"Ums Menschsein geht es"
Teil II: Präsentation Zukunftswerkstatt Jena
(Annette Schlemm)

Vom 7.-9. November 2005 fand in Bad Boll eine Tagung statt:

Tatort Zukunft. klären - stärken - handeln.
35 Jahre Erfahrung in Zukunftswerkstätten

Zwei der Workshops waren aufeinander abgestimmt:

Es ergaben sich erstaunliche inhaltliche Übereinstimmungen, obwohl die TeilnehmerInnen nicht die gleichen waren. Der folgende Bericht bezieht sich auf den zweiten Teil, nimmt aber auch Erfahrungen aus der Kurz-Werkstatt auf.

 
1. Für welche Fragen kann die Kritische Psychologie (als Theorie und Methode des Behandelns aller Menschen als Subjekte und nie als Objekte) hilfreich sein?

Hier können jene Punkte genannt werden, die in der Kritikphase der Kurzwerkstatt zum Thema "Menschsein" durch die Beteiligten benannt wurden. Z.B.

  • Menschen werden nicht vom moralischen Gesichtspunkt geschätzt, sondern soziale Lage, Herkunft und Titel entscheiden
  • ich kann mich oft nur auf Kosten anderer entwickeln
  • Überblick über Ziele, Beziehungen usw. geht verloren
  • die Menschen fühlen sich oft einsam ...
 
2. Was sagt die Kritische Psychologie zum Problem "Menschsein - heute"?
2.1 Individuum und Gesellschaft - immer und überall:
  • Jedes Individuum ist nicht isoliert von anderen und der Gesellschaft, sondern es ist selbst ein gesellschaftliches Wesen (hat die Gesellschaft und die Verhältnisse zu anderen in sich)
  • Gesellschaft steht nicht "über den" oder "außerhalb" der Individuen, sondern sie wird von den und durch die Menschen gebildet
  • in jeweils voneinander unterschiedenen historischen Gesellschaftsformen bzw. Kulturen
Das heißt:
  • Das Individuum ist keine willenlose Marionette der gesellschaftlichen Notwendigkeiten, sondern kann die gesellschaftliche Infrastruktur als Feld von Möglichkeiten nutzen. Die Möglichkeiten sind durch Rahmenbedingungen beschränkt: Es gibt Möglichkeiten "1. Ordnung" (innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen: Wahl der Frühstückmüslisorte) und auch Möglichkeiten "2. Ordnung", die sich ergeben, wenn die Rahmenbedingungen in Frage gestellt und schließlich historisch-gesellschaftlich verändert werden.
  • Die Entscheidung bezüglich der Möglichkeiten steht jedem Menschen zuerst individuell zu, keiner kann sie für andere treffen.
Woraus schöpfen wir die Hoffnung, dass Individuen nicht "zu ihrem Glück gezwungen" werden brauchen, sondern - wenn sie nicht daran gehindert werden - selbst gegenseitig zu ihrem Glück beitragen? Hier hilft uns der Standpunkt des "natürlich gesellschaftlichen" Bedürfnisses nach Selbstentfaltung.

"Selbstentfaltung" bedeutet:
Ich kann mich - wie jeder Mensch - nur dann optimal selbst entfalten, wenn alle anderen Menschen das auch können.
  • "Selbstbestimmung" ist ein Moment der Selbstentfaltung, erfasst aber eher etwas, was das einzelne Individuum auch alleine tun könnte...
  • "Selbstverwirklichung" ist ein Moment der Selbstentfaltung, erfasst aber die ständige Weiterentwicklung nur so, als ginge es darum, ein Ideal ein für allemal zu realisieren (und dann fertig zu sein)...
  • Selbstentfaltung ist z.B. auch gemeint, wenn Hegel sich Freiheit so vorstellt, dass wir "andere Menschen als Erweiterung unserer Freiheit" verstehen können.
  • Individuelle Selbstentfaltung ist also das individuelle Moment einer "Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" (Marx).
  Dies entspricht auch den Ergebnissen der Kurzwerkstatt:

"Ich bin selbst ein Puzzle/Teil des Ganzen, ich kann und möchte meinen Platz finden; ich kann ein gutes Teil weitergeben und mich selbst komplettieren."

 

2.2. Menschen in der entfremdeten Welt

  • durch bestimmte einschränkende Rahmenbedingungen (Menschen besitzen die Mittel zur eigenen Reproduktion nicht...) bestimmte Gesellschaftsform
  • wir können unsere Bedürfnisse weitgehend nur gegen die Interessen und Bedürfnisse anderer durchsetzen (Geld, Arbeitsplatzkonkurrenz...), d.h. wir werden voneinander isoliert, getrennt, obwohl wir die anderen doch brauchen...
  • auch ideologisch erscheint das Getrenntsein, die Isolation, das Sich-Gegeneinander-Bestimmen als "natürlich", dabei ist es historisch gesellschaftlich gemacht!
Das heißt:
  • Die Menschen produzieren die Verhältnisse, in denen sie leben, immer auch mit.
  • Menschen sind deshalb nie nur "Opfer" der Gesellschaft, sondern haben immer alternative Handlungsmöglichkeiten. (vgl. Aristoteles: "Möglichkeit des Andersseins" als das spezifisch Menschliche...; vgl. Kierkegaard: "Entweder - Oder"...)
Es sind immer zwei grundsätzliche Richtungen möglich: "Jedes Individuum, solange es als Mensch am Leben ist, hat ... angesichts jeder aktuellen Einschränkung oder Bedrohung immer in irgendeinem Grad die Freiheit,
seine Bedingungsverfügung zu erweitern
 
oder darauf zu verzichten." (Holzkamp)
d.h.
Bedingungen erkennen und (gemeinsam mit anderen) ihre Veränderbarkeit austesten... und ausbrechen
 
d.h.
wie ein Fisch im Glas jede schmerzende Berührung mit der Einschränkung meiden...
!!! Achtung: Was jeder Mensch in welcher Situation für sich entscheidet, darf nicht mit moralischen Urteilen belegt werden (z.B. Ausbrechen wäre besser als Anpassen) - gerade aus der Sicht der Kritischen Psychologie bleibt jedes Individuum Subjekt und damit Allein-Bewerter seiner Entscheidungen. Wir dürfen es nicht zum Objekt einer Beurteilung machen. Wir können uns aber mit ihm gemeinsam über Gründe seiner und jeweils der eigenen Entscheidung verständigen...

3. Welche Handlungsorientierungen gibt die Kritische Psychologie deshalb?

N E V E R:
  • nie Antworten auf eigene Lebensentscheidungen von anderen erwarten oder geben wollen - auch nicht der Wissenschaft der Kritischen Psychologie (sonst wird man als Objekt behandelt, bleibt nicht Subjekt seiner Entscheidungen)
  • Psychologie niemals als Hilfe zur Anpassung missbrauchen.
  • In der Gruppen- und Gemeinschaftsarbeit: niemals zum Instrument der Sache machen /lassen, niemals andere zum Instrument eigener Interessen machen/lassen.
  • keine noch so fortschrittliche Gruppe kann "Bedingungen für Andere" schaffen wollen. Diese Anderen würden dabei als Objekte des eigenen Tuns betrachtet. (Nach fremdgesetzten Bestimmungen für Selbstbestimmung zu suchen, ist ein Widerspruch in sich.)
E V E R:
  • "Deshalb kann die Kritische Psychologie auch nicht vorschreiben, was gut und was schlecht ist, was der Einzelne tun oder lassen soll.
  • Vielmehr soll das Individuum in die Lage versetzt werden, seine Interessen zu erkennen und die eigene Situation so zu durchschauen, daß es seine konkreten Handlungs- und Lebensmöglichkeiten sehen und realisieren kann." (Holzkamp 1984)
  • In der Gruppen- und Gemeinschaftsarbeit: gegenseitig als Bereicherung wirken - entsprechend dem Grundsatz der Selbstentfaltung:

Grundsatz der Selbstentfaltung: Ich kann mich nur dann selbst entfalten, wenn sich die anderen Menschen selbst entfalten können und umgekehrt...
 
Ergebnis der Utopiephase der Kurzwerkstatt:

"Die Menschen sind untereinander und in der Umwelt integriert und vernetzt, sie sind miteinander verbunden, sie haben die gleichen Möglichkeiten und sie leben mit Zugewinn für Umwelt und Mensch."

Die Realisierungsphase zum Thema "Ums Menschsein geht es..." wird uns wohl den Rest unseres Lebens beschäftigen... ;-)


Ein ausführlicherer Text schildert zusammenfassend die Bedeutung der Selbstentfaltung für ein neues Konzept von Gesellschaft.

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