Gelesen:

Betty Friedan: Mythos Alter.

Rowohlt Verlag 1995.

Die Pathologisierung des Alters *
Der "natürliche Abbau" im Alter *
Die krankmachende Betreuung *
Die Verkindlichung oder Würde des Alters *
Die Mitleids- und Selbstmitleidsfalle *
Das "Recht zu sterben" oder "bewusstes Sterben" *
Die Verdrängung des Alters *
Endlich alt werden! *
Bilanz *

"Da die Lebensphase nach der Elternschaft etwas spezifisch Menschliches ist,
können wir annehmen, dass sich in ihr die eigentliche Verwirklichung
unseres Menschseins vollzieht." (S. 109)

Ich hatte mich für dieses Thema (noch) nicht speziell interessiert – aber glücklicherweise bestelle ich mir manchmal Bücher aus Gebieten, die mich nur am Rande interessieren, wenn sie verbilligt angeboten werden. So war es auch mit diesem Buch "Mythos Alter". Ich erfuhr erst aus dem Vorwort, dass Betty Friedan schon ein Buch über den "Weiblichkeitswahn" geschrieben hatte. Dass "Frauen ausschließlich über ihre sexuelle Beziehung zu Männern und ihre biologische Rolle als Mutter definiert werden" (S. 14) und sich auch zu oft selbst so definieren, analysierte und kritisierte sie damals als "Weiblichkeitswahn". Nun ist sie darauf gekommen:

"Bei der Stereotypisierung des Alters sind die gleichen Kräfte am Werk wie bei den Stereotypisierungen von Rasse und Geschlecht." (S. 152)

Betty Friedan stieß auf das "Problem Alter" erst, als sie schon 60 Jahre alt wurde. Sie machte die Erfahrung, dass es ähnlich wie beim "Frausein" auch mit dem "Altsein" geschieht: Menschen mit vielen Lebensjahren werden nur noch über ihr Altsein definiert. Eine feministische Theologin schildert dies:

"Ich hatte mich eigentlich noch nie wegen meines Alters diskriminiert gefühlt – bis meine Schwestern in der Frauenbewegung (die mein Leben ist) anfingen, mich Mutter zu nennen." (zit. S. 77)

Betty Friedan begann nachzuforschen. Einerseits bei den "Alten" selbst, wobei ihr ihre eigene Alterung half – andererseits bei den ExpertInnen fürs Altsein, den GerontologInnen, SozialpolitikerInnen und professionellen AltenbetreuerInnen. Sie machte die Erfahrung, dass die "gerontologischen Experten das Alter mit Vorliebe in pathologischen Begriffen zu fassen versuchten. Alle positiven Aspekte schienen ihnen Unbehagen zu bereiten" (S. 28). Das Thema "Alter" ist durch Problemstellungen wie Alzheimer, Senilität und Pflegeheime besetzt. Für das Alter als neue und produktive Lebensphase gibt es so gut wie kein Interesse. Diesen Zustand entlarvt Betty Friedan als eine Falle, die es verhindert, dass wir selbst im Alter uns weiter entwickeln können.

Die Pathologisierung des Alters

Eine Befragung von Personen, die Verantwortung im Bereich sozialpolitischer Maßnahmen für Ältere haben, ergab, dass sie die Bedürftigkeit von Menschen über 65 Jahre stark überschätzten. Manche dachten, 50% und mehr Menschen über 65 würden in Heimen leben (S. 61).

Tatsächlich jedoch leben nur 5 % der Amerikaner über 65 Jahre in Heimen und nur 10 Prozent werden es in ihrem Leben jemals tun (S. 26). Auch in der Bundesrepublik lebten 1981 lediglich 3,4% der 60-74-Jährigen in Heimen, 10,8 % der 80-84-Jährigen und 26,4% der über 90-Jährigen (ebd.).

Mehr als 90 % der über 65-Jährigen leben zu Hause, nur 5% von ihnen erkranken an der Alzheimerschen Krankheit, sie leiden weniger unter akuten Erkrankungen als die Jüngeren, ihre Intelligenz läßt bis in die Achziger hinein nicht nach, wenn sie kontinuierlich aktiv bleiben (S. 84) – aber dies wird kaum bemerkt, für "wahr genommen", weil die öffentliche Meinung und darüber auch die meisten einzelnen Meinungen von einem anderen Bild bestimmt werden:

"Eine Analyse von 265 Artikeln über das Älterwerden in einer großen Zeitung des Mittleren Westens zeigt, daß keiner der Artikel sich mit älteren Menschen beschäftigte, die aktiv am Gemeinschaftsleben teilnehmen. Behandelt wurde nur die "Problematik" des Alters: Pflegeheime oder Rentner, die der "guten alten Zeit" nachtrauern." (S. 44)

Auch in der Bundesrepublik lassen 50% der Fensehsendungen über die Altersproblematik die Thematik "Altersheim" anklingen; 85% streifen die Themen Not, Armut, Hilfsbedürftigkeit, Einsamkeit und Verlassenheit (S. 51). So wichtig es ist, diese Aspekte des Alterns nicht zu vernachlässigen, so führt diese Reduktion des Themas "Alter" auch zu einer Vereinseitigung, zur Vorstellung der Zwangsläufigkeit dieser Probleme für die Altersphase.

Es ist auch interessant, dass ein Vorfall, der einem 35-Jährigen und einem 75-Jährigen geschieht, grundsätzlich unterschiedlich bewertet wird. Wenn jeder der beiden mit einer Einkaufsliste einkaufen geht und dabei Kaffee und Erdnussbutter vergisst, so wird das bei dem Jüngeren als "Vergesslichkeit" abgetan – der alte Mensch wird mit dem Etikett "Senilität" belastet (S. 73). Interessant ist, dass diese Einschätzung häufiger durch ältere Menschen geschieht als durch Jüngere. Anstatt dass die Älteren mehr Verständnis für die Probleme des älteren Herrn haben, versuchen sie sich stärker von ihm zu distanzieren, weil sie eher Angst haben, ihm ähnlich zu werden.

Ein weiterer Widerspruch ist auffallend: Eine Mehrheit von über 65-Jährigen nimmt an, dass zumindest die Hälfte ihrer Altersgenossen sehr große Probleme mit der Einsamkeit, schlechter Gesundheit, Geldmangel und Angst vor Verbrechen habe – sie selbst aber davon nicht betroffen seien (S. 76). Sie sehen also selbst das Alter schlechter, als es real ist. Obwohl sie die Betroffenen sind, jene mit ureigenster Erfahrung mit diesem Thema, sind sie dem ";Mythos Alter" verfallen. Der Mythos beherrscht die Vorstellungswelt mehr als die sicht- und erfahrbare Realität, es trübt sogar das Wahrnehmungsvermögen.

Auch Betty Friedan beschreibt, dass sie erst dachte, Menschen, die diesem Mythos nicht entsprechen, seien eine Ausnahme. Es war selbst für sie überraschend, "solche Menschen überall" (S. 86) zu finden. Diese Zusammenfassung kann diese vielen persönlichen Beispiele natürlich nicht übernehmen.

Der "natürliche Abbau" im Alter

Wir alle kennen die Vorstellung der verschiedenen "Lebensalter" bzw. Lebensphasen. Das Alter ist dort die Zeit nach dem Aufstieg auf den Berg, es wird dargestellt als Abstieg, Abbau von Fähigkeiten und Möglichkeiten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber bald, dass diese Zeit für Frauen länger ist als für Männer, die Lebenserwartung von Frauen ist größer. Auch ist das Leben der Frauen von vornherein weniger geradlinig, mit verschiedenen Brüchen, Sprüngen und Phasen einander abwechselnder Auf- und Abschwünge. Es zeigte sich, dass "Frauen, deren Leben die meisten Veränderungen und Brüche beinhaltetet hatten, in späteren Jahren am vitalsten waren. Die frustriertesten, verbittertsten und depressivsten schienen dagegen diejenigen zu sein, die sich am hartnäckigsten an ihre frühere Rolle geklammert hatten..." (S. 185).

Betty Friedan weist nach, dass die Vorstellung von steil abfallenden Fähigkeiten aus Daten verallgemeinert worden war, die bei isoliert im Altersheimen lebenden männlichen Patienten ermittelt worden waren. Betty Friedan fragte dagegen:

"Aber sollte man sich nicht auch mit Männern und Frauen beschäftigen, deren Leben sich nicht nach diesem Muster verläuft? Warum versuchen wir nicht zu erforschen, welche kontinuierlichen oder neuen gesellschaftlichen Rollen diese zusätzlichen Lebensjahre bieten, warum sehen wir diese Jahre nicht als eine neue Phase des persönlichen oder auch spirituellen Wachstums?" (S. 27)

Betty Friedan erlebte einen großen Widerstand bei den Expertinnen, eine mögliche "Persönlichkeitsentwicklung im Alter" (S. 27) überhaupt anzuerkennen. Da diese gar nicht erwartet wird, ist die Datenerhebung auch gar nicht danach ausgerichtet sie zu finden, sondern eher systematisch zu übersehen. Nach wie vor werden vorwiegend jene Untersuchungen zitiert, die in den 50er Jahren als sog. "Querschnittstudien" gemacht wurden. Dabei wurden gleichzeitig Menschen unterschiedlichen Alters untersucht und miteinander verglichen. Die Älteren zeigten gegenüber den Jüngeren deutliche Defizite, die als Folge eines zeitlichen Verfalls gedeutet wurden. Betty Friedan verweist darauf, dass diese Unterschiede wohl eher daher rühren, dass sich in den USA im Verlaufe des 20. Jahrhunderts die Lebenschancen grundlegend verbesserten; die Jugend erhielt grundlegend bessere Bildungschancen, ihr Leben war reichhaltiger als das ihrer Eltern. Im unmittelbaren Vergleich mussten sie deshalb besser dastehen (vgl. S. 94). Erst später wurden Längsschnittstudien – also das Verfolgen von einzelnen Menschen über ihre Lebensphasen hinweg – durchgeführt und bei denen zeigte sich der bis dahin propagierte Verfall von Fähigkeiten überhaupt nicht in der erwarteten Weise (S. 95).

"Dieses ganze Gerede, daß die Gehirnzellen im Alter absterben, kommt eigentlich nur daher, daß sich die Leute von allen Energiequellen abschneiden, die neue Ideen und Hoffnungen und Emotionen bringen." (zit. S. 859)

Im Gegenteil, es gibt "eindeutige Beweise, auch wenn sie wenig greifbar und schwerer messbar sind, dass parallel [zum Nachlassen gewisser physiologischer Fähigkeiten] gewisse psychosoziale Fähigkeiten wie planendes Denken, Klugheit, Umsicht und Weisheit zunehmen" (zit. S. 88). Auch im intellektuellen Bereich haben die Älteren Vorteile im Bereich des "effektiven Gebrauchs gespeicherter Informationen", der "Flexibilität im Denken" und in der "Freiheit im Entwickeln von Ideen, Vorstellungskraft und Strukturieren von Gedanken" (S. 96). Während höhere Abstraktionsstufen nicht mehr so gut vertreten sind, geschieht im Denken Älterer eine "Rückkehr zum Konkreten" auf einem "höheren Niveau struktureller Organisation" (S. 135).

"Unter bestimmten Bedingungen, so kann man argumentieren, bedeutet das Beharren darauf, daß Abstraktionen auf spezifische soziale Kontexte zurückbezogen werden müssen, einen höheren Grad psychischer Reife als die Anwendung reiner Logik, wie sie in der Jugend oft zu beobachten ist." (zit. S. 135) 1

Die früheren Aussagen über den angeblichen Verfall der Gehirnstrukturen basiert "auf weniger als zehn Autopsien menschlicher Gehirne, und die damals autopsierten Gehirne stammten in der Regel... vor allem von institutionalisierten Männern aus dem Veteranen-Hospital und anderen Krankenhäusern" (S. 121). Auch die berühmten Intelligenztests leiten systematisch fehl. In ihnen wird nur jene Art zu denken abverlangt, in der die jüngeren Menschen besser sind (logisch-abstraktes Denken) und jene Fähigkeiten, bei denen die Älteren glänzen (in Erfahrungszusammenhängen denken), werden sogar eher bestraft (S. 124).

Viele körperliche Veränderungen, die in den letzten Jahrzehnten als normaler Altersverfall gegolten hatten, lassen sich nach neueren Erfahrungen durchaus durch Umstellungen in der Ernährung, im Lebensstil, durch Gymnastik oder ähnliches sogar rückgängig machen (S. 91). Viele anscheinend "normale" Alterserscheinungen wie hoher Blutdruck, Gewichtszunahme, hoher Cholesteringehalt mit ihren Folgen für die Gesundheit sind auch nachweislich auf die sog. zivilisierten Länder beschränkt, also nicht biologisch bedingt. Als wichtiger Faktor bei der Erhaltung und sogar Erhöhung der Gesundheit erweist sich eine große soziale Aktivität. Aktives Engagement gewinnt im Alter sogar noch an Bedeutung (S. 101).

"Komplexe soziale Aktivitäten, bei denen die kognitiven Fähigkeiten gebraucht werden und Entscheidungsmöglichkeiten gegeben sind, sind offensichtlich ein Schlüssel zu Langlebigkeit und vitalem Altern." (S. 102).

Dies erklärt wohl auch, dass Frauen älter werden als Männer, denn sie sind in dieser Beziehung mehr gefordert.

Während frühere Untersuchungen vor allem allgemeine "Gesetzmäßigkeiten des Alterns" suchten, wird jetzt die individuelle Unterschiedlichkeit der Alternsprozesse immer deutlicher.

"Das Individuum durchläuft nicht passiv ein vorherbestimmtes Programm des Alterns, sondern ist – innerhalb bestimmter Grenzen – aktiv und beeinflußt den Verlauf des Alterungsprozesses durch sein Verhalten und durch seine Entscheidungen." (S. 127)

Bekannt ist, dass Frauen i.a. älter werden als Männer. Ihr Lebenslauf ist durchschnittlich weniger geradlinig als jener der Männer. Dies wird wohl ein Einflussfaktor für ein hohes Alter sein. Außerdem zeigt es sich, dass die Lebensverläufe individuell viel unterschiedlicher sind, als alle quantitativen Aussagen bisher vermuten lassen. Bei fast allen Untersuchungsreihen variieren die Daten für ältere Menschen untereinander mehr als jene bei jüngeren Menschen. Individuelle Unterschiede prägen sich also im Alter stärker aus.

"Vielleicht zählen im Alter individuelle Entscheidungen (und heitere Gelassenheit) mehr, weil wir aus den reproduktive Geschlechtsrollen bei der Arbeit und in der Familie, die das allgemeine Verhalten diktieren, entlassen werden und weil keine weiteren gesellschaftlichen Rollen für uns vorgesehen sind." (S. 94)

"Je älter du wirst, desto mehr wirst du du selbst" – heißt es deshalb berechtigt (S. 441). Dies gilt aber nicht unter allen Bedingungen.

Die krankmachende Betreuung

Es kann vermutet werden, dass eher "die Alltagswelt vieler älterer Menschen so beschaffen ist, daß sie intellektuellen Schwund fördert, weil sie nicht die Herausforderungen und Erfahrungsmöglichkeiten anbietet, die hohe intellektuelle Leistungen hervorbringen würden" (zit. S. 131).

Dass von den in Heimen lebenden Menschen angeblich 60 % an "irreversibler Senilität" leiden, ist nach Betty Friedan auch eher eine Folge des Heimlebens als biologische Zwangsläufigkeit.

"Wenn Ärzte und Sozialarbeiter aufgrund des Altersmythos ältere Menschen so behandeln und die Gesellschaft insgesamt nur minimale Anforderungen an sie stellt, wird das Selbstwertgefühl der Betroffenen noch mehr gemindert, und es kann in der Tat zu einem Nachlassen der Kompetenz kommen..." (S. 79)

In Seniorenheimen wurde ein Experiment durchgeführt, bei der einer Gruppe von älteren Menschen zugestanden wurde, selbst zu entscheiden, wie sie ihr Zimmer einrichten wollen, wie sie die Zeit verbringen wollen, ob sie sich mit Freunden oder in ihrem Zimmer aufhalten wollten, ob sie Filme anschauen wollten. Sie konnten sich Grünpflanzen aussuchen, die sie noch selbst pflegen können. Die andere Gruppe von Menschen wurde stärker versorgt und betreut: "Wir wollen Ihr Zimmer möglichst schön herrichten... Wir wollen alles tun, um Ihnen zu helfen... Nächste Woche zeigen wir ein paar Filme. Wir werden Sie wissen lassen, für welchen Abend Sie eingeteilt sind... und Ihre Blumen wird die Pflegerin für Sie gießen." Schon nach drei Wochen zeigte sich ein eklatanter Unterschied im Verhalten der Menschen. Bis auf eine Person wuchs das Interesse an der Umwelt, die Aktivität und das Wohlbefinden der Menschen in der ersten Gruppe – aber nur 21 % der Menschen in der zweiten Gruppen ging es durch die intensive Betreuung besser als vorher. Auch die Sterberate unterschied sich stark. In der zweiten Gruppe starben in einem Zeitraum von anderthalb Jahren doppelt so viele Menschen wie in der ersten. (S. 111-112)

Auf diese Weise zeigte sich der schon länger vermutete Effekt der "erlernten Hilflosigkeit" bei überbetreuten Personen. Das Problematische daran ist, dass der Mensch die Kontrolle und Selbstbestimmung über sein Leben verliert. Auch für das psychische Wohlbefinden ist entsprechend einer Studie das Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben am Wichtigsten (S. 179).

Ebenso wichtig ist es, so lange wie irgend möglich im vertrauten Heim bleiben zu können. Es ist wichtig, nicht nur ein Dach über dem Kopf zu haben, sondern "sein Heim als Symbol seiner selbst zu gestalten" (S. 456). Betty Friedan beschreibt ausführlich die Lebensweise in verschiedenen Seniorenheimen und selbstorganisierten Gemeinschaftsprojekten älterer Menschen. Hier muss diese Zusammenfassung besonders blaß bleiben, während im Buch die verschiedensten Projekte ausdrucksvoll geschildert werden. Auch hier zeigt sich, dass "Leute, die sich für etwas einsetzen und viele Interessen haben, eher gesund bleiben und dann einfach sterben, also nicht lange kränkeln und gebrechlich oder senil werden" (S. 476).

"Wenn sie mit anderen Leuten zusammenleben würden, statt sich in ihren Wohnungen zu verkriechen, hätten sie einen Grund, wieder gesund zu werden. Wenn man alleine ist, hat man weniger Durchhaltevermögen. Geht es im Leben darum, daß man seine Küche genau nach Wunsch eingerichtet hat oder daß man mit anderen zusammen lebt und für sie da ist, wenn sie Hilfe brauchen, und sich umgekehrt von ihnen helfen läßt, sich an ihrer Gegenwart freut und die schönen und schweren Stunden des Lebens gemeinsam durchmacht?" (zit. S. 533)

Dass zu viel und falsche Betreuung erst unselbständig macht, bezieht sich nicht nur auf Heime. Alle Unterstützungseinrichtungen für Senioren müssen sich daran messen lassen, ob sie Unselbständigkeiten verstärken und die Abgrenzung alter Menschen fördern, oder ob sie auf Integration und Unabhängigkeit hinarbeiten.

Die Verkindlichung oder Würde des Alters

Gerade der Umgang mit alten Menschen in Heimen zeigt, dass oft davon ausgegangen wird, alte Menschen würden mit den Jahren "in die Kindheit zurückkehren", sich "kindlich verhalten" und genauso werden sie dann auch behandelt. Betty Friedan zeigt, wie viele Rehabilitationsmethoden für alte Menschen Kinderlehrbüchern entsprechen. Auch die Unterbringung in Heimen, die sich nur für die körperliche Betreuung und Pflege einsetzen, aber die Menschen als Objekte ihres Tuns, ohne persönliche Vergangenheit und Zukunft betrachten, erhöht die Sterblichkeit. Menschen brauchen das "Gefühl, als Menschen zu zählen, auch mit achtzig, fünfundachtzig oder neunzig, egal, in welcher physischen Verfassung" (S. 702) sie sind.

"Selbst Alzheimerkranke brauchen Gelegenheit, Aufgaben zu bewältigen, brauchen Entscheidungsspielräume, um die Menschen sein zu können, die sie nach wie vor sind und sein können." (S. 705)

Zur Würde gehört es auch, in selbstbestimmter Aktivität Risiken eingehen zu können und nicht überbehütet zu werden. "Würde liegt auch darin, Entscheidungen zu treffen und Risiken eingehen zu dürfen." (zit. S. 706).

Die Mitleids- und Selbstmitleidsfalle

Natürlich ist es von denen, die sich aufopfern in der Betreuung und Pflege älterer und alter Menschen, oft nicht schlecht gemeint. "Alte Menschen haben es verdient, sich auszuruhen und gepflegt zu werden" (S. 31) – wie nachsichtig und brav klingt das. "Bewahre mich vor diesem Mitleid!" meint Betty Friedan dazu. Gerade die "offizielle Politik mitleidvoller Diskriminierung" (S. 93) verstärkt die Angst vor dem Alter.

Es gibt ein weiteres Problem, das viele Menschen daran hindert, das Alter als eine neue Phase zu verstehen und in neugierig Angriff zu nehmen. Natürlich kann es geschehen, dass nach dem ersten Ausprobieren von Neuem im hohen Alter der Gedanke aufkommt: "Das hätte ich auch schon früher tun können, immer schon, warum habe ich es nicht früher getan?". Selbstmitleid an dieser Stelle kann noch viele schöne Monate und Jahre verhindern.

"Um in dieser neuen Phase "vital am Leben partizipieren" zu können, statt in "Stagnation" zu verfallen, müsse man es schaffen, ohne Verzweiflung dieses eine, einzige Leben so zu akzeptieren, wie man es gelebt hat, und auch die Gründe annehmen, warum es so gewesen ist." (S. 603)

Einer der alt gewordenen Freunde von Betty Friedan gibt ihr den Rat: "Akzeptiere das Päckchen, das du zu tragen hast, und überlege dir, wohin du es schon getragen hast." (S. 859)

Das "Recht zu sterben" oder "bewusstes Sterben"

Die Fragestellung, wie wir mit dem Alter umgehen, berührt auch den Endpunkt des Lebens, das Sterben. Natürlich denkt man hier vor allem daran, dass ein Leben nicht künstlich verlängert werden soll. Tatsächlich jedoch ist diese Debatte eingebettet in die Ablehnung des Alters insgesamt, in eine Politik und öffentliche Meinung, die das alternde, behinderte Leben diskriminiert. Ein amerikanischer Gouverneur hatte bereits öffentlich geäußert, alte Menschen seien verpflichtet, sich aus dem Leben "zu verabschieden" (S. 62), um der nächsten Generation Platz zu machen. Natürlich erntete er einen Aufschrei der Empörung, aber in der New York Times wurde der Zusammenhang mit der üblichen Altersideologie gesehen:

"Unsere Wissenschaften – Biologie, Psychologie, Soziologie und sogar die Gerontologie – beschreiben das Alter als Phase des Verfalls. Könnte das heutige wissenschaftliche Denken eingesetzt werden, um in Zukunft de iure die Vernichtung der älteren Bevölkerung zu rechtfertigen?" (zit. S. 63)

Die ersten Schritte wurden schon eingeleitet: 1988 erschien in den USA ein detaillierter Plan zur Rationierung der medizinischen Aufwendungen für ältere Menschen, der ernsthaft diskutiert wurde.

"Wenn das Prinzip, "alles Menschenmögliche zu tun", um den Tod abzuwenden, einmal aufgegeben ist und Versuche unternommen werden, eine bestimmte Zahl von Jahren als erfülltes Leben anzusetzen, warum dann dabei stehen bleiben?" (zit. S. 723)

Es ist kein weiter Weg vom "Recht zu sterben" zur "Pflicht zu sterben"! Es soll als individuelles Entscheidungsrecht gelten – aber es besteht die Gefahr, dass es als gesellschaftlich akzeptierte Form der Euthanasie wirkt. Wenn die Gesellschaft Menschen im Alter ihr vollwertiges Menschsein abspricht, wird ein starker psychischer Druck auf die Selbsttötung ausgeübt. Obwohl sich in den 80er Jahren der Gesundheitszustand alter Menschen in den USA nachweislich verbesserte, stieg die Suizidrate in derselben Zeit um 25%! (S. 751) Die Stärkung der Suizidorientierung durch die Gesellschaft und Angehörige geht deshalb in die falsche Richtung.

"Das Recht, einen menschenwürdigen Tod zu sterben, muß auch das Recht beinhalten, im Alter weiter in der Gesellschaft zu leben und an ihr zu partizipieren. Es impliziert das Recht auf die Art von medizinischer Betreuung, Wohnen und Unterstützungsleistungen, die wir brauchen, um unsere Selbständigkeit zu wahren und diese neugewonnenen Jahre der Siebziger und Achziger selbstbestimmt leben zu können." (S. 749-750)

Betty Friedan schlägt vor, sich statt für das "Recht aufs Sterben" stärker für andere Möglichkeiten zu engagieren, "die uns tatsächlich die Möglichkeit geben würden, vergleichsweise gesund und selbständig in unserer gewohnten Umgebung alt zu werden, mit sinnvollen Lebensinhalten und echten Beziehungen." (S. 726). Die Konzentration auf das "Recht zu sterben" sieht sie als "eine gefährliche Verengung der grundlegenden Forderung nach Autonomie und Selbständigkeit im Alter und echten Möglichkeiten, weiterhin voll am Leben teilzuhaben" (S. 727).

Natürlich wird jede und jeder selbst den Wert seines Lebens unter verschiedenen Umständen, mit unterschiedlichen physischen Behinderungen für sich selbst einschätzen müssen. Mit 86 Jahren und Parkinson begann Sam Atkin das "Phänomen des Altseins – aus der Sicht des teilnehmenden Beobachters" (S. 321) zu dokumentieren:

"Der alte Mensch ist nicht nur ein Bündel von rigiden Mustern, das immer weniger in der Lage ist, den Adaptionszwängen seiner sich verändernden Umwelt zu genügen. Im Gegenteil, er passt sich ständig an – vielleicht sogar mehr als in den jüngeren Jahren!... Der alte Mensch zieht großes Vergnügen daraus, neue Fertigkeiten zu erlernen, seine Lebenswelt zu meistern, so klein sie auch sein mögen.

Ich mußte zum Beispiel wegen des Parkinson eine neue Methode lernen, meine Schuhe zuzubinden. Ich war zuerst sehr ungeschickt und habe lange gebraucht, bis ich es konnte. Aber es ist eine wichtige Leistung. Für das Schuhezubinden nicht von anderen abhängig sein! Das macht mich ganz glücklich.

Ich habe Neuland betreten – das Land des Altseins. An jeder Ecke tut sich das Unbekannte auf. Früher habe ich in einem komfortablen, zivilisierten Land gelebt. Jetzt lebe ich in einer unerschlossenen Region. Überleben – das ist es, was mich Tag für Tag und Augenblick für Augenblick beschäftigt und woraus ich Befriedigung ziehe. Obwohl ich große körperliche Probleme und oft auch Schmerzen habe, obwohl ich die meisten Dinge, die ich mein Leben lang getan habe, nicht mehr tun kann, bin ich doch freudig überrascht von meiner Welt. So paradox es ist – die kleinen Dinge des Lebens, der prosaische Fluß des Alltägliche, sind auf neue Weise interessant geworden..." (zit. S. 324).

Wenn es dann wirklich so weit ist mit dem Sterben, führt Betty Friedan an, dass verschiedene Autoren Beispiele für "bewußtes Sterben" beschreiben.

"Den letzten Augenblick loszulassen und sich dem nächsten zu öffnen, das heißt bewußtes Sterben. ... Wenn wir den Tod in uns hineinnehmen, hören wir auf, unsere Verleugnung, unsere Urteilsmechanismen, unseren Zorn aufrechtzuerhalten oder zu feilschen...

Der Tod des Körpers ist weniger schmerzhaft als der Tod des Ichs, des separaten Selbst. Der Tod des Selbst ist das Wegbrechen all dessen, was wir für stabil gehalten haben, das Wegbröckeln der Mauern, die wir errichtet haben, um uns dahinter zu verstecken... Es ist der Tod all dessen, was wir zu sein gelernt haben, all der Gedanken und Bilder, die uns in der Vergangenheit so sehr bestachen und die die Person schufen, die wir in der Zukunft sein würden. Das darf jetzt wieder im Fluß des Lebens aufgehen... Wir erfahren die tiefe Befriedigung, niemanden schützen und niemand sein zu müssen..." (S. 728-729)

Damit dies bewusst erlebt werden kann, ist es sinnvoll, im Leben bis zum letzten Moment "die Veränderungen ...vorzunehmen, die nötig sind, damit es bis zum Schluß sinnvoll bleiben kann" (S. 735-736). Was das im Einzelnen ist, kann nur jeder Mensch für sich selbst finden.

Die Verdrängung des Alters

Angesichts der Pathologisierung und Entwürdigung, die das Alter anscheinend notwendig mit sich bringt, ist es normal, das Alter so lange wie möglich zu verdrängen.

In der Werbung gibt es keine aktiven Personen über 65 (S. 43). Das alltägliche Leben im Alter wird öffentlich "unsichtbar". Alter wird entweder mit Krankheit und Verfall assoziiert oder wird nur dann akzeptiert, wenn es Jugendlichkeit imitiert. Alter wird nur negativ bestimmt als "Verlust der Jugend", nicht als Gewinn an Erfahrung, Wissen und Freiheit.

Deshalb wurde der "Jungbrunnen" zum Traum, der das Alter wegleugnet, es rückgängig machen soll. Der krampfhafte Versuch, an der Jugend festzuhalten ist eine der wichtigsten Blockaden für jede Weiterentwicklung. Betty Friedan dagegen sucht nach einem "Altbrunnen", nach jenen Quellen, die das Alter zu einer positiven Lebensphase machen.

Es wurde ermittelt, dass jene Menschen, die ihr eigenes Älterwerden realistisch einschätzten, es besser bewältigen. Sie versuchen nicht mehr, Jugendidealen hinterher zu hetzen, sondern stellen sich neuen Anforderungen, aus denen sie Selbstwertgefühl entwickeln und Veränderungen als Herausforderungen verstehen können. "Sie leugneten nicht, dass es anders war als in der Jugend, verwechselten diese Veränderungen jedoch nicht mit Krankheit" (zit. S. 105). Als Schlüsselfaktor stellte sich heraus, bis zum Lebensende Ziele zu haben, was auch beinhaltet, "Ziele altersgemäß zu modifizieren oder neue zu finden" (ebd.). Eine Untersuchung zeigte:

"Wir vermuteten, daß etwa die Hälfte dieser Männer [die sich keine Ziele setzten] ein sehr viel erfüllteres Leben hätten führen können, wenn sie darauf vorbereitet gewesen wären, im Ruhestand einen wesentlichen Teil ihrer neu gewonnenen Freizeit mit klar geplanten Interessen zu füllen... Die Probanden äußerten von sich aus den Gedanken, dass die Reduzierung ihrer Verantwortlichkeit nicht dem hohen Niveau ihrer geistigen Fähigkeiten entspreche, das sie weiterhin beibehielten. Sie sagten, im Rückblick hätten sie gut daran getan, für das fortgeschrittene Alter anspruchsvollere Aktivitäten zu planen." (zit. S. 106).

In Längsschnittstudien zeigte sich, dass jene Menschen vital älter wurden, die auf komplexe Weise zielgerichtet aktiv blieben/wurden und die in ein Netz enger sozialer Bindungen und Beziehungen vor allem auch außerhalb der Familie eingebunden waren (S. 110). Selbstbestätigung und Aktivierung beeinflussen sich gegenseitig positiv. Nachweislich hat soziales Eingebundensein Auswirkungen auf die Sterblichkeit (S. 115). Neben Selbstbestimmung ist Nähe einer der wichtigsten Faktoren vitalen Alterns (S. 345).

"Ob Mann oder Frau – wir erkennen, daß es an uns liegt, bewußt die Mauern einzureißen, die wir errichtet haben, um uns gegen jene beglückende und schmerzliche Nähe abzuschotten, bewußt die Risiken dieser Nähe einzugehen, bewußt die Zusammenkünfte und gemeinsamen Erlebnisse zu schaffen, die sie auch über Raum und Zeit hinweg lebendig halten." (S. 385)

Die Faktoren Selbstbestimmung und soziale Einbindung ermöglichen also jenen Menschen, die darüber verfügen (bei gleicher biologischer Konstitution) ein vitaleres Älterwerden als denen, die dies nicht genossen. Nur wenn wir das Altern nicht verdrängen, können wir uns auf einen interessanten neuen Weg begeben:

"Wie wollen wir die Jahre, die wir noch haben – so viele oder so wenige es auch sein mögen -, leben? Welche Abenteuer können wir jetzt eingehen, um sicherzustellen, dass wir leben, wenn wir sterben? Kann das Alter selbst so ein Abenteuer sein?" (S. 765)

Endlich alt werden!

Als Lebewesen ist es nur den Menschen gegeben, wesentlich länger zu leben, als ihr Leben für die biologische Reproduktion zweckvoll ist. Betty Friedan vermutet, dass das Alter "Entwicklungsmöglichkeiten (in bezug auf Werte und Fähigkeiten) bietet, die in der Jugend nicht gesehen oder nicht vollständig ausgeschöpft werden" (S. 107).2
Es wird darüber gesprochen, dass die höhere Lebenserwartung der Menschheit sogar einen evolutiven Sinn haben kann. Es ist, "als würden wir in unserer dritten Lebensphase neue Möglichkeiten für die Gesellschaft als ganze erproben" (S. 804).

"Die extreme Variabilität im Alter (zwischen sechzig und dem Eintreten des Todes unterscheiden sich die Menschen stärker voneinander als in jeder anderen Lebensphase) beweist eindeutig, daß der Individuationsprozeß ... unsere dritte Lebensphase auf einmalige Art und Weise prägt, es sei denn, wir erliegen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung vom Alter als einer Zeit des Verfalls und der Verzweiflung, weil wir stagnieren und das Älterwerden verleugnen." (S. 148)

Betty Friedan machte auch immer wieder die Erfahrung, dass nach dem Flüggewerden der Kinder und dem Ende der beruflichen Arbeit "der Mann seine "feminine" Seite wieder einfordern [kann], die unterdrückt werden musste" und die "Frau ... ihre durchsetzungsfähige, aggressive, maskuline Seite entdecken [kann], die ebenfalls unterdrückt werden musste, damit sie in der Nähe der Kinder bleiben konnte, die auf ihre Mütterlichkeit angewiesen waren" (S. 109). Es gibt in vielen Kulturen Belege dafür, "dass Männer in späteren Jahren passive, fürsorgliche oder kontemplative "weibliche" Eigenschaften entwickeln, während Frauen ihrerseits "männliche" Eigenschaften wie Wagemut, Durchsetzungsfähigkeit, Dominanz und Abenteuerlust entfalten" (S. 204).

"Wenn du Glück hast, heißt Älterwerden..., du wirst all die Sachen los, die nicht wichtig sind, du machst die Arbeit, die dich wirklich interessiert, und du verbringst deine Zeit mit Freunden, die dir wirklich wichtig sind." (S. 780)

Es wäre problematisch, keine Alternativen für einen Lebenssinn im Alter zu finden und nur eine "rückwärtsgewandte, verfallszentrierte Sicht" (S. 155) auf sich selbst zu haben.

"Es fühlt sich gut an, auf das eigene nackte Selbst reduziert zu sein, alle Rollen abgelegt zu haben. Es ist lange her, daß ich das letzte Mal das Gefühl gehabt habe, etwas wirklich Neues auszuprobieren... nicht zu wissen, was mich erwartet." (395).

Erst wer sich nicht mehr zu Konkurrenz und Perfektion getrieben fühlt, kann Weisheit, Reife, Gelassenheit und Abgeklärtheit als seine Stärken genießen und erfahrungsgemäß bleiben diese Menschen länger psychisch stark und physisch stabil und ihnen gelingt es besser, auftretende Probleme zu meistern.

"Das ist die wahre Befreiung des Alters: die erstaunliche Leichtigkeit und Unerschütterlichkeit, die es mit sich bringt, wenn man nicht mehr unter dem Zwang steht, sich zu beweisen, der /die Beste zu sein, zu konkurrieren, die anderen auszustechen – und wenn man sich zugesteht, auch einfach mal etwas nicht zu können. Was macht das schon aus?" (S. 424)

Es wurde untersucht, dass viele Künstler in ihren verschiedenen Lebensphasen einen starken qualitativen Wandel zeigen; im Alter erreichen sie eine bis dahin unerreichte Reife, auch wenn sie gerade dann einen neuen Stil entwickeln, Früheres verlassen und Neues ausprobieren. Ihr Geist, das Selbst, wird durch das Alter gerade nicht behindert, sondern kann sich weiter entwickeln (S. 162). Ein Achzigjähriger beschreibt sein Befinden:

"Ich bin immer mehr ich selbst. Aber ich kann auch besser mit Unterschieden umgehen und bin nicht mehr so streng. Vermutlich hat sich im Lauf der Zeit einfach mein Horizont erweitert... Ich bin auf niemanden neidisch, und meine eigenen Schwächen bedrücken mich nicht. Ich weiß genau, wenn ich alles noch einmal machen müsste, würde ich wieder Fehler machen. Na und?.... Du kannst das, was du getan hast, nicht ändern, aber du kannst vielleicht verstehen, warum du es getan hast." (zit. S. 770).

Auch viele "einfache" Menschen definieren sich mit 40, 50 oder 60 Jahren als Menschen neu, nehmen neue Herausforderungen an, von denen sie in der Jugend nicht einmal geträumt hatten. Ältere Menschen haben eher die Fähigkeit, "durch das ganze Brimborium zum Kern vorzustoßen – das Gespür für das Eigentliche und die Entschlossenheit, endlich wirklich man selbst zu sein" (S. 282). Mit 70 schreibt eine Frau:

"Ich hatte nicht damit gerechnet, daß dieser Lebensabschnitt so schön sein könnte, so lohnend. Der Kontakt mit der Natur und das Studium haben mir eine völlig neue Seite des Lebens erschlossen. Ich habe jetzt einen buntgemischten Freundeskreis... Sie sehen die Dinge ganz verschieden, und ich genieße diese Vielfalt – und die Tatsache, daß mir jetzt so wohl dabei ist, so alt zu sein, wie ich bin, und immer älter zu werden." (zit. S. 210)

 

Bilanz

Sozialpolitisch gesehen könnten die Erkenntnisse, die Betty Friedan zusammen trug, dazu missbraucht werden, individuelle Selbstverantwortung gegen gesellschaftliche Verantwortung auszuspielen. Wenn äußere Betreuungstätigkeit so schlecht ist und nur individuelles aktives und gemeinschaftliches Leben wirklich hilfreich ist, könnte angesichts der aktuellen Sparwut beschlossen werden, soziale Betreuung grundsätzlich zu reduzieren und auch das Altern wie andere soziale Risiken wieder der individuellen Sorge zu überlassen. Dem muss entgegen gewirkt werden – was jedoch nicht ausschließt, sondern damit verbunden werden sollte, einerseits alle sozialen Betreuungsaktivitäten in Richtung Selbstbestimmung und Eigenaktivitäten umzuorientieren und andererseits für das je eigene Leben (für sich selbst bzw. die eigenen alternden Verwandten und Bekannten) entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen.

"Das Problem ist zuerst und vor allem, wie wir den Kokon unserer illusionären Jugend aufbrechen können und eine neue Lebensphase wagen, in der es keine festgelegten Rollenmodelle gibt, keine Wegweiser, keine klaren Regeln oder voraussagbaren Belohnungen. Wie können wir heraustreten in die unbekannte Welt der Lebensjahre, die nun vor uns liegen, und wie können wir unsere eigenen Kriterien finden, nach denen wir sie gestalten?" (S. 85)

 


Endnoten:
1: Die rein abstrakte Logik wird sogar als "sich entfaltende, aber noch nicht reife Denkart" (zit. S. 136) betrachtet: "Bei einer Studie, bei der junge und ältere Erwachsene mit logisch widersprüchlichen Aussagen konfrontiert wurden, nahmen die jüngeren die angebotene Information als gegeben hin und machten sich daran, die entsprechenden Schlußfolgerungen zu ziehen. Die älteren Erwachsenen dagegen hinterfragten die Prämissen, gingen über die gegebene Information hinaus und setzten ihre persönliche Erfahrung und ihr Wissen ein, um die Widersprüche aufzulösen" (S. 136). Die Wissenschaftler deuteten dies so, dass die älteren TeilnehmerInnen nicht in der Lage seien, das Material logisch zu erfassen und kritisierten die Verwendung der eigenen Lebenserfahrungen. Ein älterer Teilnehmer sagte dagegen allerdings: "Ich weiß genau, was ich Ihrer Meinung nach tun soll - aber es stimmt doch einfach nicht!".
Es wird deutlich, dass jüngere Menschen sich mehr auf abstrakte Formen beziehen, während die älteren auf Bedeutung beharren, "sie sind nicht bereit, Form und Inhalt zu trennen, die Struktur von der Funktion abzukoppeln, das Denken von seiner Anwendung zu isolieren" (S. 138). Dadurch wird der Wahrheitsanspruch nicht negiert, jedoch erweitert. (S. 139)
Ein Beispiel: Gegeben sei eine grüne Fläche, auf der kleine Häuschen verschieden aufgestellt werden. Die Probanden wurden gefragt, ob die räumliche Anordnung der Häuser sich darauf auswirkt, wie viel Gras gemäht werden müsse. Was würden Sie antworten?
Auch in den Lebensphasen verschiedener Künstler zeigt es sich, dass z.B. im Spätstil "Aspekte der objektiven Gegebenheiten zu einer einheitlichen Weltsicht, dem Ergebnis langer und intensiver Kontemplation" vereinigt (S. 811) 2: Während der Psychologe Freud dafür bekannt ist, die frühe Jugend als für das ganze Leben prägend anzusehen, ging sein Schüler C.G. Jung - als er selbst auf die Vierzig zuging - einen anderen Weg. Er ging davon aus, dass erst ab vierzig überhaupt der Entwicklungsprozeß der "Individuation", jener Prozess, durch den ein Mensch ein einmaliges, unverwechselbares Individuum wird, beginnen könne (S. 141). Dies wird inzwischen auch durch andere Untersuchungen nahe gelegt (S. 146).

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 Ein weiterer, sehr schöner Text zum Älterwerden

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