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Schellings Dialektik VI
Die Dialektik in Schellings Spätphilosophie

Im Rahmen der "Philosophie der Mythologie" (SW XII: 1 ff.) entwickelt Schelling eine "Folge von Möglichkeiten eines vorerst noch zukünftigen Seyns" (SW XI: 294) und erinnert an seine frühen Gedanken "einer negativen Potenz als Anfang" mit dem Satz: "aller Anfang liege im Mangel, die tiefste Potenz, an die alles geheftet, sey das Nichtseyende, und dieses der Hunger nach Seyn" (ebd.).

Sein Ziel ist die "Erkenntniß des Gegenstandes, der über allen Gegenständen ist und in dem alle begriffen sind" (ebd.: 296). Dieser Gegenstand kann nicht sein das Nichtseiende, auch nicht das einzelne Seiende sondern das ganz unbestimmte "Seyende" (ebd.). Von diesem, als Prinzip genommen, soll sich alles andere ableiten. Die Fragestellung besteht nun darin, wie wir zum Prinzip gelangen.
Da aus dem Prinzip alles abgeleitet werden soll, darf es selbst nicht auf einem deduktiv wissenschaftlichen Weg abgeleitet sein. "Daß aber auch der Weg zum Princip selbst wieder Wissenschaft sey, scheint offenbar undenkbar [...] denn über ihm ist nichts" (ebd.: 297). Nicht ein anderes Prinzip also führt zum Prinzip, sondern eine Methode, und zwar eine induktive. Diese Induktion geschieht allerdings im reinen Denken, nicht aus einer äußeren Erfahrung heraus. Es geht um gedachte Möglichkeiten, aber nicht beliebige, sondern jene, die "gar nicht nicht gedacht werden können" (ebd.: 304), die also notwendig sind. Es entsteht ein "Ganzes, das sich im Gedanken mit Nothwendigkeit erzeugte" (ebd.: 313) und dieses kann nur als Folge von Stufen (Potenzen) gedacht werden. Für diese gilt, dass sie sich gegenseitig fordern und "daß sie nur miteinander entstehen und untergehen können" (ebd.: 293), also eine Art Totalität. Außerdem stehen sie in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander (ebd.: 303 ff.). Schelling stellt dann weiter die Frage, ob dieses notwendig gedachte Ganze "das Seyende" sei und beantwortet sie negativ, denn das Ganze ist "das Seyende, das ebenfalls nicht Ist, sondern nur seyn kann." (ebd.: 313). Die Verwirklichung der Möglichkeit, der aristotelische "actus", kann nun aber nicht gedacht werden. "Das Denken geht doch nur bis zu diesem. Das was nur Actus ist, entzieht sich dem Begriff" (ebd.: 316); es kann nicht mehr gedacht, sondern nur noch geschaut werden.

In Anlehnung an Platons Darlegung der dialektischen Methode, bei der "ohne alle Beihilfe der Sinne [...] nur mittels der begrifflichen Tätigkeit des Verstandes zum wesenhaften Sein eines jeden Dinges" (Platon SW 2: 275) vorgedrungen werden kann, geht es um das Erfassen der "intelligibel wirklichen Urbilder" (ebd.: 276), des "reinen Seins eines jeden Dinges von allem" (ebd.: 277). Das "wissenschaftliche Verfahren der Dialektik allein steigt, unter Aufhebung der anfänglich aufgestellten Voraussetzungen, zum Urgrunde, damit er dann unerschütterlich fest steht [...]" (ebd.).

In den Erlanger Vorlesungen (Init) hatte Schelling die "ewige Freiheit", aus der sich schließlich alles weiter entwickelte, einfach als "höchstes Gesetz" voraus gesetzt. Hier jedoch setzt er gerade die Dialektik ein, um das Prinzip zu finden, aus dem sich alles andere ergibt.

Die dialektische Methode selbst unterteilt sich in ihre positive Seite, bei der Voraussetzungen als mögliche Prinzipien gesetzt werden, und ihre negative, bei der diese Prinzipien als bloße Voraussetzungen "degradirt" werden, solange sie nicht zum Äußersten gelangen, wo nichts mehr vorausgesetzt, sondern nur gesetzt wird (ebd.: 327). Jedes gesetzte Element wird nur versuchsweise, hypothetisch, als Prinzip gesetzt und erweist sich dann lediglich als Durchgangsstufe und es ist das "Setzen jedes folgenden durch das Verneinen des vorhergehenden vermittelt" (ebd.). Dialektik ist somit "nicht beweisend sondern erzeugend; sie ist die, in welcher die Wahrheit erzeugt wird" (ebd.: 330).

Diese dialektische Methode als versuchende Aufeinanderfolge von zum Prinzip führenden Stufen ist jedoch nur ein Teil der Philosophie, sie kennzeichnet sie sog. "negative Philosophie" Schellings. Aber Schelling sucht weitergehend nach der Philosophie dessen, was nicht nur gedacht möglich, sondern was wirklich ist.

Das Überschreiten der Dialektik in der Positiven Philosophie

Auch die noch nicht ausreichende Naturphilosophie "mußte sich als Wissenschaft bekennen, in der von Existenz, von dem, was wirklich existirt, und also auch von Erkenntniß in diesem Sinn gar nicht die Rede ist, sondern nur von den Verhältnissen, welche die Gegenstände im bloßen Denken annehmen, und da Existenz überall das Positive ist, nämlich das, was gesetzt, was versichert, was behauptet wird, so mußte sie sich als rein negative Philosophie bekennen, aber eben damit den Raum für die Philosophie, welche sich auf die Existenz bezieht, d.h. für die positive Philosophie, außer sich frei lassen, sich nicht für die absolute Philosophie ausgeben, für die Philosophie, die nichts außer sich zurückläßt." (SW X: 125) Jetzt geht es darüber hinaus in der "positiven Wissenschaft" "um Wissenschaft, die das, was das Seyende Ist, das Seyende selbst [...] zum Princip hat" (SW XI: 563) Sie "geht von der Existenz aus, von der womit zugleich auch alles andere Seyn, als von jenem ersten Daß abgeleitet, in seiner Existenz erklärt, und also ein positives, d.h. die Wirklichkeit erklärendes System hergestellt wird." (ebd.) Negative und Positive Philosophie bilden gemeinsam die Philosophie, erstere, indem sie versuchend den Gegenstand erst findet und letztere, indem sie "ihn zur Erkenntniß bringt" (ebd.: 564). Die Trennlinie ist, dass das gefundene Prinzip selbst nicht mehr in der negativen Weise erklärbar und erkennbar ist. Hier ist die Grenze des Rationalen erreicht und die Erkenntnismethode wechselt fundamental. Anknüpfend an die frühere "intellektuelle Anschauung" spricht der Schelling seit 1821 hier von "Ekstase" (Init: 37) und erinnert an den Beginn der Philosophie im "Staunen" bei Plato. Ein längeres Zitat soll dies verdeutlichen:

"Man hat dieses ganz eigenthümliche Verhältniß sonst wohl auszudrücken gesucht durch das Wort intellektuelle Anschauung. Anschauung nannte man es, weil man annahm, daß im Anschauen oder (da dieß Wort gemein geworden) im Schauen das Subjekt sich verliert, außer sich gesetzt ist: intellektuelle Anschauung, um auszudrücken, daß das Subjekt hier nicht in das sinnliche Anschauen, in ein wirkliches Objekt verloren sey, sondern verloren, sich selbst aufgebend in dem, was gar nicht Objekt seyn kann. Allein eben weil dieser Ausdruck erst der Erklärung bedarf, so ist es besser, ihn ganz bei Seite zu setzen. Eher könnte man für jenes Verhältniß die Bezeichnung Ekstase gebrauchen. Nämlich unser Ich wird außer sich, d.h. außer seiner Stelle, gesetzt. Seine Stelle ist die, Subjekt zu seyn. Nun kann es aber gegen das absolute Subjekt nicht Subjekt seyn, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also es muß den Ort verlassen, es muß außer sich gesetzt werden, als ein gar nicht mehr Daseyendes. Nur in dieser Selbstaufgegebenheit kann ihm das absolute Subjekt aufgehen in der Selbstaufgegebenheit, wie wir sie auch in dem Erstaunen erblicken." (SW IX: 229) Selbstverständlich geht es Schelling nach wie vor nicht um das wirkliche Dasein der weltlichen Dinge, sondern um die Erkenntnis des reinen Seins, letztlich um Gott, der nicht rational begreifbar ist. Hier endet auch der Anspruch der Aufklärung, die nur im negativen Sinne rational argumentieren kann.

Im weiteren Verlauf der Argumentation versucht Schelling, eine Gottesauffassung zu entwickeln, bei der Gott sich freiheitlich verhält, indem er aus seinem Grund heraus in Existenz tritt und sich dabei selbst offenbart. Dieser Grund entäußert sich in einem Willen, der "kein bewußter oder mit Reflexion verbundener Wille [ist], obgleich auch kein völlig bewußtloser, der nach blinder mechanischer Nothwendigkeit sich bewegte, sondern mittlerer Natur, wie Begierde oder Lust, und am ehesten dem schönen Drang einer werdenden Natur vergleichbar, die sich zu entfalten strebt, und deren innere Bewegungen unwillkürlich sind (nicht unterlassen werden können), ohne daß sie doch sich in ihnen gezwungen fühlte." (SW VII: 395) Dieses lässt sich nicht rational erkennen. Schon in der "Freiheitsschrift" hat Schelling unterschieden zwischen dem göttlichen Verstand, für den es ein System gibt, und Gott selbst, der Leben ist (ebd.: 399). Das diesem Leben Zugrundeliegende ist nicht nur etwas Freundliches, sondern, so wird er es in den "Weltaltern" schreiben, "der wahre Grundstoff alles Lebens und Daseyns [ist] eben das Schreckliche" (SW VIII: 339).

Die Dialektik, die Vernunft überhaupt, hat auf diesen Urgrund keinen Zugriff. Schelling fällt damit "keineswegs in einen unsystematischen Irrationalismus zurück" (Berg 2003: 335), sondern versucht (ab 1831) eine Philosophie der Mythologie und Offenbarung zu entwickeln, um sich diesem Urgrund zu nähern.

"Das System der Freiheit impliziert nach Schelling einen "utopischen" Gehalt, der über die Vernunft und das System hinausweist. Die Verwirklichung dieses Noch-nicht-Seienden ist aber kein politisches Programm, sondern eine religiöse Hingabe an das Absolute, das als Liebe immer schon das Vernunftsystem übersteigt. Es ist aus dieser Perspektive nur konsequent, wenn der späte Schelling nicht die Rechts- und Staatsentwicklung, sondern die Mythologie und Offenbarung in den Mittelpunkt seiner Geschichtsphilosophie stellt." (Berg 2003: 335) Für Engels ist diese Methode - innerhalb der damals aktuellen weltanschaulichen und politischen Auseinandersetzungen - natürlich unhaltbar, denn "Schelling macht hier keinen Hehl, daß er bloße Hypothesen macht, die sich erst durch den Erfolg, d. h. durch Übereinstimmung mit der Offenbarung, als richtig zu erweisen haben." (Engels 1842: 202)

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