Herbert Hörz: Bemerkungen zu "Zur Determinismusdebatte" von A. Schlemm

Dieser Text ist ein Kommentar von Prof. Herbert Hörz zum Text
Zur Determinismusdebatte
- Ein wissenschaftlicher Primatsstreit zwischen Henne und Ei -

Der Streit um die Beziehungen von Determinismus und Entwicklungstheorie innerhalb der materialistischen Dialektik, den Annette Schlemm m.E. sehr gut darstellt, entartet tatsächlich zu einem Primatstreit zwischen Henne und Ei, wenn beim Einerseits-Andererseits-Verhältnis stehengeblieben würde. Das wäre jedoch undialektisch, weil die Einheit der Gegensätze nicht beachtet würde. Erst wenn man den Zusammenhang von Determiertheit und Entwicklung missachtet, könnte man fragen, was war früher da, Entwicklung oder Determinismus. Die Frage wird unsinnig, wenn man reale Entwicklungs- und Determinationszusammenhänge im unerschöpflichen Kosmos anerkennt. Doch wir befinden uns in der Diskussion um diese Problematik auf der Begriffs-, Theorie- oder Abstraktionsebene und versuchen objektive dialektische Zusammenhänge begrifflich zu erfassen, was uns dazu zwingt, Inhalt und Umfang unserer Begriffe und Theorien zu berücksichtigen. Das ist sicher von A. Schlemm gemeint, wenn sie davon spricht, dass zum Begriff übergegangen werden soll. Sie betont berechtigt unterschiedliche Richtungen der Abstraktion in den Determinismus- und Entwicklungskonzeptionen. Doch theoretisch war mehr zu leisten.

Es ging um den inneren Zusammenhang beider Theorien. Die Hervorhebung der Entwicklung als ursprünglich gegenüber dem Determinismus oder dessen Auflösung in ihr, bringt theoretisch nichts, wenn Entwicklung nicht genau bestimmt wird, denn immerhin kann Entwicklungsdenken zu einem flachen Evolutionismus verkommen, der den objektiven innovativen Zufall nicht beachtet, zwar Veränderungen anerkennt, doch nicht die Tendenz zur zyklischen Höherentwicklung mit der dialektischen Negation der Negation einer bestimmten Ausgangsqualität, die zu einer nach Kriterien zu bestimmenden höheren Endqualität führen kann. Die Determinismustheorie wird einseitig, wenn sie Strukturen nicht als geronnene Entwicklung begreift und sie in Bewegungs- und Entwicklungszusammenhänge einordnet. Um diese theoretischen Gefahren zu umgehen, gab es Auffassungen, wie die von Stiehler und anderen, die Entwicklung als Daseinsweise der Materie fassten, die sie mit den Hegelschen, Marxschen und Engelsschen Gedanken von den dialektischen Widersprüchen als Quelle und Triebkraft der Entwicklung und der Negation der Negation als Richtung der Entwicklung begründeten. Dagegen gab es von meiner Seite keine Einwände. Der Hinweis auf die Entwicklung löste jedoch die theoretischen Probleme der Determinismusdiskussion in der Physik keineswegs.

Außerdem war gegen die Missachtung des objektiven Zufalls, gegen die Vorstellung von einer automatischen Gesellschaftsentwicklung, gegen vereinfachte Auffassungen von objektiven Gesetzen vorzugehen. Das konnte man damals am besten, wenn man nicht direkt die machtpolitischen Thesen in Frage stellte, sondern die philosophische Deutung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse heranzog. Gerichtet war das jedoch gegen eine neomechanizistische Auffassung von Entwicklung generell, in Natur und Gesellschaft. Das sahen die Kritiker kaum. Mit ihrer Kritik am Determinismus als einer dialektischen Theorie und der alleinigen Betonung der Dialektik als Entwicklungstheorie fielen zugleich prinzipielle Überlegungen zu den verschiedenen Formen des objektiven Zusammenhangs aus den Untersuchungen heraus. Ich denke dabei z.B. an philosophische Studien zur Strukturierung von Systemen, womit sich auch Theorien der Selbstorganisation befassen, an konkrete Darlegungen, wie sich Gesetze in ihrer Notwendigkeit im Zufall durchsetzen. Bei Hegel und Engels gab keine grundlegende Untersuchung der Gesetzesstruktur und der Zufälle als Störfaktoren eines Systems, als innovative innere Zufälle und als mögliche Zusammenhänge, die sich mit bestimmten Wahrscheinlichkeiten verwirklichten. Die Formierung des Inhalts, die notwendige oder zufällige Verwirklichung von Möglichkeiten, probabilistische Übergänge von einem Zustand zum anderen usw., waren zu analysieren. Es kam zu einer amputierten Entwicklungsdialektik, die mehr von Rhetorik und Autoritäten lebte, als sich auf philosophische Studien zu stützen. Gerade solche theoretischen Mängel versuchte ich durch die Ausarbeitung des dialektischen Determinismus und der statistischen Gesetzeskonzeption zu beseitigen oder abzuschwächen.

Mit der Ausarbeitung einer Theorie des Zusammenhangs war theoretisch die Beziehung zwischen Determinismus- und Entwicklungstheorie wieder herzustellen, was keine Schwierigkeiten macht, wenn man die Strukturen und Veränderungen, die wir aus Erfahrung kennen, in Entwicklunszyklen einordnet. Im Gegensatz zu physikalischen Theorien, wie der Quanten- und Relativitätstheorie, deren Synthese bisher aussteht, kann man die innere Einheit von Determiniertheit und Entwicklung erklären, wenn man die Unerschöpflichkeit der Materie anerkennt, die spezifische Entwicklungslinien mit ihren Determinationsformen umfasst, von denen wir nur soviel wissen, wie uns die irdische Entwicklung und unser Erkenntnisvermögen an Einsichten gestatten. Man hat also die beiden Theorien aufeinander zu beziehen und nicht die eine in der anderen aufgehen zu lassen, wie manche das versuchten. Beachtet man die dialektische Einheit von Struktur, Prozess und Entwicklung, dann kommt man zu den Grundprinzipien der materialistischen Dialektik, dem der Unerschöpflichkeit, der Strukturiertheit, der dialektischen Determiniertheit und der Entwicklung, die die Einheit der philosophischen Struktur-, Prozess- und Entwicklungstheorie in dialektischer Weise ausdrücken. Man hätte deshalb den Streit um Henne und Ei vermeiden können, hätte man mit dem Prinzip der Unerschöpflichkeit den Zusammenhang von determinierten Strukturen und Prozessen in Entwicklungszyklen anerkannt. Für mich waren Entwicklungs- und Strukturgesichtspunkte unter bestimmten Aspekten mal allgemeiner, mal dem anderen untergeordnet. Ich habe auf das 2+1-Prinzip bei der Erkenntnis komplexer Systeme verwiesen , das es nur ermöglicht zwei Integrationsebenen (System-Element, System-Umgebung) und eine Hintergrundtheorie zusammenzubringen. Doch gerade dafür waren die Beziehungen zwischen Kausalität, Gesetz und Zufall, zwischen System, Struktur und Veränderung, zwischen anderen, neuen und höheren Qualitäten und spezifischen Entwicklungskriterien zu untersuchen. Diesen schwierigen theoretischen Überlegungen stellten sich wenige, weil sie entweder nach einem Königsweg suchten, um praktische Probleme zu lösen, wobei sie philosophisch zu einer Apologie der bestehenden Zustände kamen oder sich damit zufrieden gaben, dass prinzipielle Lösungen durch die Klassiker des Marxismus-Leninismus gegeben seien, die man nicht ergänzen oder gar revidieren dürfe.

In der Diskussion um den dialektischen Determinismus traten zwei wichtige Probleme auf, für deren Lösung ich den Kritikern der statistischen Gesetzeskonzeption Lösungen anbot: Die Rolle von dialektischen Widersprüchen in der Physik und die Zyklizität des Geschehens. Leider gab es darauf von ihnen keine Reaktionen, während ich Diskusionen mit Vertretern anderer Disziplinen, mit Philosophenkollegen und Naturwissenschaftlern aus verschiedenen Ländern dazu hatte.

Im Artikel "Das Prinzip der Entwicklung in der Physik" ging es mir vor allem darum, zu zeigen, dass das Entwicklungsdenken in der Physik lange Zeit verdrängt wurde, obwohl Ansätze, etwa mit Symmetriebrechungen, vorhanden waren und sind. Die Diskussionen um Selbstorganisation führten dann zu weiteren wichtigen Aspekten, die etwa die Strukturierung und die Entstehung von Neuem gegenüber der lange Zeit vorherrschenden Symmetrisierung in den Mittelpunkt stellten.Ergänzend äußerte ich mich an mehreren Stellen dann auch zur Rolle dialektischer Widersprüche in der Physik. Meines Erachtens war die statistische Gesetzeskonzeption mit der Theorie dialektischer Widersprüche voll im Einklang, denn erstens sind objektive Gesetze selbst widersprüchliche Verhältnisse mit Tendenzen und Gegentendenzen, wobei Gesetzessysteme koexistierende, grundlegende und abgeleitete, allgemeine und besondere Gesetze usw. umfassen, die dialektisch widersprüchlich sind. Zweitens waren die in der Struktur statistischer Gesetze enthaltenen Möglichkeitsfelder nicht als gleichrangig anzusehen, sondern widersprüchliche Entwicklungsmöglichkeiten, die mit Realisierungswahrscheinlichkeiten zu erfassen sind und drittens ist die gesetzmäßige Entwicklung von Systemen, auch von sozialen Systemen, ihre Evolution oder ihr Untergang, nur in ihrer dialektischen Widersprüchlichkeit zu verstehen. Dialektik und Widersprüche dürfen jedoch nicht zum Alibiwort für fehlende Studien werden, was nicht selten geschah. Fehlte eine verständliche Erklärung, konnte man immer noch behaupten: "Das musst Du dialektisch sehen." Das war eigentlich nur der Hinweis darauf, nun die Dialektik konkret am Erkenntnisobjekt und seiner Veränderung und Entwicklung zu zeigen.

Das führte zu der zweiten Problematik, der Zyklizität des Geschehens. Zyklen sind keine Wiederholungen früheren Geschehens, obwohl sie eine scheinbare Rückkehr zum Alten darstellen. Das gibt uns erst die Möglichkeit, Ausgangs- und Endqualität eines Zyklus zu vergleichen, um mit dem Kriterium der qualitativ besseren und quantitativ umfangreicheren Funktionserfüllung, bei Beachtung eines möglichen Funktionswechsels, feststellen zu können, ob es sich um eine andere, neue oder höhere Endqualität handelt. Diese zyklentheoretischen Überlegungen, einschließlich von Klein- und Großzyklen, habe ich für andere Gebiete weiter präzisiert und in ihrer heuristischen Bedeutung getestet, so in den Geowissenschaften, in der Wissenschaftsentwicklung, der Kreativitätsentwicklung, der Entwicklung der Individualitität usw. Nehmen wir den Großzyklus der Individualitätsentwicklung, der viele kleinere Zyklen umfasst, dann können wir feststellen, dass Individualität erst bestimmten Menschenschichten zukam, deren Determinanten zu bestimmen waren. Später spielten Massenbewegungen eine entscheidende Rolle. Nun erzwingen technologische Entwicklungen autonome Individuen, die nicht mehr einfach in den technologischen Prozess eingeordnet sind, sondern ihn bestimmen. Das würde eine qualitativ neue Demokratie erfordern, von der wir jedoch weit entfernt sind. Untersucht man solche Zyklen, dann wird Geschichte, wenn sie als Untersuchung von Entwicklungszyklen mit der statistischen Gesetzeskonzeption, d.h. als Übergang von Möglichkeitsfeldern einer Struktur-, Prozess- oder Entwicklungsphase zu einer anderen, neuen oder höheren, begriffen wird, zu einer aktuellen Theorie, die auf weitere Tendenzen des Geschehens verweisen kann.

Um einem Automatismus vorzubeugen, habe ich auf die relativen Ziele des Geschehens als Grundlage für subjektive Zielsetzungen verwiesen. Diese theoretischen Überlegungen zum Zusammenhang von Determiniertheit und zyklischer Entwicklung halfen auch bei der Erklärung des Zusammenbruchs der Gesellschaftssysteme, in denen als "realer Sozialismus" eine Staatsdikatur des Frühsozialismus aufgebaut wurde, da die notwendige Toleranz zwischen systemerhaltenden, d.h. konservativen, und systemverändernden, d.h. reformerischen, Kräften nicht mehr existierte, was die Evolution des Systems behinderte und zum Systemzusammenbruch, mit anderen Faktoren, führte. Dafür war es wiederum erforderlich, die Entwicklungskriterien für soziale Systeme auszuarbeiten, was ich schon vorher tat, indem ich auf die Rolle sinnvoller Tätigkeiten, persönlichkeitsfördernder Kommunikation, materieller und kultureller Bedürfnisbefriedigung, Bedingungen zur Entwicklung von Individualität und Kreativität verwies und die Integration von sozial Schwachen und Behinderten als humane Maßstäbe anlegte. Diesen Aspekt habe ich nun für neue Technologien in einer Reihe von Arbeiten präzisiert.

Es zeigt sich, wenn man nach dem Verhältnis Determinismus- und Entwicklungtheorie fragt, dann ergeben sich eine Reihe heuristischer Hinweise für neue Überlegungen zum Verhältnis von Natur und Kultur, zur Modifizierung der Gesetze durch subjektives Handeln, zu den Humankriterien gesellschaftlicher und technologischer Entwicklung, zur statistischen Denkweise in Entscheidungsprozessen usw. Im Primatstreit um die statistische Konzeption in der DDR herrschte m.E. bei einigen Philosophen eine dogmatische Problemreduzierung vor, die weniger auf Lösungen, denn auf Rechthaberei aus war. Streichen wir jedoch den politisch-philosophischen Zierat, die Berufung auf Autoritäten und auch die Illusionen über eine Weiterentwicklung des "realen Sozialismus", dann bleiben viele bedenkenswerte theoretische Ansätze, die es weiter zu verfolgen gilt, wenn man den philosophischen Herausforderungen unserer Zeit gerecht werden will. Ich gebe jedenfalls meine Hoffnung auf eine Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten in einer zukünftigen humanen Gesellschaft, entsprechend den sozialistischen Idealen, nicht auf. Philosophie führt nicht auf einfachem Weg zu Handlungsorientierungen in diese Richtung, doch sie ist Welterklärung, Ideengenerator und weltanschauliche Lebenshilfe nur dann, wenn sie sich mit den Problemen der Determiniertheit und Entwicklung des Geschehens von den elementaren anorganischen bis zu den komplexen Lebensprozessen, mit der Determiniertheit der Entwicklung und der Entwicklung der Determinanten, mit dem Zusammenhang von Natur- und Lebensgestaltung, mit Tendenzen und Gegentendenzen vergangener, gegenwärtiger und zukünftiger Entwicklung auseinandersetzt. Denkt man in dieser Richtung weiter, dann könnte ein alter Streit unter spezifischen Bedingungen zu neuen Anregungen führen, um über das Verhältnis von Determinismus und Entwicklung weiter nachzudenken.



Anläßlich des 70. Geburtstages von Herbert Hörz wurde eine Festschrift herausgegeben:
Philosophie und Wissenschaft in Vergangenheit und Gegenwart.
Hrsg.: Gerhard Banse, Siegfried Wollgast, Abhandlung der Leibniz-Sozietät, trafo-Verlag Berlin 2003, ISBN 3-89626-454-0
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