Proteste gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm
Rostock, 2007

Heiligendamm ist das Ende der Demokratie...
In den letzten Jahren entwickelte sich weltweit eine immer größere Welle des Widerstands gegen die kapitalistische Globalisierung. Kristallisationspunkte dieser Bewegung waren vor allem Proteste gegen jene Veranstaltungen, auf denen die Mächtigen dieser Welt ihren Herrschaftsanspruch zelebrieren. Dazu gehörte auch der Gipfel der Regierenden der führenden 8 Industrieländer im Jahr 2007 in Heiligendamm in der Nähe von Rostock.

Das Motto des Widerstands ist: "Eine andere Welt ist möglich." Aber noch wird diese nögliche andere, bessere Welt verhindert durch die das Festhalten an veralteten Gesellschaftsmodellen mit militärischer, ökonomischer und kulturell-ideologischer Macht.

Der Einsatz für das Neue, das mir so wichtig ist, braucht deshalb auch die Beteiligung an der Beseitigung von dem, was seine Durchsetzung behindert. Deshalb lag es nahe, dass auch wir (meine Tochter und ihre Freundin sowie ich) uns an den Protesten beteiligen.
Wer Mauern und Zäune baut,
hat schon verloren!
1.6. Anreise:

Wir bauen unsere Zelte im Camp "Grenzschlachthof" auf, sind umringt von vielen englischsprachigen Menschen; viele Gruppen organisieren sich und machen sichs gemütlich.

(eine längere alternative Berichterstattung auch zum Camp siehe http://g8-tv.org/topic.php?clipId=220)
Wir besuchen gleich am ersten Abend das Camp-Plenum, auf dem den BewohnerInnen von denen, die das Camp in den letzten Wochen aufbauten, symbolisch ein Schlüssel übergeben wird. Auch über die Entscheidungsstrukturen im Camp wird weiter beraten.
You make plans,
we make history!
2.6.: Die große Demo
Wir kommen so zeitig zu der großen Demo, dass ich genug Zeit habe, mir die vielen bunten und ideenreichen Gestalten anzuschauen, die auf dem Demonstrationszug mitgeführt werden.

Der Demonstrationszug selbst ist bunt und stimmungsvoll. In der Stadt fallen mir mehrere mit Sperrholz geschützte Ladengeschäfte auf. Ich selbst bemerke während der Demo nichts von Zerstörungen; in Videos sehe ich später, dass z.B. die Fenster einer Sparkasse zu Bruch gehen.
Schon bald nach der Ankunft am Stadthafen, während der Abschlusskundgebung geschieht dann das, was die Medienbilder der nächsten Tage prägen sollte. Zoff und Randale, ein brennendes Auto... Ich werde von einer wegrennenden Menge Leute fast mitgeschleift, Neugierige stürmen die Klohäuschen, um von da oben mehr sehen zu können.
Eine ältere Dame sagt: "Wenn diese Rücksichtslosigkeit diese "andere Welt" sein soll, dann prost Mahlzeit!" Naja, keins der Häuschen fällt um, die Menge rauscht bald wieder zurück. Eine ganze Weile später krieg ich - obwohl ziemlich weit weg vom Ort des Geschehens - einen (glücklicherweise schwachen) Schwaden Tränengas ab. Immer wieder kommen Polizeieinheiten auf den Platz gerannt: da wo sie sind, entsteht immer Bewegung. Die offizielle Kundgebung muss abgebrochen werden, vor allem auch, weil sehr tieffliegende Helikopter einen nervenden und fast unerträglichen Lärm machen. Irgendwann gehts aber weiter, Reden, Musik... ein wenig Partygefühl trotz alledem. Leider erfahren wir später, dass es Verletzte und Gefangennahmen gab, wenn auch nicht so viele, wie zuerst behauptet (Mehr als 30 schwerverletzte Polizisten wurden behauptet, nur 2 mussten in einem Krankenhaus versorgt werden).

Da auch ich nicht direkt am Ort der Krawalle war, muss ich mich auf andere Informationen stützen. Z.B.:

(Bildquelle: http://graswurzel-tv.de/g8/?page_id=15)

Den besten Kommentar dazu las ich einige Tage auf einer weiteren Demo:

Menschen sterben, und Ihr schweigt.
Steine fliegen und Ihr schreit!
3.6. Sonntag

Heute gönnen wir uns einen Ausflug an den Strand nach Warnemünde - obwohl ich aus der DDR komme, war ich noch nie hier.

Dann gibts am Stadthafen wieder Kultur (für mich eine Entdeckung: die Gruppe "Chumbawamba"), eine bunte Lebendigkeit wie sonst selten ...

John Holloway spricht: "Unsere Clowns gegen ihre Polizei, unsere Würde gegen ihr Geld..."

G8 - gebt auf -
Ihr seid umzeltet!
4.6.

Heute nehmen wir an einem Blockadetraining teil, obwohl wir dann (aus verschiedenen Gründen) entscheiden, uns an den Blockaden nicht direkt zu beteiligen. Wir lernen dabei auch Nützliches für den Gruppen-Hausgebrauch (schnelle Entscheidungsfindung mit den Fingern).

Im Kulturzelt findet dann ein Workshop mit John Holloway (Autor von: "Die Welt verändern, ohne die Macht zu erobern") statt. Thema: Open Space im Zusammenhang mit den Sozialforen.
  • John H.: Es gibt eigentlich keinen Zustand der "Offenheit", sondern nur die ständige Bewegung des Öffnens.
  • Esther: In Open spaces entstehen neue intersubjektive und soziale Verhältnisse. Man geht als eine Person hinein und kommt als andere heraus.
  • Es besteht die Gefahr, dass nur ein "liberaler Reflexionsraum" entsteht, in dem weiter die Auswirkungen von Rasse, Klasse, Nation und Geschlecht reproduziert werden. Ein anderer Teilnehmer ergänzt: Es gibt nicht wirklich offene Räume, alle Räume sind physisch und sozial konstruiert.
  • Dorothea: "Open Space" sollte besser "Opening Spaces" genannt werden.
Wir bekommen schriftliches Material, ich lese später einige Texte. Mich interessiert besonders die Debatte um die weitere Entwicklung der Sozialforen. Es gibt zwei sich wiedersprechende Tendenzen:
  1. Die Sozialforen sollen Offene Räume bleiben und als "Inkubatoren" für Bewegungen dienen. Dass sie solche Offene Räume sind, zeigt sich daran, dass die selbst organisierten Veranstaltungen der Teilnehmenden die Priorität haben (Chico Whittacker)
  2. Die Sozialforen sollen zur "Bewegung der Bewegungen" werden. Dies führt aber zur Ausbildung einer Führungsschicht/Hierarchie und zeigt sich daran, dass die Veranstaltungen der Organisatoren die Priorität haben.
Abends gibts dann noch Musik vom Liedermacher Jan Degenhardt, die mir sehr gut gefällt.

"We are here,
because you are there!"
(Immigranten)
5.6. Antimilitaristischer Stadtrundgang

Die Demoroute soll über einen Standort der Firma "Caterpillar" weiter zu EADS führen. Dazu müssen wir ein Stück mit der S-Bahn bis "Warnemünde-Werft" fahren. Aus dem S-Bahn-Gelände führt eine Überbrückung heraus.

Hunderte Leute begeben sich auf die Brücke... und keiner kommt vorn heraus... Wir finden uns plötzlich eingepfercht auf der Brücke, hinter richtigen Gittern. Erstaunlicherweise bleiben alle, bis auf ein paar erfrischende Ruf- und Klatschaktionen, gelassen.
Erst als wir uns langsam dem Ausgang entgegenschieben, hören wir die Info der Polizei, dass es "nur" um Taschenkontrollen gehe. Von den "Anti-Konflikt-Teams" sehen wir erst später wieder was, als das alles vorbei ist. Von uns dreien wird ausgerechnet diejenige herausgepickt zur Kontrolle, die etwas sehr Dunkelblaues anhat. Ich verlange für sie als Ausländerin zuerst einen Dolmetscher (sie hat das Recht darauf), und bekomme darauf die zynische Antwort: "Bitte sehr, dann muss sie mit auf die Polizei und dann suchen wir einen Dolmetscher... das kann dauern!". Glücklicherweise kann ich dann mit zum Dolmetschen (soweit reicht mein Englisch grad noch). Sie finden Farben und müssen erst nachfragen, ob das erlaubt ist...
Wir verlassen die Demo dann in Warnemünde und bekommen von einem Eiskaffee sogar zwei große Eisbecher spendiert. Danach besuchen wir das "Convergence-Center", das allein schon durch seine Gestaltung ein Erlebnis ist. Die ehemalige Schule im Neubaugebiet wurde in eine kleine "andere Welt" verwandelt.
Abends im Camp habe ich das Glück, "Klaus den Geiger" erleben zu können.
"Hitzefrei - für die Polizei!"
6.6.

Während viele aus unserem Camp zu den Blockaden aufbrechen, schauen wir uns heute einige Veranstaltungen des Gegengipfels an. Zuerst besuchen wir den Workshop "Feminism & Resistance". Es gab Berichte von Frauen aus der ganzen Welt; als verbindender Gedanke für die Frage nach der Zukunftsgestaltung galt das Prinzip: "Paths created by walking". Wir treffen jemanden aus Christiana und essen mit ihm Mittag...

Der nächste Workshop war der für mich Faszinierendste. Er war betitelt mit "Do it yourself" - und da ich den DIY-Gedanken auch für die "Andere Welt" vertrete, interessierte er mich.

Nach 15 und auch nach 20 Minuten war aber noch keiner der Referenten/Organisatoren da. Wir beschlossen nun, das Thema des Workshops selbst zu beherzigen: "Do it yourself !!!" Wir sammelten Gedanken, weswegen uns das Thema jeweils interessiert, versammelten uns in Kleingruppen und arbeiteten in diesen Kleingruppen weiter.
In der Gruppe, der ich mich anschließe, wird über Grundprinzipien der "anderen Welt" diskutiert. Wir kommen auf folgende wichtige Merkmale:
  • Jede/r muss selbst für sich entscheiden können.
  • (Wirtschaft) bedürfnis- statt profitorientiert
  • Sich selbst organisierende Vielfalt unter dem Motto: "Eine Welt für viele Welten" (nach den Zapatistas)
  • Solidarische Ökonomie
  • Mehr Bildung
Im Sinne der Debatten um die "Offenen Räume" kann ich nur feststellen: Der beste Workshop war der, bei dem keine Organisatoren/Referenten auftauchten, sondern bei dem die Teilnehmenden ihn selbst bestimmten!
Danach am Stadthafen erwartet uns wieder ein Kulturprogramm - mit dem Höhepunkt: Jule Neigel, die sich nach den Ereignissen am Samstag spontan entschlossen hat, hier aufzutreten.

Wir haben nicht den Luxus,
totalitär beherrscht zu werden -
um zu überleben,
müssen wir um die Freiheit kämpfen.

(Vandana Shiva)

7.6. Abschluss des Alternativgipfels:

Während noch Blockaden erfolgreich laufen, wird der Alternativgipfel beendet. Diese beiden Aktionsformen waren im Vorfeld ein wenig gegeneinander ausgespielt worden. Aber es sollte selbstverständlich sein, dass dem Prinzip Vielfalt auch hier praktisch Rechnung getragen wird. Obwohl ich ja normalerweise in keiner Weise autoritätsinteressiert bin, freute ich mich doch sehr darauf, Vandana Shiva selbst einmal erleben zu können.

Der erste Redebeitrag von Vandana Shiva drehte sich um die Verbindung von terroristischer neoliberaler Ökonomie und der durch sie getöteten Demokratie, die wir nur dann wieder leben können, wenn wir nicht nur als Konsumenten unsere Freiheit wünschen, sondern auch als Produzenten.

Sandro Mezzadro sprach dann davon, dass es gilt, Formen der "Solidarität unter Fremden" zu entwickeln und das wir dazu "Institutionen der Übersetzung" erfinden sollten, wobei es darum geht, Differenzen anerkennen, Heterogenität zu artikulieren und insgesamt eine neue Form des Subjekts zu entwickeln.

In ihren abschließenden Worten ging Vandana Shiva dann auch darauf ein, dass der Klimawandel gerade durch jene vorangetrieben wird, die sich uns als jene anbieten, die mit ihrer Technologie die Probleme lösen wollen. "Wie kann man Lebensmittel herstellen, die einen 10 mal größeren Energieverbrauch haben als nötig und das "produktiv" nennen?"

Demokratie, Freiheit und das Überleben stehen in einem engen Zusammenhang, wie lange nicht mehr.

Wir kehren dann zum Camp zurück und ich nutze die Gelegenheit, um mir von einer Griechin die Aussprache griechischer Geistesgrößen erklären zu lassen... ;-)
An diesem Abend, an dem viele bereits ihren Abschied von dieser Woche feiern, kann ich wieder lange darüber nachdenken, ob in der "anderen Welt", das unser Camp schon verkörpern will, das Bedürfnis nach Schlaf so unterdrückt werden wird wie hier. Es gibt keine Ruhezone, sondern für alle gilt: "Eine Revolution, auf der ich nicht tanzen kann, ist nicht meine Revolution." (Aber ganz ohne Schlaf werden wirs wohl auch nicht hinkriegen...).
(Zum Ausprobieren empfehle ich, dieses Video eine Nacht lang mit voller Lautstärke ins Schlafzimmer einzuspielen...)

"Ihr habt Bereitschaft -
wir haben Spaß"
(zur Polizei)

8.6.

Wir machen uns auf zur Abschlussdemo, einige wollen auch in die Stadt zu ihrer Zugabreise. Aber da haben wir uns verrechnet.

Vor einer schön kontrollierbaren S-Bahnbrücke werden alle gründlich polizeikontrolliert. Aus irgend einem Grund waren nicht genug Polizeifrauen da für die Abtastungen, so dass wir Frauen z.T. eine halbe Stunde in der brütenden Sonne auf unsere Abfertigung warten mussten.
Unmutsbekundungen wurden mit der Drohung: "Du wartest jetzt besonders lange" beantwortet, aber irgendwann haben sie dann bei einigen von uns doch nur noch oberflächlich kontrolliert und gefragt, ob wir was Gefährliches dabei hätten.

Das alles "hebt" natürlich die Stimmung und erinnert uns daran, warum wir hier sind. Ich hoffe, alle haben ihre Züge erreicht - wir jedenfalls kamen rechtzeitig zu einer Spontandemo am Hauptbahnhof, die sich mit den BlockiererInnen traf, die aus Bad Doberan kamen. Gemeinsam gings dann wieder zum Stadthafen, wo die Protest- und "Anders-Leben"-Woche ausklingen konnte.

Besonders nett fand ich in einer Abschlussrede die Symbolik, dass wir uns künftig nicht mehr wie in der Arbeiterbewegung üblich mit geschlossener Faust grüßen sollten, sondern mit dem Zeigen der "5 Finger", womit auf die erfolgreiche 5-Finger-Taktik bei den Blockaden angespielt wird.
(Siehe nach ca. 2:48 min im Video http://youtube.com/watch?v=DjS_mexdLig )

Eine Demonstration in Richtung einer Gefangenensammelstelle schloß sich an, denn wir können nicht guten Gewissens nach Hause zurück fahren ohne jene, die noch in Gewahrsam oder Haft ausharren müssen.

Wieder zu Hause erreichte mich eine Mail aus einer Mailingliste, die unsere Stimmung sehr gut wieder gibt:
Wer unsere Aktivitäten gegen den G8-Gipfel unterstützen möchte, kann das auch im Nachhinein noch tun mit einer Spende. Bitte verwendet dazu die Infos auf der Webseite: http://www.block-g8.org/. Ich kann Euch bestätigen, dass dieses Geld wirklich gut genutzt wird bei der Finanzierung z.B. der Toiletten, des wunderschönen Essens der Volxküchen, der Kulturzelte auf den Camps usw. usf. und es wird dringend gebraucht, damit niemand privat auf den Schulden sitzen bleiben muss.
Tschüss, und viele Grüße bis zum nächsten Mal...

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