Kritische Theorie

Bekannter als die Praxisphilosophie ist die Kritische Theorie. In ihr werden die historischen Erfahrungen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts verarbeitet – in denen sich zeigte, daß die wirklichen Menschen nicht in ausreichendem Maße die gebotenen Gelegenheiten ergriffen, sich von den kapitalistischen Umständen zu befreien. Diese Theorie behält die Absicht der Kritik bei, muß aber primär thematisieren, daß die Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse so umfassend ist, daß auch Bewusstsein und Wissenschaft von ihr maßgeblich geprägt werden und ihre Überwindung dadurch fast unmöglich wird. Auch Philosophie kann nicht aus dieser Totalität herausspringen, aber es ist möglich, daß sie es "mit ihren Mitteln versteht, auch noch die Momente an sich zu durchschauen, durch die sie in das verflochten ist, was dem widerspricht, was sie eigentlich will" (Adorno 1964-65/2001, S. 236). Wie eine große Anzahl Menschen zu diesem Durchschauen kommen soll, bleibt eher ungewiß. Konstatiert wird primär die erfolgreiche Integration der einzelnen Individuen in die kapitalistische Totalität. Immer und immer wieder finden die Kritischen Theoretiker Gründe für die ungenügende Kraft der Menschen, sich zu befreien, es überhaupt zu wollen. Der Kritischen Theorie wird deshalb auch vorgeworfen: "Ihre ganze Theorie besteht ja in der Suche nach unausweichlichen Gründen für Unterwerfung" (Marxistische Gruppe S. 29).

Bild 14: Kritische Theorie

Die "Negative Dialektik" nach Adorno ist jedoch weiterhin suchend auf das gerichtet, was "mehr ist, als es ist" (Adorno 1966/1990, S. 164). Die kritische Intention der illusionslosen Analyse der gesellschaftlichen Totalität kann sich nicht in einem positiven, wissenschaftlichen Aufweis des Hoffnungsvollen zeigen – sondern in einem dem Aufgefundenen kritisch engegegengesetzten Urteil: "So wie es ist, muß es nicht sein!".

Wenigstens Spuren von Freiheit sind auch heute schon auszumachen: "Frei wäre erst, wer keinen Alternativen sich beugen müsste, und im Bestehenden ist es eine Spur von Freiheit, ihnen sich zu verweigern" (ebd., S. 226). Nur noch die Verweigerung am irrationalen Geschehen wird auch von Herbert Marcuse als vernünftig, rational anerkannt (Marcuse 1964/1998, S. 204). "Unter der Herrschaft eines repressiven Ganzen läßt Freiheit sich in ein mächtiges Herrschaftsinstrument verwandeln. Der Spielraum, in dem das Individuum seine Auswahl treffen kann, ist für die Bestimmung des Grades menschlicher Freiheit nicht entscheidend, sondern was gewählt werden kann und was vom Individuum gewählt wird" (ebd., S. 27). Gegen Resignation und Anpassung hält Herbert Marcuse am Entwurf eines anderen Lebens fest. Er kritisiert die Verdrängung der Werte der Selbstbestimmung durch Massenorganisationen und Ideologie: "Es geht um jeden einzelnen und die Solidarität von einzelnen; nicht nur um Klassen oder Massen!" (Marcuse 1979/89, S. 25). Eine Beschränkung auf die Innerlichkeit würde jedoch zu einer persönlichen Nabelschau: "Jede Verinnerlichung... die nicht die Erinnerung an Auschwitz festhält, die von Auschwitz als belanglos desavouiert wird, ist Flucht, Ausflucht..." (ebd.).

Existentialismus

Trotz alledem – der Enttäuschung entgegen – gibt es eine weitere, optimistisch denkbare Richtung, Nach Jean-Paul Sartre (1905 – 1980) bedeutet Entfremdung nicht, daß alles Konkrete einem abstrakten, vollständig totalisierenden Gegenüber (Gesellschaftssystem etc.) unterworfen sei. "Totalisierung ist niemals vollendet" (Sartre 1964, 87). Diese Aussage stützt sich wesentlich auf die Beachtung der vielfältigen Vermittlungsebenen, in denen sich der einzelne Mensch bewegt. Sartre gibt zu bedenken, daß der traditionelle Marxismus oft zu schnell die Situation des Einzelnen mit dem Allgemeinsten "kurzschließt", zu stark totalisiert. Nicht alles Verhalten kann rationalisiert werden. Die Existenz kann nicht gewusst werden – aber dieses Nicht-Wissen kann verstanden werden (Sartre 1964, S. 186). Die Vermittlung über mehrere Ebenen ist notwendig, damit kein totalisierender Rückschluß auf eine eventuell totale Entfremdung geschieht.

Gegenüber dieser Abstraktheit insistiert Sartre darauf, wieder den Menschen in den Mittelpunkt einer Theorie zu stellen:

"Der Marxismus wird zu einer unmenschlichen Anthropologie degenerieren, wenn er nicht den Menschen als seine Grundlage reintegriert" (Sartre 1964, S. 191).

Adam Schaff nahm den Existentialismus zum Anlaß, eine marxistische ("nichtrevisionistische") Antwort auf die als berechtigt angesehenen Fragen der Existentialisten zu geben (Schaff 1965). Vor allem die Vorstellung des Menschen "isoliert, einsam, tragisch, im sinnlosen Ringen mit den irrationalen Kräften umgebenden Welt (ebd., S. 20) wird zum sachlichen Grund für die Ablehnung des Existentialismus. Schaff verweist aber gerechterweise auch auf den "zweiten Sartre", der eher im Einklang mit einem optimistischen Marxismus steht.

Der Name für das Konzept des "Existentialismus" weist darauf hin, daß gegenüber allen Zuschreibungen eines "Wesens" oder einer "menschlichen Natur" die unmittelbare Existenz primär ist.

Bild 15: Existentialismus bei Sartre

Nur in dieser Existenz ist das Sein veränderlich, kann sich ändern, muß sich ändern. Diese Existenz steht auch vor allem Bewusstsein. Sartre sieht sich damit in der Tradition Kierkegaards, der gegen Hegel eingewendet hatte, daß ein existierender Mensch niemals von einem Ideensystem assimiliert werden und daß subjektives Leben niemals Gegenstand eines Wissens sein kann (Sartre 1964, S. 16).

"Existieren, das ist dasein, ganz einfach; die Existierenden erscheinen, lassen sich antreffen, aber man kann sie nicht ableiten" (Sartre 1938/1997, S. 149)

Sartre entwickelt – auf Grundlage der progressiv-regressiven Methode Henry Lefebvres eine differenzierte Weise der "dialektischen Totalisierung":

"Denn die dialektische Totalisierung muß die Handlungen, die Leidenschaften, die Arbeit und die Bedürfnisse ebenso wie die ökonomischen Kategorien umfassen, sie muß gleichzeitig den Handelnden wie das Ereignis in den historischen Komplex einordnen, ihn im Verhältnis zur Richtung des Werdens definieren und genauestens den Sinn der Gegenwart bestimmen." (Sartre 1964, S. 144).

Wichtig ist, daß dabei die Subjektivität der Handelnden nicht ausgeschaltet wird und es keinen äußeren Beobachter gibt. Motive von Handlungen können nicht abgeleitet werden – sie können nur verstanden werden – aus dem Entwurf des Handelnden heraus. Handlungsgründe sind durch den freien Entwurf des Menschen bedingt.

Was hat Sartre auf diese Weise über sich und andere Menschen herausgefunden? Nichts, das ein für allemal feststehen würde. Der Existentialismus ist "eine bestimmte Betrachtungsweise der menschlichen Fragen, die es ablehnt, dem Menschen eine für immer festgelegte Natur zuzuschreiben" (Sartre 1944/1986, S. 58). Dies geschieht dadurch, daß die Existenz vor das Wesen gestellt wird:

"Wenn die Existenz dem Wesen vorausgeht, das heißt, wenn die Tatsache, daß wir existieren, uns nicht von der Notwendigkeit entlastet, uns unser Wesen erst durch unser Handeln zu schaffen, dann sind wir damit, solange wir leben, zur Freiheit verurteilt...

Frei sind wir, weil wir in jedem Augenblick unseres Lebens über alles, was wir tun oder nicht tun, frei entscheiden. ... Selbst wenn wir uns zur Untätigkeit, zur Passivität entschließen, bleibt unser eigener Entschluß." (König 1986, S. 44)

Jeder Mensch vollzieht in seinen Handlungen nicht etwas Vorgegebenes. Er folgt auch nicht "frei seiner notwendigen Natur", wie wir es aus anderen Konzepten kennen. Nein, die Wahl, die Menschen haben – auch wenn sie es gar nicht wöllten, ist echt. Das Leben lässt ihnen keine Unveränderlichkeit oder die einfache Wahl aus Angebotenem. Der Mensch muß Auswege erfinden:

"... es gibt keine Auswege zu wählen. Ein Ausweg, der wird erfunden" (Sartre 1947/1986, S. 90).

Auch widrige Umstände sind kein Gegenargument. Denn nur durch uns, "das heißt durch die vorherige Setzung des Zwecks" taucht das auf, das uns als behindernd erscheint (Sartre 1943/1997, S. 834). Vorher wäre diese Sache neutral gewesen. Nur unser Zweck setzt sie als hilfreich oder behindernd. "Obwohl die rohen Dinge... von Anfang an unsere Handlungsfreiheit begrenzen können, muß doch unsere Freiheit selbst vorher den Rahmen, die Technik und die Zwecke konstituieren, für die sich als Grenzen erweisen werden" (ebd.). Nur was wir überschreiten wollen, erweist sich als Grenze. Auch großes Leiden und eine harte Situation müssen nicht unbedingt dazu führen, daß die Betroffenen diese Situation überwinden wollen.

Nicht die "Härte einer Situation und die von ihr auferlegten Leiden" sind Motive "dafür, daß man sich einen andern Zustand der Dinge denkt, bei dem es aller Welt besser ginge; im Gegenteil, von dem Tag an, da man sich einen anderen Zustand denken kann, fällt ein neues Licht auf unsere Mühsale und Leiden und entscheiden wir, daß sie unerträglich sind" (ebd., S. 756).

Für die Freiheit, diese Entscheidung treffen zu können, ist nicht der Erfolg einer Handlung wichtig. Nicht "erreichen, was man gewollt hat" definiert die Freiheit bei Sartre, sondern "sich dazu bestimmen, durch sich selbst zu wollen" (ebd., S. 836).

Jeder Mensch wird "durch seinen Entwurf definiert"(Sartre 1964, S. 162). Auf diese Weise sind Menschen "vor allem durch das Überschreiten einer Situation gekennzeichnet, durch das, was ihm aus dem zu machen gelingt, was man aus ihm gemacht hat" (Sartre 1964, S. 161). Dies gilt für jeden Menschen zu allen Zeiten. Nur auf Grundlage der vorausgesetzten Freiheit kann es auch Versklavung geben (ebd., S. 192). Oder die Wahl, sich dem Exterminismus, dem falschen Fortschritt zu verweigern.

Grundlegend ist die Haltung:

"Wir lehnen es ab, den entfremdeten Menschen mit einer Sache gleichzusetzen... Wir betonen das Spezifische der menschlichen Handlung" (ebd., S. 101).

Jeder Mensch hat die Wahl, im Guten wie im Bösen. Ob er es befreiend findet oder sich bedrängt fühlt von der damit verbundenen Verantwortung. Jeder Mensch wählt in jedem Moment sein Leben – auch wie er mit seiner Vergangenheit umgeht, ist seine Wahl. Egal, ob ich von den äußeren Umständen behindert werde, oder ob sie mir helfen – ich wähle mein Leben. Ich muß es sogar, "Ich bin verurteilt... frei zu sein" (Sartre 1943/1997, S. 764). Diese Wahl ist nicht willkürlich – jedes Handeln ist intensional, auf Zwecke gerichtet, auf Motivationen gestützt. Diese jedoch sind nicht ableitbar. Sie sind keine festen Dinge – sondern gerade das Nicht-Festgelegte, das Offene im Menschen (Sartre sieht hier die Wirkung des "Nichts" entgegen dem festgelegten "Sein") macht seine Freiheit aus.

Für die mitmenschlichen Beziehungen geht Sartre davon aus, daß ich – indem ich von einem anderen wahrgenommen werde ("der Blick") – erst einmal objektiviert werde (Sartre 1943/1997, S. 638). Das "Für-andere-Sein" ist ein Problem. Eine weitere Frage diskutiert Sartre im Zusammenhang mit dem "wir". Während es einerseits als das Besondere nivellierende abstrakt Gemeinsame betonen kann, sieht Sartre darin auch den Begriff für "eine unendliche Vielfalt möglicher Erfahrungen" (ebd., S. 720). Das "Wir" bei Sartre ist eine Pluralität von Subjekten, die einander als Subjektivitäten anerkennen. Dieses "Wir" ist auch eine nicht zu leugnende individuelle Erfahrung, entweder als "gemeinsam Objekt sein" – oder auch "gemeinsam Subjekt sein". Über mögliche Gruppenstrukturen schreibt Sartre ausführlich in seiner "Kritik der dialektischen Vernunft" (Sartre 1967/1980). Er unterscheidet hier "serielle Einheiten"bloße Ansammlungen von Menschen, in denen lediglich die Gemeinsamkeit der Beteiligten gegenüber einem äußeren Betrachter betont wird (abstrakte Einheit) – und die "Gruppe", die er als "Überschreitung der Notwendigkeit auf eine gemeinsame Freiheit hin" (ebd., S. 346) kennzeichnet. Sie ist nie statisch stabil, sondern existiert nur als Prozeß, als "konstituierte Dialektik" (ebd., S. 365).


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