Mit New Work und New Culture auf dem Weg in eine Selbstentfaltungs-Gesellschaft

Das Konzept "New Work" von Frithjof Bergmann, das für unseren Workshop vom 7.-9. Juli 2006 in Hütten/Thüringen richtungsleitend ist, wurde in der Buchveröffentlichung im Titel ergänzt durch die Forderung nach einer "New Culture". Arbeit im Sinne fremdbestimmter "Mühsal" von Unmündigen (Mackensen 1985: 45) zu erneuern, ist wohl nicht in unserem Interesse. Im Englischen ist wegen der Unterscheidung von "labour" und "work" eine stärkere Differenzierung von menschlichen Tätigkeiten möglich, wobei "labour" mit der entfremdeten Arbeit in Verbindung zu bringen ist, während "work" stärker an selbstbestimmtes "Werkeln" erinnert.
Seit mehreren Jahren wird diskutiert, ob wir uns überhaupt noch positiv auf die "Arbeit" - auch im Sinne von "work" - beziehen können. Die Arbeit als "tätige Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensbedingungen" (Gräbe 2006) hat ihren Charakter in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt. Noch müssen viele Menschen schwere, schmutzige, beinahe unerträgliche Arbeiten verrichten; der neue Dokumentarfilm "Workingman´s Death" zeigt das eindrücklich. Auf Grundlage dieser extrem ausgebeuteten Arbeit sowie der Vernutzung anderer wichtiger Lebensressourcen zeigen sich aber auch schon Muster einer neuen Form der "tätigen Auseinandersetzung mit den eigenen Lebensbedingungen". Bei einer Betriebsbesichtigung im Porzellanwerk Kahla -hier in Thüringen - kann man das besichtigen. Während früher das Anbringen der Henkel an die Kaffeetassen mühselige und pusslige Handarbeit war, legt bei der neuesten Produktionslinie kein Mensch mehr Hand an die Materialien. Lediglich die Software für das Design und die Produktionssteuerung ist noch direkt Menschenwerk. Der Mensch tritt, wie von Marx erwartet, neben die unmittelbare Fertigung. Er kann dies auf Grundlage modernster Informations- und Produktionstechnik, die eine Menge wissenschaftlicher Leistungen in sich enthalten. Marx erwartete von solch einer Form der Produktion von Gebrauchsgütern, dass sie über die kapitalistische Produktionsweise hinausweist: "Die Wissenschaft kann nur in der Republik der Arbeit ihre wahre Rolle spielen." (Marx 1871: 554)
Wir wissen, dass natürlich nicht die Produktionstechnik und -organisation allein und automatisch zu einer vom Kapitalismus befreiten Lebens- und Produktionsweise führen wird. Es sind die Menschen, die ihre Beziehungen anders als bisher regeln müssen. Auch hier erleben wir bereits die ersten Konsequenzen. Leider erleben wir sie zuerst in ihren negativen Folgen als Massenarbeitslosigkeit, deren soziale Folgen im weltweiten neoliberalen Kapitalismus nicht einmal mehr ausreichend sozialstaatlich abgefangen werden können. Im positiven Sinne treiben uns die Erfahrungen mit den grundlegend neuen Fertigungs- und Organisationsmöglichkeiten aber auch über die traditionellen Modelle alternativer Wirtschaft hinaus. Inzwischen sind viele von uns auch zu der Auffassung gelangt, dass die Metapher von der "Republik der Arbeit" noch viel zu sehr die "Arbeit" in den Mittelpunkt stellt, was die Gefahr in sich birgt, dass die einzelnen Menschen nur noch als Arbeitende gewürdigt werden. Das Neue der möglichen und anzustrebenden neuen Gesellschaftsform sollte es vielmehr sein, dass sich zwar Menschen weiterhin tätig mit ihren eigenen Lebensbedingungen auseinandersetzen werden, dass diese Tätigkeit aber nicht von fremden Zwängen bestimmt wird.

Die Neue Kultur, die mit neuen Formen der Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen einhergeht, ist von einem neuartigen Verhältnis der einzelnen Menschen zueinander, ihren gesellschaftlichen Verhältnissen und damit auch zu den damit verbundenen Tätigkeiten und ihren sachlichen Mitteln und Voraussetzungen (z.B. Technik) bestimmt. Das Neue ist, dass die Gesellschaftlichkeit menschlicher Individuen nicht mehr durch ihnen äußerliche Mächte (persönliche Herrschaftsstrukturen, zentrale Planungen oder abstrakte Geld/ Kapitalmächte) hergestellt wird, sondern von den Menschen im Ineinanderweben ihrer jeweiligen Selbstentfaltungsbestrebungen gestaltet wird. Deshalb ist diese Art von neuem Verhältnis, das von den Menschen als Individuen ausgeht, der Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen. Solange nicht die Menschen in diesen neuen, von ihnen selbst koordinierten Verhältnissen leben, hat es auch keinen Sinn, technikzentriert eine "neue Gesellschaft", beispielsweise als "Informationsgesellschaft" auszurufen.

Dass die Selbstentfaltung der Individuen als gesellschaftlicher Wesen im Mittelpunkt steht, ist keine dogmatische Setzung, sondern entspricht einerseits den historisch entstandenen Notwendigkeiten des menschlichen Überlebens auf unserem Planeten - aber andererseits sind dazu auch spätestens jetzt ausreichende Bedingungen gegeben. Deshalb sind die Vorstellungen einer um die je individuelle Selbstentfaltung der Individuen zentrierten Gesellschaft keine Vision aus dem "Nirgendwo", sondern eine konkrete Utopie im Sinne von Ernst Bloch, also einer wünschbaren alternativen Lebensweise, für die die grundlegenden Bedingungen gegeben sind (Bloch 1985: 757). Dies soll im Weiteren etwas näher ausgeführt werden.


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Zum Haupttext:
Selbstentfaltungs-Gesellschaft






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