11. September 2001

Am Tag danach...:
Nur wenige Menschen können noch lebend geborgen werden - ich wünsche, es werden noch so viele wie möglich.
Die Medien berichten immer noch intensiv. Es laufen Diskussionen und Gespräche. Dreimal sind mir schon Denkverbote aufgefallen: Es wird argumentiert, jeder Hinweis auf politische oder gar politökonomische Zusammenhänge oder eine Suche nach Gründen würde Verständnis für diesen Terror zeigen und das dürfe man doch nicht.

Also hier - sicherheitshalber zum Mitmeißeln: Auch ich verurteile diese Terroranschläge auf das Entschiedenste, bin entsetzt über die Opfer und fühle mich eng verbunden mit den amerikanischen Menschen.

Doch wenn Entsetzen und Wut weiter das Denken ausschalten oder gar zu Denkverboten führen, sind wirklich die letzten Reste der Zivilisation zerstört.

Die Nation saß vorm Fernseher, nachmittags. Die Straßen wurden leer, und die letzten Leute wurden per Telefon von Freunden und Bekannten aufgefordert, den Fernseher einzuschalten. Der Sender war egal - wir sahen dutzende Mal das Flugzeug in den zweiten Tower des Word Trade Centers rasen und wir sahen dutzende Mal die Türme ich sich zusammensinken. Später gab es Aufnahmen der verzweifelt winkenden Menschen und sich wie Puppen in der Luft drehenden Figuren, die sich aus dem Fenster gestürzt hatten.
Weltgeschichte kriecht bis unter die Haut. Was da passiert, läutet eine Geschichtsepoche ein, die wir lange befürchteten. Das 20. Jahrhundert war schon ein Jahrhundert großer Schrecken - das 21. brütet nichts Besseres aus.
Wir stehen wie einst die Höhlenmenschen vor einbrechenden Katastrophen und können sie wie einst nur magisch zu beschwören versuchen. Nur die technischen Mittel, mit denen die Katastrophen erzeugt werden, sind gewaltiger und fürchterlicher. Und der Haß auf allen Seiten wächst und wächst.
Eine rationale Analyse ist kaum noch möglich. Nicht nur wegen den aktuell überschießenden Emotionen. Angesichts der zig tausenden Toten wäre es wohl auch vermessen, jedes dieser Schicksale unter der Analyse historischer Trends und Notwendigkeiten und Zufälle verschwinden zu lassen, zu verleugnen.
Trotzdem wird es wohl nicht ausreichen, auf Seiten des Bösen ein "krankes Hirn" zu diagnostizieren. Es wird auch nicht ausreichen, immer wieder zu beschwören, daß dieser Angriff der Freiheit (Bush) und der gesamten Zivilisation (Schröder) auf diesem Planeten galt. Dies reicht aus, um Politik zu machen. Die offizielle Politik der nächsten Jahrzehnte wird auf diesem schlichten Gut-Böse-Schema beruhen. Dies allein zeigt, wie wenig weit es die Menschheit auf dem Weg ihrer Zivilisation gebracht hat.
Um eine Zivilisation, die in den letzten Jahrzehnten durchaus keine Skrupel hatte, ihre "Errungenschaften" mit aller Macht allen Weltgebieten aufzuzwingen, die ihre Machtgebiete mit allen Mitteln gegen andere Einflüsse verteidigte, die zu diesem Zweck auch Terroristen auf der ganzen Welt päppelte und hochrüstete, wird es vielleicht gar nicht so schade sein. Es geht - verdammt noch mal - tatsächlich um die vielen - und jeden einzelnen - Menschen, die sterben.
Wenn sie jetzt als Opfer des Terrorangriffs auf "Freiheit und Zivilisation" dazu dienen, aus dem Entsetzen, dem Schrecken und den ersten Rachegefühlen heraus weitere irrationale Wut und Haß hochkochen zu lassen, werden sie ein zweites Mal zu Opfern gemacht.
Was macht die "Zivilisation und Freiheit" aus, der gestern ein so gewaltiger Schlag versetzt wurde? Daß sie so etwas wie ein "humanes Gewissen" entwickelt hat, das aber schnell aufhebbar ist und genauso durch irrationale Racheschreie ersetzt wird, wie in "unzivilisierten" Völkergruppen.
Daß sie meistens nicht so brutale Mittel einsetzen braucht, um ihre Macht gegen andere durchzusetzen. Die Gesetze des Weltmarktes, die mittlerweile allen aufgezwungen werden, tun das quasi "unsichtbar". In der dritten Welt stürzt kein World Trade Center ein - dort sterben Millionen einfach durch die Vertreibung von ihren Gebieten bei der "Zivilisierung" des vorher von ihren genutzten "Ödlandes". Wo dieser "ökonomische Weltkrieg" nicht ausreicht, wird auch mal nachgeholfen. Wir erfuhren erst vorige Woche öffentlich Pläne, nach denen, wenn in Belorussland nicht nach Wunsch gewählt wird, wieder "wie in Nicaragua" eingegriffen werden solle. Diese strukturelle und notfalls auch sich offen zeigende Gewalt der auf "Zivilisation und Freiheit" beruhenden Weltordnung ist nicht direkt die Ursache für die Terrorpolitik derer, die entweder ihre Opfer sind oder nicht genug vom Kuchen der Macht abbekommen haben. Sie entschuldigt auch in keinster Weise Terror und Gewalt. Aber wir sollten von ihr wissen und sie mit bedenken.
Die unsichtbare strukturelle Gewalt, auf deren Grundlage sich die herrschende Weltordnung "Freiheit und Zivilisation" für wenige Nutznießer weltweit leisten kann, erzeugt immer stärkere Spannungen. Und in der Politik kann da nicht wie in der Physik genau gegengerechnet werden: Welche Ursache erzeugt direkt welche Wirkung und diese wiederum welche Gegenwirkung... Aber ohne diese grundsätzlichen Spannungen gäbe es keinen Resonanzboden für solche terroristischen Bestrebungen. Manches, wie die Hochrüstung der Terroristen durch die USA, solange sie in ihrem Interesse z. B. in Afghanistan agierten, ist sogar direkt in ihrer Ursache-Wirkung-Beziehung durchschaubar. Wenn wir uns nicht mal daran erinnern, ist es mit unserer Vernunft und Zivilisation wirklich nicht mehr weit her. Aber es geht ja nicht nur um die Suche nach solchen direkten Beziehungen. Die Weltpolitik funktioniert wirklich etwas komplizierter - aber was passiert ist nicht völlig irrational. Daß ein "krankes Hirn" in bestimmten Situationen, mit bestimmten Machtmitteln eine bestimmte Resonanz und Wirksamkeit entfalten kann, ist nicht nur zufällig oder irrational. Leider trichtern uns die James-Bond-Filme genau solch eine irrige Vorstellung seit Jahrzehnten ein, damit wir nicht zum zivilisierten Genauer-Nachdenken kommen.
Es ist nie voraussehbar, wann und wo die gespannte Weltlage reißt - aber daß sie irgendwo und zwar bald die oberflächliche Zivilisierung mit vulkanartiger Gewalt durchbrechen wird, war seit vielen Jahren abzusehen. Jetzt, wo es passiert ist, wollen wir die Geschichte zurückdrehen. Der "Seven Day"- Held, der immer gerade 7 Tage in die Vergangenheit reisen kann, um Katastrophen, die schon geschehen sind, schnell noch aufzuhalten, würde nicht viel helfen. Es würde nicht aus reichen, nur die Flugzeugentführungen genau im richtigen Moment zu stoppen. Es würde nicht ausreichen, den vermutlichen Anführer der Terroristen vorher zu töten. Die Spannungen im Gefüge der Welt blieben erhalten und würden - etwas später und auf andere Weise - neu herausbrechen.
Ich würde mir sehr wünschen, den gestrigen Tag ungeschehen zu machen. Jedes Gedenken an die Toten und Verletzten muß unangemessen bleiben. Das Gedenken, das - einen Tag danach unübersehbar - zu einem weiteren Aufputschen der unmittelbaren Gewalt führt, wird die Lage nur verschärfen und weitere, sicher wieder vor allem zivile, Opfer herausfordern (die werden dann allerdings nur "Kollateralschäden" genannt).
Und die weltweiten Spannungen werden sich verschärfen. Die strukturelle Gewalt wird immer mehr von offener Gewalt zum "Schutze von Freiheit und Zivilisation" ergänzt werden. Aber sie wird keine Ruhe und Ordnung schaffen können, denn sie kann die Risse in der Welt nicht beseitigen.

Der Boden unter unseren Füßen brodelt. Ein Weltkrieg ist möglich (erinnern wir uns, daß einst 1 Toter zu seiner Auslösung ausreichte). Eine neue Form allgemeinen Kriegszustands auf der Welt wird es sein - nicht die früheren Graben- und Kanonenkämpfe. Zivilisten und Symbole sind die Targets.
Ich bin wirklich bekannt für meinen Optimismus. Aber im Moment ich sehe keine reale Möglichkeit, den "Dampf aus dem Kessel" zu nehmen. Gerade die Weltordnung, die ich als strukturelle Grundlage für die menschgemachten Katastrophen sehe, wird als Inbegriff von "Freiheit und Zivilisation" unter einen immer gewaltsameren Schutz gestellt.
Was durch Terroristen bedroht wird, wird nicht in einem rationalen oder demokratischen Diskurs zur Debatte gestellt werden. Erinnern wir uns, daß schon bisher friedliche, gewaltfreie Proteste gegen die Weltwirtschaftsordnung durch herbeiorganisierte "black blocks" kriminalisiert wurden. Der gewaltsame Schutz von "Freiheit und Zivilisation" wird sich gegen alle richten, die auch nur Teile davon in Frage stellen. Die Bedingungen für eine gewaltfreie, vom Willen aller Menschen getragene radikale Änderung der Wirtschafts- und Lebensweise werden extrem schlechter - gleichzeitig wird es immer weniger möglich sein, die "normale" Funktionsweise der herrschenden Wirtschafts- und Lebensweise aufrecht zu erhalten.

Viel mehr kann ich nicht voraussagen. Was sonst noch passiert, ist unklar. Ich kann nicht mal vorschlagen, wie wir uns sinnvoll vernünftig verhalten könnten. Auch ich versuche, das normale Leben weiter zu leben. Das verlangt ein Verdrängen und die Hoffnung, daß "die Politiker da oben" schon irgendwas unternehmen, um auch mein schlechtes Gewissen mit zu entlasten. Damit mache ich genau das, was ich vom Verstand her verhindern will.

Andere Kommentare

Erklärung des Bundesausschusses Friedensratschlag
Kassel, den 12. September 2001

Der Tag des schrecklichsten Attentats, das die Welt je erlebte, der 11. September, ist gleichzeitig der von den Vereinten Nationen eingeführte "Internationale Tag des Friedens". An diesem Tag sollte die UNO-Generalversammlung in New York eröffnet werden. Am Vorabend gab UN-Generalsekretär Kofi Annan aus diesem Anlass eine Erklärung ab, in der es u.a. hieß: "Am Internationalen Tag des Friedens versuchen wir uns eine Welt vorzustellen, die sich von der Welt, wie wir sie kennen, ziemlich unterscheidet. Wir stellen uns vor, dass die Kriegführenden ihre Waffen niederlegen und ihre Meinungsverschiedenheiten in Aussprachen beilegen. Wir stellen uns vor, dass alle Regierungen auf den Willen ihrer Bevölkerungen hören - und entsprechend handeln. Wir stellen uns vor, dass die eigentlichen Konfliktursachen - Armut, Marginalisierung und Gier - der Entwicklung und der Gerechtigkeit weichen."

Leider trifft nur der erste Satz aus der Erklärung Kofi Annans heute noch zu: Nach den entsetzlichen Anschlägen in New York und Washington, denen Tausende von Menschen zum Opfer gefallen sind, unterscheidet sich die Welt fundamental von der, die wir bisher gekannt haben. So sehr wir die grausamen Terrorakte verurteilen, so sehr wir um die vielen unschuldigen Opfer trauern und mit ihren Angehörigen mitfühlen, so sehr wir uns sehnlich wünschen, dass die Verantwortlichen dieser Wahnsinnstaten zur Rechenschaft gezogen werden, so sehr warnen wir aber auch vor voreiligen Verurteilungen und vor unangemessenen Reaktionen.

Gegen Terrorismus und wahnsinnsgeleitete Aktionen blinder Gewalt gibt es keinen hundertprozentigen Schutz. Eine Politik, die den Terrorismus wirksam bekämpfen und eindämmen will, muss ihm den sozialen, politischen und ideologischen Nährboden entziehen, in dem er gedeiht. Ein Klima des Hasses und der Intoleranz und eine Politik, die Gewalt mit Gegengewalt und Gegengewalt mit neuer Gewalt beantwortet, bereitet auch den Boden für Terrorakte, deren Grausamkeit sich jeder menschlichen Vorstellungkraft entziehen.

Wann endlich wird begriffen, dass Sicherheit heute nicht mehr durch noch so "perfekte" militärische Sicherheitsvorkehrungen gewährleistet werden kann? Nichts offenbart dies deutlicher als die Schutzlosigkeit der Großmacht USA gegenüber den grauenhaften terroristischen Anschlägen.

Wann endlich begreifen die Politiker, die jetzt wieder nach mehr Rüstungsausgaben, Waffen und Militär verlangen, dass Sicherheit erst dann gegeben ist, wenn die Sicherheit des Anderen gewährleistet ist? Dass Sicherheit heute nicht mehr nur militärisch, sondern vor allem sozial, kulturell, ökonomisch und politisch begriffen werden muss? Dass Sicherheit letztlich eine Frage der Gerechtigkeit ist?

Die Friedensbewegung plädiert aus all diesen Gründen für besonnene Reaktionen der Politik. Dem Terrorismus durch zivile Maßnahmen und durch die Stärkung des Rechts und der Gerechtigkeit den Boden entziehen ist langfristig das bessere Mittel als der Gedanke an Rache und militärische Vergeltung.

F.d. Bundesausschuss Friedensratschlag Dr. Peter Strutynski (Sprecher)


Trefferquote: perfect

Die hoechsten Gebaeude von New York sind zerstoert. Tausende, vielleicht Zehntausende tot, das Pentagon getroffen, der Capitol Hill in Flammen: Tefferquote: perfect!

Was aber wenn die Ziele keine Symbole sondern taktisch gewesen waeren? Was wenn ein grosser Staudamm, eine grosse Chemiefabrik oder ein gar Atomkraftwerk getroffen worden waere? Der letztere Fall ist kaum auszudenken, aber AtomkraftgegnerInnen haben ihn schon vor 25 Jahren bedacht und dies oeffentlich gemacht: Atomkraftwerke sind gefaehrliche Ziele fuer Terroranschlaege oder - abstuerzende Flugzeuge der zivilen und militaerischen Luftfahrt. Wird das naechste Ziel eine dieser tickenden Zeitbomben sein? Warum sollten die Angriffe zu Ende sein, solange noch einer der nun von der ganzen Welt gejagten Attentaeter noch lebt? Und wenn der letzte zur Strecke gebracht ist - werden der Hydra nicht neue Koepfe wachsen, genaehrt von neuem Unrecht, neuer Ausbeutung, neuem Schlachten?

Wer eine derartige Tat begeht hat mit seinem Leben abgeschlossen und wird die gewaltsame Beendigung desselben so teuer wie moeglich verkaufen. Es ist keine Zeit Angst zu verbreiten, aber es ist Zeit, den Dingen nuechtern ins Auge zu blicken.

Der Terror der 1. Welt gegen die 2. die 3. und 4. kommt nach Hause zurueck. Die Herrschenden haben Grund Angst zu haben - und wir, die wir die Herrschenden dieser 1. Welt nicht imstande waren zu bremsen oder uns lieber mit ihnen einrichten wollten, wir muessen diese Furcht teilen.

R@lf G. Landmesser [LPA]


Online-Rechercheplattform (zusammengestellt von Kai F.)

1. Recherchemoeglichkeiten:
1.1. in deutsch:
a) Umfanreiche Informationen sind derzeit (wohl nur vorruebergehend) ueber diese Homepages zu erreichen:
http://www.sueddeutsche.de
http://www.faz.de
http://www.welt.de
http://www.nzz.ch

b) Berichtlisten: Die derzeit wohl beste uebersicht zu der deutschen Berichterstattung zu den Anschlaegen bietet derzeit wohl http://www.netzzeitung.de (mit weiterenLinks)

Besonders interessant sind die eigenen Artikel der Netzzeitung (sehr aktuell, neues, was bei den anderen Zeitungennoch nicht berichtet wird).

Gute Listen mit Berichten zu den Anschlaegen in den Onlineausgaben der Zeitungen, nur nicht so konzentrietert wie bei der Netzzeitung bieten wie ueblich Fireball und Paperball:
http://paperball.fireball.de/service/paperball.fcg?action=query&pg=detail&r= &fmt=.&d0=&d1=&q=%2Bterror*+%2Busa&papers=all&categories=all

http://ticker.fireball.de/ticker/TOPNEWS/2001-09-11T164415Z_01_DEO159404_RTR IDST_0_ODETP-USA-ANSCHLAG-MAERKTE-DIEINS.html

1.2. in englisch:
http://www.washingtonpost.com
http://www.newyorktimes.com
http://www.cnn.com
http://www.bbc.uk.co

Im Zusammenhang mit dem bisher langsam aber unaufhaltsamen Finanzcrash (Aber Artikel http://www.nzz.ch/2001/09/11/bm/page-article7MVNE.html in der NZZ deutet an, dass die Aktienkurse immer noch 2-4 mal so hoch bewertet sind, wie nach Kursgewinnverhaeltnis bisher langfristig ueblich war) sind die Kurse derzeit immer noch mindestens 50% zu hoch), der nun erst einmal einen gewaltigen Schub bekommen hat. Vergleiche dazu die Artikel zu den oekonomischen Folgen des Crashs, z.B.:
http://www.sueddeutsche.de/boerse.htm
http://www.ftd.de/bm/bo/FTDVFTT5HRC.html?nv=tn-rs
http://www.ftd.de/bm/ma/FTD3L4G8HRC.html

Hier weitere Einschätzungen von mir zu diesem aktuellen Thema:

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