische Lebensweise *
Übergang zum Ethischen *
Ethische Lebensweise *
Sich selbst wählen *
Individuum und Gesellschaft *
Pflicht - Verantwortung *
Religiöse Lebensweise *
Kierkegaards Verhältnis zu Hegel *
Literatur *

Aus Kierkegaards Schrift "Entweder-Oder" *

Individuelle Selbstbestimmung

Die Systeme der Klassischen Deutschen Philosophie, die einst entwickelt wurden, um der Freiheit zu ihrem Recht zu verhelfen (Schlemm 1996), scheinen die individuelle Freiheit an die Verwirklichung übergreifener, bestimmender Notwendigkeiten zu binden und damit das Individuelle dem Allgemeinen unterzuordnen. Ungeachtet dessen, dass wohl die wenigsten Menschen ihr Handeln direkt von philosophischen Systemen bestimmen lassen, besteht häufig die Gefahr, dass sich Menschen "in eine entpersönlichte Sphäre von verdinglichten Ideen und Doktrinen" flüchten, "anstatt der Tatsache ins Auge zu sehen, dass jeder letztendlich für sein Leben, seinen Charakter und seine Anschauungen selbst verantwortlich ist" (Gardiner: 51). Der Autor eines Buches über Kierkegaard, Gardiner, beschreibt die von Kierkegaard kritisierte Ausgangslage:

Alles tendiere dazu, unter "abstrakten" Begriffen aufgefaßt zu werden – als theoretische Möglichkeit, die betrachtet und verglichen werden können, zu deren konkreter Verwirklichung die Leute sich aber nicht verpflichten wollen. Den eigenen Haltungen und Gefühlen wende man sich nur durch einen dicken Nebel an pseudowissenschaftlichen Ausdrücken und klischee-beladenen Phrasen hindurch zu, die eher aus Büchern oder Zeitschriften aufgelesen, als im direkten Licht der eigenen inneren Erfahrung gebildet worden seien. (Gardiner: 50)

Prinzipien

Aber auch außerhalb von Theoriefixiertheit verstecken sich viele Menschen nur allzu häufig hinter Prinzipien.

"Aus Prinzip" zu handeln, darüber reden die Leute nur allzu gern. Doch sie seien geneigt, den Prinzipien, auf die sie sich berufen, eine rein äußerliche und unpersönliche Autorität zuzuschreiben, als ob sie mit den Präferenzen und Belangen des Handelnden nichts zu tun hätten. (Gardiner: 51)

Auf diese Weise kann man sich aller Begründungen entheben, auch der Verantwortung für Entscheidungen – "man" macht ja nur, was alle so machen... beugt sich dem allgemeinen Erwartungsdruck und erzeugt ihn damit gleichzeitig selbst.

Keiner, kein einziger wagt es, Ich zu sagen. (Kierkegaard, zit. in Gardiner: 51)

Lebensweisen

Obwohl Kierkegaard keine systematische Logik verfolgt, beschreibt er verschiedene Seinsformen des Menschen, die aufeinander folgen können, aber nicht müssen. Diese Seinsformen sind die Ästhetische, die Ethische und die Religiöse. Die beiden ersten stellt er in seinem Werk "Entweder-Oder" dar, wobei jede Form von einem ihrer Vertreter in brieflicher Darstellung dem anderen mitgeteilt wird. Die Beschreibung des ästhetisch lebenden – d.h. nur auf sinnliche Bedürfnisse wie Gesundheit, Schönheit und Lustgewinn zielenden – Menschen wird uns zeigen, wie jemand "ins Blaue hinein" (EO: 553) lebt und nur darauf aus ist, das Leben zu genießen (ebd.: 472). Der ethisch lebende Mensch dagegen entscheidet sich dafür, sein Leben in einen umfassenden Sinnzusammenhang zu stellen, ohne dass ihm dieser von außen, als fremd übergestülpt würde oder er seine individuelle Besonderheit opfern müsste. Trotzdem ist dies noch nicht das Ende menschlicher Möglichkeiten – den Höhepunkt sieht Kierkegaard in der Religiosität, die die Individualität noch einmal auf eine besondere Weise herausfordert. (Kein Atheist sollte sich abschrecken lassen, den Gehalt dessen, was Kierkegaard ausdrücken will, kennen zu lernen).

Ästhetische Lebensweise

Das Leben bietet vielerlei Lustquellen, die ein ästhetisch orientierter Mensch anstrebt, ausprobiert und sich dann immer weiter in der Fülle der Möglichkeiten verschwendet, ohne dass er seinem Leben eine Richtung, eine Art Ziel verleiht.

Seine Seele ist wie ein Acker, auf welchem allerlei Kräuter wachsen, die alle Wachstum und Gedeihen haben wollen, sein Selbst liegt in dieser Mannigfaltigkeit, und er hat kein Selbst, das höher als dieses wäre. (Kierkegaard EO: 518)

Die Persönlichkeit ist von ihren unmittelbaren Bedürfnissen bestimmt, "nicht geistig, sondern physisch" (EO: 473). Der ästhetisch orientierte Mensch stellt sich als Einzelner gegen einengende Moralvorstellungen, schüttelt alle verpflichtenden Bande ab und sucht immer wieder neue Reize um sich selbst zu spüren.

Die ästhetischen Kontakte sind deshalb nicht Erweiterungen seines Inneren, seines Empfindungsvermögens, sondern sie sind Mittel, um es überhaupt spürbar zu machen. (Müller)

Die Handlungen sind zwar frei und aus eigenem Willen entschieden – aber als Reaktion auf hingenommene Geschehnisse ohne dass versucht würde, dem Leben insgesamt einen kohärenten Verlauf zu geben. Scheinbar herrscht der freie Wille, aber dieser bleibt gebunden an äußerlich vorgegebene und nicht beeinflusste Geschehnisse. Es wird reagiert, nicht agiert.

Die Bedingung dafür liegt in dem Individuum selber, aber so, daß sie ihren Ursprung nicht in diesem selber hat. (Kierkegaard EO: 474)

Der ästhetisch lebende Mensch "betrachtet das Leben immer unter dem Aspekt der Möglichkeiten, die ausgekostet werden können, nicht unter dem Aspekt von Projekten, die realisiert, und von Idealen, die vorangebracht werden sollen" (Gardiner: 62).

Übergang zum Ethischen

Nicht umsonst beginnt das Werk "Entweder-Oder" mit Papieren des ästhetischen Menschen, die von Traurigkeit und Trübsinn geradezu durchtränkt sind. Der ästhetische Mensch findet irgendwann einmal nicht einmal mehr die so gesuchte Lust in seinen Betätigungen.

Ich mag gar nichts. Ich mag nicht reiten: es ist für eine Motion zu stark; ich mag nicht gehen: es ist zu anstrengend; ich mag mich nicht niederlegen: denn entweder müßte ich liegen bleiben, und das mag ich nicht, oder ich müßte mich wieder erheben, und das mag ich erst recht nicht. Summa Summarum: ich mag gar nichts. (Kierkegaard EO: 18)

Die Schwermut (ebd.:19) wird zum ständigen Begleiter, das Leben selbst wird immer schaler. Dieser Leidensdruck führt aber nicht automatisch dazu, eine andere Lebensweise zu wählen. Einfacher ist es, sich in diesem Leid einzurichten. Manche ziehen sogar eine Rest von Befriedigung daraus, sich als "tragischer Held" zu fühlen, das Leid als den Sinn seines Lebens zu heroisieren.

Hier hat es nun freilich seine volle Richtigkeit, daß das Leidtragen die Bedeutung des Lebens ist, und hier stehen wir vor einem schlechten und rechten Fatalismus, der immer etwas Verführerisches an sich hat. Und hier kommst Du dann natürlich auch immer wieder mit Deiner Prätension, daß Du der Unglücklichste bist und kein andrer. In der That, ein stolzer und trotziger Gedanke! (Kierkegaard EO: 529)

Der Fatalismus ist deshalb verführerisch, weil er die Möglichkeit leugnet, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen, weil er die Verantwortung für das eigene Leben abgibt. Viel schwerer ist es, sich zu entscheiden, die Verzweiflung anzunehmen, die mit dem Eingeständnis der Oberflächlichkeit des bisherigen Lebens verbunden ist. Erst in einer solchen durchlebten Verzweiflung kann das innerste Wesen des Menschen zum Durchbruch kommen (EO: 514).

Ethische Lebensweise

Die bei Kierkegaard als ethisch beschriebene Lebensweise ist vergleichbar mit Hegels "Sittlichkeit". Dabei wird ein Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft vorgestellt, das nicht den beiden einseitigen Extremen verfällt, entweder nur isolierte Individuum als Grundlage zu nehmen oder die Individuum der Gesellschaft völlig untergeordnet zu denken. Mit dieser konkret-allgemeinen Einheit von Individuum und Gesellschaft (bzw. im größeren Kontext auch der Natur etc.) nähern wir uns dem vielgesuchten "neuen Menschenbild". Begreifbar ist diese Konstellation nur mit dem von Hegel entwickelten begriffslogischen Denken, Kierkegaard gibt uns die Möglichkeit, diese Lebensweise nicht nur zu denken, sondern sie uns auch vorzustellen.

Sich selbst wählen

Aus der Reue über sich selbst, über das bisherige nur ästhetische Leben, erwächst die Möglichkeit, sich selbst zu wählen.

Das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar das ist, was er ist; das Ethische das, wodurch er das wird, was er wird. (Kierkegaard EO: 471)

Es geht darum, zu wählen, wie die Fülle der eigenen Möglichkeiten in dem jeweiligen Umfeld so entwickelt werden, dass das Individuum selbst Verantwortung auch für dieses Umfeld übernehmen kann.

Wer sich selber aber ethisch wählt, der wählt sich konkret als dieses bestimmte Individuum; das Individuum bleibt sich da als dieses bestimmten Individuums bewußt, mit den besonderen Gaben und Neigungen, Trieben und Leidenschaften, beeinflußt von einer bestimmten Umgebung, kurz als dieses bestimmte Produkt einer bestimmten Welt. Aber indem ein Mensch sich also seiner selbst bewußt wird, übernimmt er das alles und unterwirft es seiner Verantwortung. Er häsitiert nicht, ob er das Einzelne mitnehmen soll oder nicht; denn er weiß es, daß etwas viel Höheres verloren geht, wenn er es nicht thut. Im Augenblick der Wahl ist er in der vollkommensten Isolation, denn er zieht sich ganz aus seiner Umgebung zurück; und doch ist er im selben Moment in absoluter Kontinuität, denn er wählt sich selber als Produkt; und diese Wahl ist eine vollkommen freie Wahl, also daß es, wenn er sich selber als Produkt wählt, ebensogut von ihm gesagt werden kann, daß er sich selber produziert. Er ist im Augenblick der Wahl am Ende, denn seine Persönlichkeit schließt sich zusammen; und doch ist er im selben Augenblick gerade am Anfang, denn er wählt sich selber nach seiner Freiheit. Als Produkt ist er in die Formen der Wirklichkeit eingeengt, in der Wahl macht er sich selber elastisch, verwandelt seine ganze Äußerlichkeit in Innerlichkeit. Er hat seinen Platz in der Welt, in der Freiheit wählt er selbst seinen Platz, daß heißt, er wählt diesen Platz. Er ist ein bestimmtes Individuum, in der Wahl macht er sich selbst zu einem bestimmten Individuum, zu demselben nämlich; denn er wählt sich selbst. (Kierkegaard EO: 545-546)

Auf diese Weise wird der Mensch sich selbst zum Projekt, aber nicht nur als egoistischem Selbstzweck, sondern in Verbindung mit seiner Einflußnahme, seinem Verhalten in der Umwelt.

Weil das ethische Individuum seine eigene Entwicklung als Ziel und Aufgabe betrachtet, ist er nicht mehr dem Diktat bloßer Stimmungen unterworfen; er kennt sie, richtet aber seine Aktivitäten an dem aus, was er sich als Ziel gewählt hat. Dieses Ziel kommt nicht von irgendwoher, sondern aus ihm selbst; sein eigenes ideales Selbst findet er nirgend anders als in sich selber (EO: 554).

Wer ethisch lebt, hat sich selber gesehen, kennt sich selber, durchdringt mit seinem Bewußtsein seine ganze Konkretion, läßt unbestimmte Gedanken nicht in seinem Geiste umherschwärmen und läßt sich nicht von versucherischen Möglichkeiten zerstreuen - er kennt sich selber. (Kierkegaard EO: 553)

Auch die eigenen Möglichkeiten haben nicht mehr den Charakter der Beliebigkeit, sondern werden für das Individuum zu den Voraussetzungen, seine selbstgewählten Aufgaben zu erfüllen.

Wer ästhetisch lebt, sieht nämlich überall nur Möglichkeiten, diese machen für ihn den Inhalt der zukünftigen Zeit aus, während derjenige Mensch, der ethisch lebt, überall Aufgaben sieht. (Kierkegaard EO: 546)

Es gibt demnach unterschiedliche Typen von Wahlen und Entscheidungen, von "Entweder-Oder". Die ästhetischen sind eher ein Spiel, unverbindlich, beliebig, im heutigen Sinne "post-modern". Die ethische Wahl dagegen verliert sich nicht in einer Mannigfaltigkeit (EO: 463)

Wer sich seine Lebensaufgabe ethisch bestimmen will, hat im allgemeinen keine so bedeutende Auswahl; dagegen hat der Akt der Wahl viel mehr für ihn zu bedeuten. (Kierkegaard EO: 463)

Die eigenen Veranlagungen und Eigenheiten werden nicht mehr als unabänderliche Naturtatsache hingenommen, sondern als Herausforderung. Zwar müssen die eigenen Möglichkeiten realistisch beurteilt werden – was daraus zu machen ist, muss aber getan werden.

Wer ethisch lebt, weiß, daß er sich in den unbedeutendsten Lebensverhältnissen und durch sie selber bilden und in ihnen mehr erleben kann, als wer Zeuge merkwürdiger Begebenheiten gewesen ist oder gar selber in dieselben eingegriffen hat. Er weiß es, daß überall ein Tanzplatz ist, daß selbst der unbedeutendste Mensch einen solchen hat, daß sein Tanz, wenn er will, ebenso schön, ebenso graziös, ebenso mimisch, ebenso bewegt sein kann wie derer, denen ein Platz in der Geschichte angewiesen ist. (Kierkegaard EO: 547)

Das eminenteste Talent kann sein Werk ausrichten, aber das kann auch der einfachste Mensch. Mehr kann keiner. (Kierkegaard EO: 589)

Ob das Ausrichten seines Werkes alle Wünsche und Ziele optimal erfüllt, ist ihm nicht allein anheim gestellt. Es steht nicht in seiner Macht (EO: 589) und sollte ihn keinesfalls abhalten, das Seine trotzdem zu tun. Denn sein Beitrag geht ein in die Kontinuität einer Geschichte, die seine eigene Lebenszeit übersteigt. Diese Geschichte erfüllt sich nur im Handeln jedes Einzelnen, ihre Kontinuität findet sie erst, "wenn sie nicht nur das alles, was geschehen und mir geschehen ist, in sich schließt, sondern wenn sie meine eigne That ist, also daß selbst das, was mir begegnet ist, durch mich Verwandelt und aus der Notwendigkeit in die Freiheit hinübergeführt wird" (EO: 544).

Indem der Mensch sein Leben auf diese Weise gestaltet, erfüllt sein individuelles Leben auch das Allgemeine, er hat sein Leben "in ganzem, vollen Ernst nicht in den Differenzen, sondern in dem Allgemeinen" (EO: 521). Zwar wird häufig von anderen der Bezug aufs eigene Ich gern als Egoismus denunziert – aber es wäre eine schlechte Gesellschaft, wenn sie nicht von den jeweils "egoistischen" Besonderheiten der einzelnen Menschen ihre besondere Kraft, Vielfalt und Blüte gewinnen würde.

Individuum und Gesellschaft

Mit dem ethischen Subjekt gibt uns Kierkegaard eine Beschreibung des Menschseins, bei dem das Individuum kein isoliertes ist, aber auch nicht im Ganzen der Gesellschaft untergeht, von ihm nicht einfach subsumiert wird.

Das Allgemeine, das Ganze ist auch untrennbar mit dem Individuellen verbunden, es ist nicht etwas, das außerhalb des Invidiuums läge, sondern es ist eins damit.

Erst wenn das Individuum selber das Allgemeine ist, erst dann läßt sich das Ethische realisieren. (Kierkegaard EO: 550)

Wer das Leben ethisch betrachtet, sieht das Allgemeine, und wer ethisch lebt, drückt in seinem Leben das Allgemeine aus, macht sich zu dem allgemeinen Menschen, nicht dadurch, daß er seine Konkretion ablegt, denn dann würde er zu einem absoluten Nichts, sondern dadurch, daß er dieselbe anlegt und sie mit dem Allgemeinen durchdringt.

Wenn der Mensch ethisch lebt, wird er zum allgemeinen Menschen. Er drückt das Allgemein-Menschliche in seinem individuellen Leben aus (Kierkegaard EO: 620).

Der einzige Mensch sein ist an und für sich noch nichts Besondres, denn das hat jeder Mensch mit jedem Naturprodukt gemein; aber es so sein, daß er darin zugleich das Allgemeine ist, das ist die wahre Lebenskunst. (Kierkegaard EO: 551)

Der allgemeine Mensch ist nämlich kein Phantom, sondern jeder Mensch ist der allgemeine Mensch, will sagen, jedem Menschen ist der Weg gezeigt, auf welchem er zu dem allgemeinen Menschen werden kann. (Kierkegaard EO: 551)

Der wahre ungewöhnliche Mensch ist der wahre gewöhnliche Mensch. Je mehr ein Mensch in seinem Leben das Allgemein-Menschliche realisieren kann, um so ungewöhnlicher ist er. Je weniger er das Allgemeine in sich aufnehmen kann, um so unvollkommner ist er. (Kierkegaard EO: 620)

Als solcherart Allgemeines ist das Individuum nie fertig, sondern erweist sich als immer werdend – in einer Selbst-Entfaltung im Wechselverhältnis mit der von ihm beeinflussten Umwelt.

Wer sich selber ethisch gewählt und gefunden hat, der hat sich selber in seiner ganzen Konkretion bestimmt, und sieht sich dann als ein Individuum an, das diese Gaben und Kräfte, diese Neigungen und Leidenschaften, diese Sitten und Gewohnheiten hat, und unter diesen äußern Einflüssen steht, die ihm bald diese, bald jene Richtung geben. Hier hat er sich nun selber als eine Aufgabe, und zwar dadurch, daß er zunächst ordnen, bilden, temperieren, anfeuern, unterdrücken, kurz eine Harmonie der Seele schaffen muß, welche eine Frucht der persönlichen Tugenden ist. Das Ziel seiner Thätigkeit ist er selber, aber nicht willkürlich bestimmt, denn er hat sich ja selber als eine Aufgabe, die ihm gesetzt ist, wenn er sie auch selber gewählt hat. Aber obgleich er selber sein Ziel ist, so ist doch dieses Ziel zugleich ein andres; denn das »Selbst«, welches das Ziel ist, ist kein abstraktes Selbst, das überall und daher nirgends ist, sondern ein konkretes Selbst, das in lebendiger Wechselwirkung mit den bestimmten Umgebungen, den bestimmten Lebensverhältnissen, der bestimmten Ordnung der Dinge steht. Das Selbst, welches das Ziel ist, ist nicht nur ein persönliches Selbst, sondern auch ein soziales, ein bürgerliches Selbst. Es hat sich selber als Aufgabe einer Thätigkeit, durch welche es als diese bestimmte Persönlichkeit in die Verhältnisse des Lebens eingreift. (Kierkegaard EO: 557)

Pflicht - Verantwortung

Weil das Allgemeine, das Gesellschaftliche dem Menschen nicht äußerlich ist, macht es auch keinen Sinn, so etwas wie Verantwortung oder gar "Pflicht" von außen an ihn heranzutragen (so in dem Sinne: "Wenn wir schon Selbstbestimmung bzw. Selbstentfaltung als Ziel haben, so muß die gesellschaftliche Verantwortung noch zusätzlich hinzugefügt werden").

Verpflichtungen erwachsen in jedem Menschen selbst, sie sind ihm nicht fremd und äußerlich; der Mensch als Subjekt "identifiziert sich mit den Anforderungen, denen er als aktives Mitglied der Gesellschaft unterworfen ist, indem sein Charakter von dem Geist, der diese Anforderungen stellt, durchdrungen wird" (Gardiner: 72).

Seltsam genug, daß man bei dem Wort »Pflicht« an ein äußerliches Verhältnis denken kann, da schon die Derivation dieses Wortes es andeutet, daß es ein innerliches Verhältnis ist; denn was mir aufliegt, nicht als diesem zufälligen Individuum, sondern nach meinem wahren Wesen, das steht ja doch in dem innigsten Verhältnis zu mir selber. Wenn die Pflicht so angesehen wird, dann ist es ein Beweis dafür, daß das Individuum in sich selber orientiert ist. Die Pflicht wird sich ihm da nicht in vielen einzelnen Bestimmungen zersplittern; denn das deutet immer darauf hin, daß ein Mensch nur in einem äußerlichen Verhältnis zu derselben steht. Er hat die Pflicht angezogen, sie ist ihm der Ausdruck seines innersten Wesens. Hat er sich so in sich selber orientiert, dann hat er sich in das Ethische vertieft, und er wird sich nicht außer Atem rennen, um seine Pflichten zu erfüllen. (Kierkegaard EO: 548-549)

Die Besonderheiten des einzelnen Individuellen gehen nicht im Ganzen verloren, sondern gerade dadurch, dass jedes Individuum seine besondere Weise besitzt, sich zu verhalten, entsteht das Ganze. Auf die Pflichten bezogen bedeutet das:

Ich sage niemals von einem Menschen: Er thut die Pflicht oder die Pflichten, sondern ich sage: Er thut seine Pflicht; ich sage: Ich thue meine Pflicht, Du thust Deine Pflicht. Das bezeugt's, daß das Individuum zugleich das Allgemeine und das Einzelne ist. (Kierkegaard EO: 558)

Kierkegaards Ansicht ist hier derjenigen von Hegel recht ähnlich, bei dem sich die Autorität moralischer Forderungen von den Institutionen herleiten muß, die in der Gesellschaft verankert sind. Bei Hegel ist dabei vorausgesetzt – und immer mit zu denken! – dass die Gesellschaft selbst eine vernünftige Struktur besitzt. Bei Kierkegaard ist dies nicht selbstverständlich vorausgesetzt, und obwohl er das inhaltlich nicht genau ausführt, führt die Problematisierung der Übereinstimmung des Individuellen mit dem Allgemeinen bei ihm zum nächsten Typ möglicher Lebensweisen. Dies ergibt sich aus der ständigen Notwendigkeit, sich tatsächlich individuell immer wieder der Übereinstimmung zu versichern, bzw. sie aktiv zu gestalten. Kein Einkuscheln in das umfassend-Allgemeine, sondern eine ständige Herausforderung der individuellen Entscheidungskraft ist gegeben.

Religiöse Lebensweise

Der folgenden Teil läßt sich, nun völlig entgegen den Intentionen Kierkegaards, meiner Meinung nach auch nichtreligiös lesen. Worauf Kierkegaard aus ist: dass jeder Einzelne sich für seinen Glauben entscheiden muss, ohne sich an irgendwelchen Sicherheiten festhalten zu können, läuft auf die Neubewertung des Individuellen auch innerhalb des Allgemeinen, wie in der ethischen Lebensweise, hinaus. Es kann nicht einfach bei einer einlullenden Identität des Individuellen mit dem Allgemeinen bleiben, das Individuelle ist herausgefordert, diese Einheit immer wieder aktiv herzustellen.

Die Betonung des Religiösen bedeutet bei Kierkegaard fast das Gegenteil von dem, was unter diesem Titel meist erwartet ist. Der einzelne Mensch erweist sich nicht als ruhend-eingebunden in das religiös bestimmte Vertrauen einer Ur-Einheit. Kierkegaards Abhandlungen zu diesem Thema streiten gegen alle Versuche, den christlichen Glauben an Gottesbeweise oder andere Sicherheiten zu binden und damit abzusichern. Es geht gerade darum, zu individuellen eigenen Entscheidungen zu kommen, ohne auf rationale Systeme zu bauen oder auch auf religiöse Scheingewissheiten – auch nicht auf die oben begründete ethische Einheit mit dem Allgemeinen. Der Einzelne steht trotzdem jederzeit individuell vor den Entscheidungen, die ihm niemand, auch kein Gott und keine religiöse Regel abnehmen kann.

Je höher ein Individuum steht, um so mehr Differenzen hat es vernichtet, um so häufiger ist es verzweifelt gewesen, aber es behält immer eine Differenz übrig, die es nicht vernichten will, in der es sein Leben hat. (Kierkegaard EO: 522)

Niemals kann Verantwortung für das was wir sind und tun, auf einen vermeintlich objektiven Faktor abgeschoben werden; nichts davon kann uns leiten – die Verantwortung und die Verpflichtung zur Wahl, zum Wagnis liegt bei uns. Darin steht der eigentümliche Charakter des Individuums als einzelnes, handelndes und wählendes Wesen immer über allem Allgemeinen und Objektiven.

... Diese [allgemeingültigen] Kategorien können dem Menschen die Entscheidung, wann und wo und wie und al welche er sich im konkreten Fall zu halten hat, nicht abnehmen. (Diem: 19)

Der christliche Glaube, wie ihn Kierkegaard hier behandelt, ist ein Beispiel dafür. Als Abraham seinen Sohn Isaak auf Gottes Geheiß opfern soll, muß er selbst sich entscheiden. Das Geheiß Gottes stand gegen das moralische Tötungsverbot, gegen die Liebe zum lange ersehnten Sohn. Abraham steht vor der Entscheidung, ob er Gott so sehr glauben soll, dass er alles, was moralisch oder gefühlsmäßig leitend war, aufgibt – und er steht "isoliert und allein, ohne die Möglichkeit, vor anderen seine Handlung zu rechtfertigen" (Gardiner: 78). Gerade die Entscheidung zum eigentlich Widersinnigen (FZ: 75) macht das Bedeutende der individuellen Entscheidungsfähigkeit (und des wirklichen religiösen Glaubens nach Kierkegaard, vgl. EiC) aus.

Das Individuum bekommt dadurch eine neue Dimension der Freiheit, die nicht zu verwechseln ist mit der Beliebigkeit des ästhetischen Stadiums, aber auch nicht mit der freien Übereinstimmung mit dem Allgemeinen. Besonders für das aktive Handeln, das in die Zukunft gerichtet ist, wird diese Haltung unverzichtbar. Während die Philosophie hilft, das Leben "nach rückwärts" zu verstehen, für das Leben "vorwärts" dagegen gelten andere Maßstäbe:

Es ist ganz richtig, was die Philosophie sagt, dass das Leben nach rückwärts verstanden werden muß. Dabei vergisst man aber den anderen Satz, dass es vorwärts gelebt werden muß. (Kierkegaard, zit. in Gardiner: 116)

Kierkegaards Verhältnis zu Hegel

Kierkegaards Ansatz unterscheidet sich grundlegend von dem Hegels. Bei Hegel setzt das Existierende das Wesen voraus; es ist das Unmittelbare, mit dem sich das Wesen zur Erscheinung bringt (Hegel WdL I: 124, 128). Die Vernunft hat nach Hegel der "Form der Notwendigkeit" (Hegel Enz.I: 51 ) zu genügen, das lebende Individuum steht seinem Allgemeinen noch abstrakt gegenüber (Hegel Enz.II: 535), d.h. es wird ihm untergeordnet.

Kierkegaard dagegen will dem Individuellen, dem Innerlichen, d.h. dem Existentiellen gegenüber dem Wesentlichen wieder zum Vorrecht verhelfen. Kierkegaard geht es um den nicht aufhebbaren eigentümlichen Charakter jedes einzelnen handelnden und wählenden Menschen. Diese Eigentümlichkeit setzt er aber nicht lediglich einem im totalitär Ganzem gebundenen Menschen abstrakt gegenüber, sondern sie kann sich in verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung befinden, deren Aufeinanderfolge nicht wie bei der Entwicklung bei Hegel notwendigerweise und unvermeidlich bestimmt ist, sondern der freien Entscheidung der Menschen unterliegt. Kierkegaard skizziert lediglich verschiedene typische Möglichkeiten des Menschseins und gibt den Lesern die Möglichkeit, selbstbestimmt über ihre Wahl nachzudenken.

Literatur

Diem, Hermann: Sokrates in Dänemark. In: Kierkegaard. Frankfurt/Main, Hamburg: Fischer Bücherei. 1956. S. 7-24.
Gardiner, Patrick: Kierkegaard. Freiburg, Basel, Wien: Verlag Herder. 1988.
Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich (WdL I): Wissenschaft der Logik. Band I. G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden; Suhrkamp Verlag 1970. Band 6.
Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich (Enz. I): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Band 1. G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden; Suhrkamp Verlag 1970. Band 8.
Hegel, Georg, Wilhelm, Friedrich (Enz. II): Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse. Band 2. G.W.F. Hegel: Werke in 20 Bänden; Suhrkamp Verlag 1970. Band 9.
Kierkegaard, Søren (EO): Viktor Eremita (Hrsg.): Entweder-Oder. Ein Lebensfragment. Aus dem Dänischen von Alexander Michelsen und Otto Gleiß, Leipzig: Fr. Richter, 1885.
Kierkegaard, Søren (FZ): Johannes de Silentio: Furcht und Zittern. In: Kierkegaard. Frankfurt/Main, Hamburg: Fischer Bücherei. 1956. S. 65-77.
Kierkegaard, Søren (PB): Johannes Climacus: Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. In: Kierkegaard. Frankfurt/Main, Hamburg: Fischer Bücherei. 1956. S. 103-124.
Kierkegaard, Søren (EiC): Anti-Climacus: Einübung im Christentum. In: Kierkegaard. Frankfurt/Main, Hamburg: Fischer Bücherei. 1956. S. 141-174.
Müller, Phillip: Kierkegaard - Rezension von Entweder – Oder. http://www.hausarbeiten.de/rd/faecher/hausarbeit/phf/2986.html.
Schillinger-Kind, Asa: Kierkegaard für Anfänger. Entweder – Oder. Eine Lese-Einführung. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.
Schlemm, Annette (1996): Die Klassische Deutsche Philosophie. http://www.thur.de/philo/as22.htm.

Zitate von Kierkegaard

Kierkegaard: Das Selbst besteht im ständigen Kampf gegen die Verzweiflung

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