Herbert Hörz: Bemerkungen zu
Begriff, Wirklichkeit, Dialektik, Widersprüche

Dieser Text ist ein Kommentar von Prof. Herbert Hörz zum Text
Widersprüche in Naturwissenschaft und Dialektik
1. Persönliches
2. Aneignungsweisen
3. Begriff (Theorie) und Wirklichkeit
4. Naturwissenschaft und Philosophie
5. Dialektische Widersprüche
6. Dialektik

1. Persönliches

Die dialektische Widerspruchstheorie gehört mit zu den umstrittensten Theorien in der Hegelschen Tradition. Meine Auffassung dazu ist enthalten in dem von mir geschriebenen Kapitel "Materialistische Dialektik" im Lehrbuch "Marxistisch-leninistische Philosophie", Berlin 1979, natürlich in einer Lehrbuchversion. Ich betone den inneren Zusammenhang der Grundgesetze der Dialektik. In "Wissenschaft und Prozeß" ging es mir dann vor allem um die Dialektik als Heuristik. Das gilt auch für die Widerspruchsauffassung mit ausgeschlossenen logischen und analysierten dialektischen Widersprüchen. Das führt immer wieder zur Debatte um die Erfassung der Wirklichkeit in dialektischen Begriffen. Meine erste Publikation zur Bewegungsauffassung in ihrer Widersprüchlichkeit erfolgte 1960: H. Hörz, Über die Widerspieglung der Bewegung der Elementarobjekte im Denken, in: G. Harig, J. Schleifstein (Hrsg.), Naturwissenschaft und Philosophie, Berlin 1960, S. 233 - 242. Dann kam eine Reihe von Misserfolgen. So wurde ein Artikel in "Forschungen und Fortschritte" über "Dialektische Widersprüche in der Physik" nach einem negativen Gutachten eines Kollegen nicht abgedruckt, der mir gegenüber seine Ablehnung damit begründete, man solle Naturwissenschaftler nicht mit "dialektischen Widersprüchen" verprellen. Ich habe dann die Theorie dialektischer Widersprüche weiter genutzt, ohne Termini aufzupropfen, wie es in vielen Arbeiten geschah. Außer den angeführten Arbeiten scheint mir noch wichtig zu sein: H. Hörz, Logik und Dialektik. Anmerkungen zu Positionen von Carl Friedrich von Weizsäcker. In: Peter Ackermann (Hrsg.): Erfahrung des Denkens - Wahrnehmung des Ganzen. Berlin: Akademie-Verlag, 1989, S. 58-70. Das Verhältnis von Logik und Dialektik steckt doch immer im Hintergrund der Widerspruchsdiskussion. Manches in ihr erschien mir oft scholastisch, auch heute noch. Man kann m. E. dem Problem nur näher kommen, wenn man dialektische Widersprüche in ihrem Systemcharakter, ihrer historischen Bedingtheit und in ihren spezifischen Aspekten in bestimmten Bereichen untersucht und diese Analysen philosophisch und metatheoretisch auswertet, um die dialektische Widerspruchstheorie zu bereichern und so ihre Heuristik und Erklärungspotenz nutzen zu können.

2. Aneignungsweisen

Ich denke, dass das Verhältnis von Begriff (Theorie) und Wirklichkeit erst einmal in seiner Begrenztheit bestimmt werden muss, denn es bezieht sich nur auf eine der Aneignungsweisen der Wirklichkeit durch die Menschen. Wir kennen die praktisch-gegenständliche Aneignung der Wirklichkeit durch die Menschen, die zu Erfahrungen, empirischen Regeln, Ahnungen von gegensätzlichen Tendenzen im wirklichen Geschehen und verwertbarem Wissen führt. Dabei ist zu beachten, dass die vom Menschen gestaltbare Wirklichkeit keineswegs nur die Natur umfasst, sondern auch die Beziehungen zur sozialen Umwelt, die , wie alle natürlichen, gesellschaftlichen und mentalen Umstände teils gegeben und teils veränderbar sind. Hinzu kommt die ästhetisch-künstlerische Aneignung, die vor allem unser anschaulich-emotionales Verständnis der Wirklichkeit umfasst und oft Vorstufe für neue Einsichten in das wirkliche Geschehen ist. Mit Begriffen und Theorien eignen wir uns die Wirklichkeit rational an. Der Kern dieser Aneignungsweise ist die Wissenschaft in ihren spezifischen Verästelungen. (Probleme der Wissenschaftstypen in Abhängigkeit von Produktions- und Lebensweise, Klassifizierung der Wissenschaften). Wir können deshalb keineswegs von einem allgemein-menschlichen Typ der Wissenschaften sprechen, ohne die Entwicklung der Arbeitsteilung mit der Herausbildung einer wissenschaftlichen Elite, der Trennung von Theorie und Praxis usw. zu beachten. (s. Wissenschaft als Prozeß)

3. Begriff (Theorie) und Wirklichkeit

Begriffe sind Zusammenfassungen von Erfahrungen und basieren so auf der praktisch-gegenständlichen Aneignung der Wirklichkeit. Diese wird für die Wissenschaft genutzt, indem Beobachtung und Experiment Grundlage für begriffliche Bestimmungen, Hypothesen und Theorien sind. Verschiedene Methoden charakterisieren die Art und Weise, wie sich Menschen der Selbstbewegung untersuchter Objekte nähern. Das Methodensystem ist m.e. durch die Eckpunkte der experimentellen, der historischen und der logisch-mathematischen Methode bestimmt. Das ist auch für komplexe Methoden, wie die Modellmethode, zu zeigen. Durch die logisch-mathematische Methode können Begriffe (Theorien) auch deduktiv abgeleitet werden, was einerseits die experimentelle Prüfung verlangt und andererseits die philosophische Erklärung, warum Mathematik Wirklichkeit erfassen kann. Ich habe dazu drei Hypothesen im Zusammenhang mit meinen Helmholtz und Heisenberg-Arbeiten zur Ordnung der Wirklichkeit angeboten. Begriffe sind oft komprimierte Theorien, die zu explizieren sind. So ist der Begriff "dialektischer Widerspruch" als dynamische Einheit von Gegensätzen unter konkret-historischen Bedingungen in einer Theorie der Dialektik als Determinismus- und Entwicklungstheorie genauer zu bestimmen. Entscheidend ist immer, den Unterschied von Begriff und Wirklichkeit zu thematisieren, der sich vor allem im trial-and-error zeigt, wobei Begriffe (Theorien) Handlungsanleitungen ermöglichen, deren Erfolg geprüft wird, was zu Korrekturen führt. Zugleich ist zu berücksichtigen, dass Modelle und Theorien Aspekte der Objektmechanismen erfassen, was zur Synthese in der Philosophie zwingt, die Ideengenerator (Heuristik), Welterklärung und Lebenshilfe ist, indem sie, auf Wissen aufgebaut, Sinnfragen beantwortet.

4. Naturwissenschaft und Philosophie

Die Philosophie beantwortet weltanschauliche Grundfragen nach der Existenzweise und Entwicklung der Welt, nach der Stellung der Menschen, der Quelle des Wissens, dem Sinn des Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklung. Sie kann so etwa Humankriterien für die wissenschaftlich-technische Entwicklung begründen. Sie braucht Wissen über die Struktur des wirklichen Geschehens in Natur, Gesellschaft und Erkenntnis, das von speziellen Wissenschaften erworben wird, muss es jedoch philosophisch verallgemeinern. Diesen Verallgemeinerungsprozess habe ich ausführlich untersucht, um zu zeigen, dass die in der Geschichte entwickelten philosophischen Begriffe als Antwort auf die weltanschaulichen Grundfragen allgemeine zeitübergreifende Aspekte enthalten, die, wie Heisenberg betonte, ihre Langlebigkeit erklären. Sie werden zu präzisierten philosophischen Aussagen mit dem Wissen einer Zeit und es existieren philosophische Hypothesen als wissenschaftlich begründete Annahmen über den möglichen zukünftigen Beitrag einer Spezialtheorie zur Antwort auf die weltanschaulichen Grundfragen. Insofern kann es eine Trennung von Philosophie und Naturwissenschaft in bezug auf die untersuchten Objekte und die Methoden geben, jedoch nicht, wie manchmal vorgegaukelt wird, in bezug auf die verwendeten Begriffe, die zwar mit gleichen Wörtern unterschiedliche Erfahrungen zusammenfassen, deren philosophischer und spezialwissenschaftlicher Gehalt jedoch nicht exakt trennbar ist. Wäre das der Fall, dann könnten wir aus einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht philosophisch verallgemeinern und es gäbe unterschiedliche, genau differenzierbare Bereiche der Erkenntnis. So einfach oder undialektisch ist die Wirklichkeit unserer Erkenntnis nicht. Der Inhalt von Begriffen ist genauer zu bestimmen, um einzelwissenschaftliche Aspekte und philosophische dort zu trennen, wo es geht und die gemischten Inhalte weiter zu präzisieren. Ich habe dazu eine Unbestimmtheitsrelation aufgestellt, die besagt: Je exakter der Inhalt eines Begriffes bestimmt wird, desto geringer ist sein Umfang. Der weite Umfang philosophischer Begriffe verlangt ganz allgemeine Charakteristika, die jedoch für bestimmte Bereiche zu präzisieren sind. Insofern sind die Allgemeinheitsgrade philosophischer Begriffe im Zusammenhang mit der auf Sinnfragen und Heuristik orientierten Abstraktionsrichtung zu beachten. Kein philosophischer Begriff kann durch naturwissenschaftliche Aussagen voll bestimmt werden, da er in seinem Umfang Natur, Gesellschaft, Erkenntnis und Praxis umfasst. Er ist jedoch für bestimmte Bereiche präzisierbar und so heuristisch zu nutzen, da eine Präzisierung für einen Bereich die Hypothese erlaubt, sie auch in anderen Bereichen vorzufinden. Das ist der Weg, den ich mit der statistischen Gesetzeskonzeption und dem dialektischen Determinismus, mit der Entwicklungstheorie und der Modellmethode ging. Philosophisch ist stets die Begriffsgeschichte zu analysieren, das bisherige Wissen zur Präzisierung zu nutzen und es sind hypothetisch Möglichkeiten zu prüfen, wie der präzisierte Begriff wieder zu verallgemeinern ist. Insofern bleibt Philosophie immer nur Rahmentheorie für spezialwissenschaftliche Theorien. Ihre Begriffe können durch spezialwissenschaftliche Erkenntnis nicht voll erfasst werden, wohl aber werden philosophische Begriffe, wenn sie für bestimmte Bereiche präzisiert wurden, beweis- oder widerlegbar, wie ich es bei Raum-Zeit-Auffassungen, Kausalität, Gesetz, Zufall usw. zeigte.

5. Dialektische Widersprüche

Die dialektische Widerspruchstheorie ist ein wichtiges heuristisches Mittel, um die Einheit von Gegensätzen unter konkret-historischen Bedingungen in ihrer Veränderung und Entwicklung zu verstehen. Sie wurde dadurch diskriminiert, dass dialektische Widersprüche, ohne Analyse, oder um es in der Terminologie philosophischer Verallgemeinerung auszudrücken, ohne ausreichende Präzisierung für bestimmte Bereiche, einfach als Worte bestimmten Sachverhalten übergestülpt wurden, mehr im Sinne von Ahnungen, als von Begriffsanalysen. Zu beachten ist vor allem, dass es sich stets um ein System von dialektischen Widersprüchen handelt, in dem grundlegende und abgeleitete, allgemeine und besondere, zufällige und notwendige usw. existieren. So sind dialektischer Determinismus und Entwicklungstheorie philosophische Grundlage der Widerspruchstheorie, da mit ihnen die Mechanismen des Zusammenhangs und der Entwicklung untersucht werden. (In Buch "Philosophische Entwicklungstheorie" habe ich zwischen Entwicklung als philosophischem Begriff und Evolution als Zusammenfassung spezialwissenschaftlicher Erkenntnisse unterschieden, um zu zeigen, dass Philosophie und Spezialwissenschaft nie identisch werden können). Ebenso könnte man nun, dialektisch gesehen, die dialektische Widerspruchstheorie als Grundlage für Determinismus und Entwicklungstheorie betrachten, da sie methodisch-heuristisch Hinweise auf weitere Untersuchungsebenen angibt. Sie ist ja stets die Aufforderung, gegensätzliche Tendenzen in ihrem inneren Zusammenhang unter äußeren Bedingungen zu sehen. Insofern ist jede Theorie der Selbstorganisation Ausdruck konkreter dialektischer Widerspruchsanalysen. Manchmal wird die dialektische Widerspruchstheorie weniger als philosophisches Analyse- und Erklärungsinstrument genutzt, was wichtig wäre, sondern nur nach dem Wort "dialektischer Widerspruch" gesucht. Wo es nicht vorkommt, gibt es kein dialektisches Herangehen. Es ist jedoch, weniger im Sinne der Metatheorie als der Dialektischen Methode vor allem nach dem Inhalt konkreter dynamischer Einheiten von Gegensätzen zu suchen. Man kann oft ohne die synthetische Behauptung auskommen, es handle sich um dialektische Widersprüche, wenn man eine ordentliche Analyse der Gegensätze in ihrer Einheit durchführt. Außerdem kann die Einengung auf Bipolarität das Problem verfälschen. Für mich ist die statistische Gesetzeskonzeption eine Präzisierung der dialektischen Widerspruchstheorie für die Gesetzesauffassung. Mit den notwendig und zufällig sich verwirklichenden Möglichkeiten aus einem Möglichkeitsfeld im Rahmen des dynamischen Aspektes werden verschiedene dialektische Widersprüche für diese Theorie präzisiert. Das gilt nicht nur für die dialektische Einheit von Notwendigkeit und Zufall in der Möglichkeit, die sich bei der Verwirklichung teilweise aufhebt und wieder neu stellt, nicht nur für die Beziehung von dynamischen, stochastischen und probabilistischen Aspekten, sondern vor allem auch für das Möglichkeitsfeld. Dort werden die Grenzen der Bipolarität deutlich. In der statistischen Gesetzeskonzeption enthält das Möglichkeitsfeld als Grenzfälle die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit durchsetzende Haupttendenz und die mit geringer Wahrscheinlichkeit sich durchsetzende Gegentendenz. Das ist der klassische dialektische Widerspruch zwischen Haupt- und Gegentendenz. Das ist eine Vereinfachung der komplexen Situation. In der statistischen Gesetzeskonzeption sind verschiedenen Bindeglieder enthalten, die den Zusammenhang zwischen Haupt- und Gegentendenz herstellen. Sie sind in der dialektischen Widerspruchstheorie als Haupt- und nebensächliche Widersprüche, als grundlegende und abgeleitete usw. zu bestimmen.

6. Dialektik

Dialektik muss nicht immer wie ein Fetisch vor einem hergetragen werden, wenn man sich der dialektischen Methode bedient. Materialistische Dialektik ist für mich die Theorie der Zusammenhänge, Veränderungen und Entwicklung in Natur, Gesellschaft, Erkenntnis und Praxis, deren Prinzipien historisch-methodische Bedeutung haben. Diese Prinzipien habe ich benannt und begründet. Zu ihnen gehören in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit Unerschöpflichkeit, Strukturiertheit Determiniertheit, Entwicklung. (vgl. Wissenschaft als Prozeß) Dabei ist die Hierarchie dialektischer Beziehungen zu beachten, um dem methodischen 2+1-Prinzip (2 Intergationsebenen und eine Hintergrundtheorie) zu genügen. Man kann zur Analyse den dialektischen Widerspruch zwischen Kontinuität und Diskontinuität in seiner langen Erkenntnisgeschichte analysieren, um Hypothesen aufzustellen, was noch herauszufinden ist. Man kann ihn für die Physik oder Biologie oder andere Wissenschaften für die Gegenwart untersuchen oder seine philosophische Relevanz betrachten. Der "Zwang zur Dialektik" ist kein Zwang zur Verwendung dialektischer Termini, sondern die sich durchsetzende Einsicht in die Komplexität des Geschehens mit seinen Nicht-Linearitäten, die wir durch Symmetrisierung und Linearisierung zu begreifen suchen, um auf Asymmetrien zu stoßen. So wird auch unser Erkenntnisprozess immer dialektischer. Wir suchen nach komplexen Theorien (Selbstorganisation, Systemtheorie usw.), die selbst wieder Rahmentheorien für Spezialtheorien sind. Wir untersuchen Transformationsprozesse, um den Übergang vom Anorganischen zum Lebenden, die Entwicklung von Gesellschaften usw. zu begreifen. So dringen wir tiefer in das Wesen komplexer (dialektischer) Prozesse eine und unsere Theorien erfassen wirkliche Dialektik besser. Doch dürfen wir nie vergessen, dass die Unterscheidung zwischen Begriff (Theorie) und Wirklichkeit auch die Dialektik trifft. Auch die Entwicklung der Dialektik erfolgt in dialektischer Widersprüchlichkeit und mancher "Dialektiker", der sich so bezeichnet, vertritt weniger dialektische Auffassungen als einer, der von Dialektik nichts wissen will. Das ist immer konkret zu untersuchen. Dialektik ist kein Zauberstab, sondern eine konkret zu nutzende Erklärungs- und Forschungsweise. Hinzu kommt: Unser mitteleuropäisches Sprachsystem ist sequentiell und dualistisch. Wir trennen wahr und falsch, gut und böse usw. und verbinden sie als dialektische Widersprüche. Eine andere Sprache, die mehr analog aufgebaut ist, mehr komplexe Begriffe enthält, müsste man die innere und äußere Dialektik der Komplexität anders fassen als wir es tun. Das ist ein interessantes Feld für Sprachwissenschaftler, wenn sie die dialektischen Widersprüche in sprachlicher Wiedergabe untersuchen.



Anläßlich des 70. Geburtstages von Herbert Hörz wurde eine Festschrift herausgegeben:
Philosophie und Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart.
Hrsg.: Gerhard Banse, Siegfried Wollgast, Abhandlung der Leibniz-Sozietät, trafo-Verlag Berlin 2003, ISBN 3-89626-454-0
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