„Wicked. The Life and Times of the Wicked Witch of the West“ von Gregory Maguire

Fast jeder kennt „Der Zauberer von Oz“ von Lyman Frank Baum oder die russische Nacherzählung „Der Zauberer der Smaragdenstadt“ von Alexander Wolkow. Beide erzählen eine ähnliche Geschichte und bilden jeweils den Anfang einer vielbändigen Serie. Die Handlung beginnt mit einem Sturm, der Dorothy (in Wolkows Variante heißt das Mädchen Elli) mit ihrem Häuschen aus Kansas ins Zauberland verschlägt. Das Häuschen landet auf der bösen Hexe des Osten und tötet sie. Dorothy sucht einen Weg nach hause und wird von der guten Hexe Glinda mit den Schuhen der bösen Hexe in die Smaragdenstadt geschickt, den Sitz des Zauberers. Unterwegs trifft sie eine Vogelscheuche, die sich ein Gehirn wünscht, einen Eisernen Holzfäller, dessen sehnlichster Wunsch ein Herz ist, und einen feigen Löwen, der sich Mut wünscht. Der Zauberer ist bereit ihre Wünsche zu erfüllen, vorrausgesetzt sie töten vorher die böse Hexe des Westen. So machen sich Dorothy und ihre Freunde auf den Weg nach Westen und Dorothy tötet die böse Hexe aus Versehen durch einen Eimer Wasser. Wieder in der Smaragdenstadt werden die Wünsche ihrer Freunde erfüllt und Dorothy und der Zauberer verlassen Oz.

“Wicked. The Life and Times of the Wicked Witch of the West“ von Gregory Maguire beschreibt, was in Oz passierte, bevor Dorothy eintraf, und folgt Elphaba, der “bösen” Hexe des Westens, auf ihrem Lebensweg. Während der Zauberer von Oz in erster Linie ein Kinderbuch ist, richtet sich Wicked an ältere Leser. Die beiden bösen Hexen (Elphaba und ihre Schwester Nessarose) bekommen eine Geschichte und erscheinen auf einmal gar nicht mehr so böse wie im Original. Sie sind Menschen mit Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten, die lieben, hoffen, kämpfen und scheitern.

Elphaba wird geboren als Tochter eines Priesters und der Enkelin des Herrschers des Munchkinlandes im Osten von Oz. Ihre Geburt findet unter mystischen Umständen statt, während ihr Vater (mal wieder) eine Niederlage gegen das Heidentum erleidet. Beide Eltern sehen das grünhäutige Mädchen mit den unglaublich scharfen Zähnen als Bestrafung und bringen ihr wenig Liebe entgegen. Die Situation entspannt sich erst, als ihre Schwester Nessarose geboren wird, die keine Arme hat. Elphaba kümmert sich um ihre Schwester und legt ihre anfängliche Aggressivität ab. Von ihrem Vater, den sie trotz Allem liebt, übernimmt sie dessen Selbst-Hass.
Als junges Mädchen geht sie von zu hause fort an die Universität von Shiz und trifft dort Galinda. Galinda ist ein junges Mädchen aus Gillikin, die nördliche, reichste Provinz von Oz, und geht nach Shiz um gesellschaftliche Kontakte zu knüpfen. Durch ein Missgeschick muss sie ein Zimmer mit der ärmlich gekleideten Elphaba teilen und ist wenig begeistert. Während Galinda die Gesellschaft der reicheren Mädchen sucht und das Studium vernachlässigt, isoliert sich Elphaba und stürzt sich in die Bücher der Universität. Sie durchschaut das gesellschaftliche Getue und entwickelt ein starkes Interesse und einen kritischen Blick für die Politik in Oz. Die neuen Gesetze des Zauberers engen die Rechte der TIERE (Tiere mit der Fähigkeit zu sprechen und der Intelligenz von Menschen) stark ein und reduzieren sie faktisch auf Tiere. Elphaba beginnt sich für die Rechte der Unterdrückten zu engagieren und hilft einem ZIEGEN-Professor, der versucht die Gleichheit von Menschen und TIEREN wissenschaftlich nachzuweisen. Die arme Elphaba ist der Schuldirektorin Madame Morrible von Anfang an ein Dorn im Auge und als sie ihre Meinung über die neuen Gesetze laut ausspricht, versucht Madame Morrible sie als Agentin für den Zauberer zu engagieren, aber Elphaba verweigert sich. Inzwischen hat Elphaba auch mit zwei Studenten der benachbarten Jungs-Universität Freundschaft geschlossen und sogar mit Galinda, die von Elphabas Sonderbarkeit fasziniert ist und die Falschheit der gehobenen gesellschaftlichen Schicht durchschaut hat, obwohl sie sich selbst nicht davon lösen kann. Schließlich kommt auch Elphabas verwöhnte Schwester Nessarose nach Shiz, die wegen ihrer fehlenden Arme ständig Hilfe benötigt. Wenige Tage nach deren Ankunft, erreicht ein Paket die Universität mit perlenbestickten Schuhen für Nessarose von ihrem Vater. Elphaba fühlt sich vernachlässigt und versteht, dass ihr Vater Nessarose schon immer mehr geliebt hat. Kurz bevor der ZIEGEN-Professor seine Ergebnisse veröffentlich kann, wird er ermordet, auch wenn es für die Öffentlichkeit ein Unfall war. Elphaba ist darüber so erbost, dass sie mit Galinda in die Smaragdenstadt fährt um den Zauberer zu sprechen. Der Zauberer will Elphabas Rede für die Rechte der TIERE jedoch nicht hören und schickt sie wieder nach hause. Während Galinda zurück nach Shiz fährt, bleibt Elphaba unangekündigt in der Smaragdenstadt, was ihre Schwester ihr nie verzeihen wird.
Erst einige Jahre später findet ein Studienfreund sie wieder. Zu erst will sie mit ihm nichts zu tun haben und auch nichts über das Leben ihrer anderen Freunde wissen, um sie zu beschützen. Aber dank Fiyeros Hartnäckigkeit gibt sie schließlich nach und trifft sich regelmäßig mit ihm. Er ist inzwischen verheiratet und Stammeshäuptling in Vinkus, dem westlichen Steppenland, und obwohl Elphaba eine Zeit lang versucht ihn auf Distanz zu halten, beginnen die beiden eine Affäre. Elphaba bleibt während dieser Zeit mysteriös und undurchschaubar und öffnet sich nur für kurze Momente. So erfahren wir, dass sie im Untergrund tätig ist und gegen den Zauberer arbeitet. Was genau sie tut, weiß sie gar nicht, da sie ihren eigenen Worten nach kein Individuum, sondern nur Teil eines größeren Organismus ist. Sie warnt Fiyero vor dem Tag, an dem der Anschlag geplant ist und beschwört ihn sich in Sicherheit zu bringen, da auf unschuldige Opfer keine Rücksicht genommen werden kann. Fiyero jedoch folgt ihr und beobachtet, wie sie das geplante Attentat auf Madame Morrible nicht ausführt, weil eine Gruppe Kinder unplanmäßig dazwischen kommt. Fiyero wird getötet und Elphaba flieht in ein Kloster.
Elphaba ist nicht gläubig, aber sie pflegt Kranke und versucht zu vergessen, wer sie ist und was sie getan hat. Erst als sie einen alten Freund pflegt, der sie erkennt und kurz darauf stirbt, fasst sie den Entschluss das Kloster zu verlassen. Eine alte Nonne gibt ihr einen Besen mit auf den Weg.
Sie geht nach Westen, in der Hoffnung bei Fiyeros Witwe Sarima Vergebung zu finden. Die Mitglieder der Reisegruppe, mit der sie reist, halten sie auf Grund ihrer Hautfarbe und ihres merkwürdigen Verhaltens bald für eine Hexe und Elphaba widerspricht dem nicht, obwohl sie auf dem Gebiet der Zauberei nicht sehr talentiert ist. Sarima weigert sich Elphabas Bitte um Vergebung überhaupt anzuhören, nimmt sie jedoch auf, weil es unmöglich ist, sie im Winter zurück zu schicken. In Sarimas Bibliothek findet Elphaba ein magisches Buch, das ein Fremder vor vielen Jahren bei Sarima versteckt hat. Elphaba nimmt das Buch an sich und beginnt es zu studieren und Magie zu lernen. Als Soldaten des Zauberers von Oz in der Stadt stationiert werden, befürchtet sie das Schlimmste, besucht aber trotzdem auf Wunsch ihres Vaters ihre Schwester, die inzwischen Herrscherin über das Munchkinland geworden ist und von ihren Untertanen die böse Hexe des Ostens genannt wird. Nessarose bittet sie dazubleiben, aber Elphaba ist entsetzt von der Art und Weise, wie im Munchkinland mit TIEREN umgegangen wird, und möchte nicht in die politischen Intrigen ihrer Schwester verwickelt werden. Außerdem hat sie in Sarimas Burg das erste Mal ein Zuhause gefunden, in das sie gerne zurückkehrt. Bei ihrer Rückkehr muss sie allerdings feststellen, dass die Soldaten Sarima und ihre Familie während ihrer Abwesenheit entführt haben. Seitdem lebt sie zurückgezogen mit ihrem alten Kindermädchen und ihrem Sohn im Schloss und erforscht die Magie. Dabei reflektiert sie über ihre schon gelebte Zeit und stößt dabei immer wieder auf die Frage inwiefern ihr Schicksal von anderen (Madame Morrible und einige andere mysteriöse Gestalten inklusive der Zauberer von Oz) gelenkt wurde. Elphaba lebt ohne feste Moralvorstellungen und lehnt den Glauben an eine Seele ab. Trotzdem rutscht ihr in einem Gespräch raus, dass ihr sehnlichster Wunsch eine Seele ist.
Sieben Jahre später (Elphaba ist inzwischen 38 Jahre alt), wird Dorothy nach Oz verschlagen und tötet Nessarose. Elphaba kommt zu ihrer Beerdigung ins Munchkinland und trifft dort Galinda, die sich inzwischen Glinda nennt und als die Gute Hexe bekannt ist. Die beiden Freundinnen freuen sich, sich nach so langer Zeit wieder zu sehen, aber Elphaba wird wütend, als sie erfährt, das Glinda dem Mädchen Nessaroses magische Schuhe gegeben hat, die Elphaba versprochen waren. Sie trennen sich im Streit und Elphaba verfolgt Dorothy, traut sich jedoch nicht ihr in die Smaragdenstadt zu folgen. Zurück in ihrer Burg erfährt sie, dass das Mädchen losgeschickt wurde, um sie zu töten und so schickt sie ihr ihre Wölfe und Bienen entgegen, die Dorothy und ihre Freunde jedoch besiegen. Erst den fliegenden Affen gelingt es, das Mädchen zu fangen und zu Elphaba zu bringen. Elphaba will die Schuhe des Mädchens haben und anschließend das magische Buch verbrennen und sich selbst umbringen, da sie in ihrem Leben zu oft gescheitert ist und eine Seele vermisst, obwohl sie nicht an deren Existenz glaubt. Als Dorothy ihr eröffnet, dass sie sie gar nicht töten will, sondern um Vergebung bittet, weil sie sich Nessaroses Tod nicht verzeihen kann, ist Elphaba, der nie vergeben wurde, so geschockt, dass sie in den Kamin tritt und Feuer fängt. Dorothy möchte ihr helfen und überschüttet sie mit einem Eimer Wasser, aber Elphaba ist allergisch gegen Wasser und stirbt.

Und so endet das Leben der „bösen Hexe des Westens“, die ihr Leben lang versucht hat, sie selbst zu sein und ein wenig Glück zu finden, aber an den politischen Intrigen des Zauberers und der religiösen und menschlichen Engstirnigkeit der Bewohner von Oz gescheitert ist. Elphaba ist nicht die uralte Hexe des „Zauberers von Oz“, die auf ihre Bosheit reduziert wird, sondern eine mutige und vom Leben gebeutelte Frau und Oz ist kein glückliches Zauberland, sondern ein von Intrigen und religiösen Kämpfen durchzogenes Land. „Wicked“ schaut hinter die Fassade des Kinderbuches und eröffnet den Blick auf eine ganz andere Welt, die trotzdem nicht im Widerspruch zu den Ereignissen in Baums Büchern steht. Weitere Bücher von Gregory Maguire wagen einen Blick hinter die Kulissen der bekannten Märchen Schneewittchen und Aschenputtel.

„Wicked“ gibt es bis jetzt leider noch nicht als deutsche Übersetzung. Wer Interesse an dem Buch hat, muss es also vorerst auf Englisch lesen, was je nach Beherrschung der englischen Sprache durchaus eine Herausforderung ist. „Wicked“ ist sehr anschaulich geschrieben, enthält dadurch jedoch auch viele Wörter, die dem durchschnittlichen Leser wahrscheinlich unbekannt sind.
Seit Oktober 2003 gibt es Wicked auch als Broadway-Musical, mit einer ähnlichen, jedoch deutlich veränderten Handlung, das seit September 2006 auch in London zu sehen ist.

Literatur

Gregory Maguire: Wicked. The Life and Times of the Wicked Witch of the West. HarperCollins Publishers, Inc., New York, 1995 (Erstausgabe)
Der Zauberer von Oz auf Wikipedi a; viel, gut recherchierte Infos Zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte
Wicked (das Musical) in der deutschen Wikipedia
Wicked (der Roman) in der englischen Wickipedia
Wicked (das Musical) in der englischen Wikipedia
die offizielle Website des Musicals (englisch)


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