Anschlag auf Visionen?!

Zu Wladimir Tendrjakows Werk

Ich bemühte mich nach Kräften, ein treuer Schüler unserer Klassiker zu sein, und immer habe ich den mächtigen Drang verspürt, mich von der Barmherzigkeit der Samariter aus der Masse des Volkes rühren zu lassen, doch das Leben bescherte mir ständig grausame Enttäuschungen. (MoU: 227)

Enttäuschungen erlebte Wladimir Tendrjakow (1923-1984) viele. Welches Jahrhundert hatte so viele Visionen, Utopien und welches Jahrhundert unterlag so vielen Täuschungen? Viele seiner Erzählungen erschienen erst nach seinem Tod - es sind die bittersten. "Künstler sind gezwungen, das zu sehen, was andere noch nicht sehen..." (Tendrjakow 1976: 279) schrieb er.
Was sieht Tendrjakow?
In "Die Abrechnung" erschießt ein 15-jähriger Junge seinen Vater, der die Familie tyrannisiert hatte. Wir können kaum noch nachvollziehen, woraus für Tendrjakow dabei eins der Hauptprobleme entsteht: Dieses Problem entsteht für den Lehrer des Schülers, der seine Schüler dazu erzogen hatte, keine Ungerechtigkeiten hinzunehmen. Führte dies zur Tat des Jungen? War es nicht richtig, die Kinder zum Guten bringen zu wollen??? Der Vater einer anderen Schülerin macht dem Lehrer direkt Vorwürfe.

"Dur darfst dich mit keiner Schlechtigkeit abfinden - haben Sie das gefordert von den Jungs?" "Ja."
"Und haben Sie nicht auch gefordert: Du sollst bedingungslos gut sein?"
"Auch."
"Und worauf läuft das hinaus? Ihr müsst gegen den Strom schwimmen, Kinder. Überlegen Sie mal: das ist doch furchtbar!" (Tendrjakow Abr.: 24)
Dieser Vater macht dem Lehrer Vorwürfe, weil er will, dass seine Tochter glücklich wird und kein "naives Dummchen" (ebd.: 92), die sich beim Versuch, die Welt zu bessern, das Kreuz bricht. Auf die Frage des Lehrers, wie es dann in der Welt besser werden solle, antworte er nur: "Was kümmert mich die Welt!" (ebd.: 93). Neben dem Lehrer erklären sich fast alle Betroffenen zu Schuldigen, die Mutter des Jungen, die Mutter des getöteten Vaters. Die Schulklasse des Jungen und seine Freundin erklären sich so sehr solidarisch, dass sie die Losung preisen: "Töten, um zu leben". Das macht dem Lehrer doppelten Schrecken: Dies also hat seine Lehre, für das Gute einzutreten gebracht: die Bereitschaft zum Töten! Die Verwirrung geht so weit, dass sogar der verantwortliche Polizeibeamte versucht, den Jungen zu entlasten. Der Lehrer kommt aber schließlich zu einer Lösung des Konflikts. Man muss nicht verzichten, sich für das Gute einzusetzen, aber man darf den Kindern die schlimmen Realitäten des Lebens nicht verschweigen und sie dadurch ins Abseits zwingen, wenn sie diesen schrecklichen Realitäten ausgeliefert sind. Die Alternative wäre Offenheit gegenüber diesen Problemen: "Wäre er nun in andere Umstände geraten, wenigstens an unserer Schule, hätte er jeden Tag Verständnis gefunden und genau gewusst, er kann auf Mitgefühl rechnen - ob ihm dann auch der Gedanke gekommen wäre, den verhaßten Vater umzubringen?" (ebd.: 186) Wie schlimm die Zustände wirklich lange Zeit und immer wieder waren, beschreibt Tendrjakow in Erzählungen, die erst nach der Perestroika erscheinen konnten (Insel, MoU u.a.). Diese Erzählungen enden oft im Entsetzen, oft mit dokumentarischer Bekräftigung.
Doch Tendrjakow sieht es letztlich als Aufgabe der Literatur an, Denkanstöße zu vermitteln (Tendrjakow 1976: 279). Nachdem er gesehen und ausgesprochen hat, was andere gern verleugnen, versucht er auch Antworten auf die Lösung der Probleme zu geben.

Auch in der ersten Variante des Buches "Anschlag auf Visionen" - 1981 - findet er solch einen Antwortversuch. In diesem Buch geht es um Attentate auf Visionen, in doppeltem Sinne. Zuerst einmal geht es dem Protagonisten des Buches, dem Wissenschaftler Grebin, darum, herauszufinden, wie sehr die Geschichte vom Handeln einzelner Menschen abhängt. Sind die Lebensläufe der Menschen gesetzmäßig-notwendige Ereignisse wie das Fallen eines Apfels entsprechend dem Gesetz der Gravitation? Oder kann ein Einzelner die Geschichte entscheidend beeinflussen? Grebin grübelt, wie wohl die Geschichte der Menschheit verlaufen wäre, wenn Jesus Christus bereits in den ersten Tagen, an denen er vorher Unerhörtes predigte, gesteinigt worden wäre. Grebins Grübeln bekommt Unterstützung durch die technische Möglichkeit, mit Computern verschiedene Weltverläufe durchrechnen zu können, was er dann mit einer kleinen Gruppe verschworener Freunde unternimmt. Während sie modellieren, programmieren und rechnen, kommt Grebins Sohn nach 3 Jahren wieder nach Hause. Er hat sich sehr verändert. Er ist selbstbewusst geworden, vertritt seinen eigenen Lebensstil, der die Eltern sehr befremdet. Er will nur für sich leben, keinem Menschen schaden, aber sich auch nicht dem Land, dem Volk oder der Zukunft opfern. "Weil unsere Großväter gefordert haben: untersteh dich, nur für dich zu leben, leb für die Zukunft, für die fernen Nachfahren. Ich bin jetzt dieser Nachfahre, Papa. Aber habe ich, weil mein Großvater auf alles verzichtet hat, etwa ein besseres Leben? Ich habe beschlossen, Papa, für mich zu leben, dann wird mein Enkel vielleicht eines Tages glücklicher sein als ich" (AV: 185) Die kleine Gruppe arbeitet inzwischen weiter an ihrem Computerprogramm. Sie "töten" Jesus und warteten ab, was nun weiter geschieht. Man könnte denken, dass vielleicht Paulus die bewegungs- und religionsstiftende Rolle von Jesus, der zu zeitig starb, übernehmen könnte. Aber was passiert? Jesus ersteht wieder auf. Sogar im Computerprogramm. Was hat das zu bedeuten?
Jesus und Paulus - beide Vertreter des frühesten Christentums - vertreten durchaus unterschiedliche Linien. Bei Jesus gibt es Aussagen, dass der Fluch der Arbeit abgeworfen werden kann: "Darum sorget nicht für den andern Morgen", leb in den Tag hinein wie die Vögel, "sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in den Scheunen." Bei Paulus dagegen steht: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen." Jesus verlangte: "Du sollst deinen Nächsten lieben...", Paulus war realistischer und wusste, dass die Herren ihre Diener nicht lieben werden, sondern es für die Diener darauf ankommt, ihrer Obrigkeit gut zu dienen. "Ein Reicher wird schwer ins Himmelreich kommen" - sagte Jesus. Paulus: "Es ist keine Obrigkeit ohne von Gott."
Nur weil diese beiden widersprüchlichen Momente gemeinsam auftraten, konnte diese neue Bewegung so groß und bedeutend werden - sie umfasste die Widersprüchlichkeit der Zeit, ohne in einer Richtung extrem zu werden und damit das Ganze zu zerreißen. "Es ist paradox - damit eine Lehre lebendig wird, muß sie äußerst konträre, widersprüchliche Behauptungen in sich vereinen." (AV: 181) Dass das Computerprogramm trotz des massiven Eingriffs den altbekannten Entwicklungspfad einschlug, stößt die kleine Gruppe vor den Kopf. Die Mathematikerin fasst die Schlussfolgerung zusammen: "Uns Menschen ist es nicht gegeben, die Geschichte zu zügeln, im Gegenteil, sie verfährt mit uns, wie es ihr beliebt. Wozu sollen wir dann im Leben herumstochern, wozu uns mit Gedanken quälen, Unbekanntes entdecken?" (AV: 191) Das ist natürlich ein noch größerer "Anschlag auf Visionen" als bloß auf das Christentum in Gestalt von Jesus. Macht das Streben, das Bemühen überhaupt einen Sinn? Die Antwort des Sohnes von Grebin haben wir schon gehört.
Eine weitere Vision wird erledigt. Campanellas vernünftig ausgeklügelter Sonnenstaat wird in der Verwirklichung zum reinen Terrorsystem (AV: 203ff.). Schon in seiner Geschichte "Drei Sack Abfallweizen" hatte Tendrjakow seinen Helden diese Utopie überwinden lassen - allerdings gab es dort noch eine darüber hinausreichende Hoffnung.
Grebin wie auch ein anderes Mitglied der Gruppe, Tolja, wollen dem Anpaßlertum des Sohnes und auch dem Pessimismus der Mathematikerin widersprechen. Tolja setzt auf den unzügelbaren Wissenstrieb, die Neugier, das wissenschaftliche Interesse - Grebin dagegen will die Zukunft der Menschheit befördern und kritisiert Tolja noch wegen der Begrenztheit seiner Begeisterungsfähigkeit auf die Wissenschaft. Fürs erste können sie sich jedoch auf einen Kompromiss einigen. Auch wenn die Geschichte wie ein Gesetz ist: "Das Gesetz ist wie ein Telegrafenmast - drüberspringen kann man nicht, aber umgehen kann man ihn." (AV: 197) Daraus entwickelt sich ein neues Projekt: Wenn gesellschaftliche Strukturen die Handlungen der einzelnen Menschen stark beeinflussen (Grebin selbst ist kein Mörder, aber im Krieg hat er Menschen getötet), ist zu nach einer Struktur zu suchen, einem "gesellschaftlichen Mechanismus, der den Hartherzigen zwingt, Mitleid zu bekunden, den Egoisten, großherzig zu sein" (AV: 203).
In der Version des Buches von 1981 wird dieser Gedanke weiter ausgesponnen (darüber siehe Schröder 1989). Die Reformer versuchen, 50 Jahre in die Zukunft hinaus zu prognostizieren und Vorschläge abzuleiten. Sie suchen direkt nach den Ursachen der Stagnation der 70er Jahre und erkennen, dass moralische Forderungen und Vernunftlehren wenig bewirken können. Aber sie finden Lösungen, die in Rätesystemen ihre Form finden, auf die Tendrjakow schon einmal in den 50er Jahren gehofft hatte. Er blieb immer realistisch in seinen Forderungen: "Man kann nur in Freiheit setzen, was herangereift ist." (zit. in Schröder 1989: 292). Aber er hoffte - auf künstliche Planeten zwischen Sonne und Erde und auf einen verwirklichten Kommunismus.
Das Buch "Anschlag auf Visionen" wurde erstmals 1987 gedruckt Schon 1984, kurz vor seinem Tod, änderte Tendrjakow dieses optimistische Ende. Im Gegenteil: Grebins eigener Sohn, der nur für sich einfach so dahinleben, aber niemandem anderen schaden wollte, wird zum Verursacher von großem Leid. Eine große Lösung gibt es nicht mehr, auch wenn die Menschen alle ihren kleinen Trost finden; die Hoffnung ist nur noch sehr vage: "Der Wohnort meines Enkels wird vielleicht ungefähr genauso aussehen - ein Stern und weiter nichts." (AV: 278).
Auf die Frage von Ralf Schröder, warum er das Ende so sehr veränderte, antwortete Tendrjakow nur "Es muß sein!" (zit. in Schröder 1989: 294). In seinem Nachwort von 1989 sah Ralf Schröder in der Perestroika jene von Tendrjakow gesuchten Ansätze verwirklicht. Ralf Schröder verstarb im Jahre 2001, er hat noch gemerkt, dass auch diese Hoffnung verfrüht war (vgl. Röhr 2004).


Literatur:
Röhr, Werner (2004): "Es gibt keine endgültigen Zäsuren...". In: Junge Welt v. 15.April 2004. (http://www.jungewelt.de/2004/04-15/004.php)
Schröder, Ralf (1989): "In Freiheit setzen was herangereift ist..." - Zu Wladimir Tendrjakows Vermächtnisroman "Anschlag auf Visionen". In: Tendjakow, Wladimir (AV): Anschlag auf Visionen. Berlin: Verlag Volk und Welt 1989. S. 279-299.
Tendjakow, Wladimir (AV): Anschlag auf Visionen. Berlin: Verlag Volk und Welt 1989.
Tendjakow, Wladimir (Abr): Die Abrechnung. Berlin: Verlag Neues Leben 1983.
Tendrjakow, Wladimir (Insel): Auf der seeligen Insel des Kommunismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990.
Tendjakow, Wladimir (MoU): Menschen oder Unmenschen. In: Wladimir Tendrjakow: Auf der seeligen Insel des Kommunismus. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990 (entstanden 1975-1976, erstmals gedruckt 1989).
Tendjakow, Wladimir (1976): Zitat in Nachwort zu Tendjakow, Wladimir: Anschlag auf Visionen. Berlin: Verlag Volk und Welt 1989.
Tendjakow, Wladimir (1983): Drei Sack Abfallweizen. Berlin: Verlag der Nationen.

 Zitate von Wladimir Tendrjakow

 Zu Ralf Schröder

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