Umfassender Bereich:

Social Fiction


Helga Kreutziger im IPRO-Express 1/98:

"Im Zusammenhang mit diesem Gespräch stellten wir fest, daß wir im IPRO-Express doch einmal darüber schreiben sollten, was uns genau am Schreiben hindert, einmal analysieren, warum wir uns nicht versenken können, was uns abhält, niederzulegen, was uns bewegt. Und vielleicht sollten wir unser Befinden einmal aussprechen oder in Geschichten, Bildern und Gedichten ausdrücken - so widersprüchlich das auch klingen mag. Vorwärtsbringen könnte uns doch gerade das Zurückdenken an frühere Arbeiten, das erneute Beschäftigen mit ihnen. Vielleicht kann der Atem der Vergangenheit uns aus der Misere helfen? Oder jemand weiß einen anderen Weg?  


An : V. Jahmo

Forschungsgruppe "Alternative Historizität"

Verursacht durch die Strahleneinwirkung während der langen Lagerung weist der beiliegende Datenträger Strukturschäden auf, der zwei Texte vermischte. Bitte analysieren Sie beiliegende Texte und übermitteln Sie die Herkunft und die Entstehungszeit beider Texte.

Besten Dank im voraus, A. Schlemm, Projekt "Social Fiction"


Ich habe mir gerade die Haare gewaschen, den Zopf geflochten, damit sie sich schön eindrehen - und versuche endlich weiter an meinem zweiten Buch zu schreiben. Mein Computer spinnt mal wieder - der Drucker spuckt vor jeder Datei erst einmal eine Seite mit Kauderwelsch-chiffren aus. Und dann kommt noch mein Mann, der schnell eine Zuarbeit für die Plakate seiner Messeausstellung braucht. Und dann bin ich müde, habe keine Kraft mehr zum Schreiben. Ach, ich wünsch mich auf die Enterprise, auch wenn ich dort sicher nur eine kleine Labormaus wäre...

Wenn ich mein Gesicht im Fensterglas spiegele, sehe ich die grauen Haare nicht mehr - ich sehe wieder ganz jung aus. Aber das macht sowieso nichts. Ich bin zufrieden, wie es ist. Vor dem Fenster habe ich den Monitor. Wenn ich in die Tiefen des Cyberspace eintauche, brauche ich keinen Bildschirmschoner "Starfield Simulation". Hinter dem Bildschirm habe ich dieses schwarze Flimmern tatsächlich und real. In allen Räumen meiner Familie haben wir durch die schrägen Glasscheiben Sternensicht nach oben und wir sehen die Bewegung. Eben habe ich zwei sehr nette Mails von Freunden aus zwei verschiedenen anderen Welten bekommen - und trotzdem sind sich unsere Gedanken sehr nahe...

Im Antiquariat habe ich mir heute ein utopisches Buch gekauft, das 15 Jahre alt ist. Ich hatte es schon damals gekauft - aber es liegt irgendwo in Kartons weit weggestapelt, weil in der Wohnung niemals wieder Platz für meine 3000 Bücher sein wird. Ein wenig fühle ich mich beim Lesen dieser alten Utopien "auf der Suche nach der verlorenen Zukunft", wie eine Schriftenreihe von Hanna Behrend heißt. Aber wie sagte sie in einem Vortrag: "Keine Utopie wird jemals erfüllt - aber es geht auch keine jemals völlig verloren!"

Die alten Philosophen hatten Sorgen! "Das A und O aller Philosophie ist Freiheit" schrieb Schelling. Ich hab mir heute ein paar Stunden mit diesen alten Bücher gegönnt (am Monitor berührt einen das Flair dieser alten Zeiten nicht). Hegel meinte, daß nur der Schmerz über die Zerrissenheit die Menschen zum Philosophieren bringt, zum Versuch, diesen Riß zu überwinden. Warum reizen mich diese alten Schriften nur so? Die Sterne über mir blinken mir zu - einige von ihnen haben schon in Hegels Studierzimmer auf der Erde geleuchtet... Auf Arbeit habe ich heute 8 Stunden lang HTML-Seiten gestaltet, um potentielle Kunden auf die Firmenseite zu locken. Reine Bytes-Friemelei. Manchmal versuche ich ja, konzeptionell zu arbeiten, aber die Geschäftswelt richtet sich nicht nach meinen schönen Plänen - es bleiben wieder nur Hektik und Streß übrig. Und dabei kenne ich meine Schreibtischnachbarin weniger als die neue Partnerin von Perry Rhodan... Es ist schön, daß nicht mehr nur Titel und Veröffentlichungslisten zählen. Mein letzter Vortrag, gemeinsam mit einer Freundin, hat uns viel Spaß gemacht, das freie Reden ist gegenüber den Vor-Lesungen sogar gelobt worden, und ich habe einen guten Vorschlag erhalten, mein drittes Buch zu veröffentlichen. Ich werde versuchen, das Schreiben durch Diskussionen im Cyberspace zu bereichern. Vielleicht haben meine Freundinnen und Freunde auch Lust, etwas beizutragen....

Ich habe mit meiner Tochter einen Film über die wahrscheinliche Situation während und nach der Ökokatastrophe angesehen. Sie ist erst 10 Jahre alt - aber sie muß da durch. Ich kann ihr keine heile, rosa Kinderwelt vorgaukeln, wir brauchen auch sie und ihre Kraft, diese Gefahr abzuwenden... Geht es uns soviel besser als den Leuten auf der Raumstation "Babylon 5", die sich auf den großen Kampf mit den "Schatten" vorbereiten? Nun, bei uns stecken die Schatten in uns selbst. Wir versuchen, uns mit einer immer größeren und schnelleren rosa glitzernden Dingwelt zu umgeben, um die Schatten zu übersehen und füttern sie damit nur umso stärker ..."Ihr seid allein, deshalb hütet euch wie eine Kostbarkeit" wurde vor 10 Jahren mein Lieblingslied (der Gruppe Berluc) - obwohl ich immer weiter an die Existenz anderer Lebewesen im Weltraum glaubte -.

Um den Sternen näher zu sein, bin ich einst hierher gekommen. Gefunden habe ich vor allem Menschen, die mir Freunde wurden. Unser monatlich stattfindendes Treffen im Freundeskreis war wieder mal sehr gut. Seit wir es uns verkneifen, alles "planen" und "durchorganisieren" zu wollen, wächst und gedeiht viel mehr an gegenseitiger Übereinkunft und konkreten Vorhaben. Wenn die früheren Utopien doch bloß auf ihre blöden armeemäßigen Hierarchien verzichtet hätten. Ansonsten könnte man fast sagen, daß wir ihre Utopien bereits leben.

Der Haushalt hat mich wieder mal geschlaucht. Die Wäsche wird zwar von der Waschmaschine gewaschen, aber ich muß sie bedienen, und ihr Zeitrhythmus bestimmt meinen Stundenplan. Vor allem muß ich neuerdings für jede Farbe einen extra Waschgang einlegen, sonst wird alles kunterbunt. Wenn es nicht die Waschmaschine ist, dann der elektrische Backofen oder wieder was anderes. Ach ja, die drei verschiedenen Mülltonnen müssen neuerdings auch noch an verschiedenen Tagen auf die Straße raus gebracht werden. Mit so was braucht sich die Madame Captain auf der Voyager nicht herumzuschlagen...

Eine Freundin hat bei uns übernachtet. Sie wohnt nur einige hundert Meter entfernt, aber es ist bequemer so. Da ich ja nur einen Raum zum Sitzen und Arbeiten habe, mußte sie mit der Liege vorliebnehmen. Es war ein schöner Abend mit Kerzen, Wein und Musik. Unsre Tochter konnte zum erstenmal richtig schön Klavier spielen. Es ist wie bei Picard: Rational-Logisches und Musisches können sich gegenseitig befruchten (am Genialsten ist die Story, bei der er mit der Freundin und dem einrollbaren Klavier in die Röhren kriecht, um die beste Akustik zu finden). Leider sind gerade keine schönen Sterne zu sehen, aber das Glimmern der anderen Fenster ist sichtbar und macht uns klar, daß wir nicht allein sind, obwohl um uns herum nur der Weltraum ist.

Ich habe noch einige Rechnungen gefunden, die wir voriges Jahr von der Steuer hätten absetzen können. Da rächt sich meine Schlampigkeit in diesen Dingen wieder. Zum Glück sind wir auf dieses Geld nicht so sehr angewiesen, aber lange kann man sich solche Nachlässigkeit hier nicht mehr leisten. Ab und an wird auch der Chef von Babylon 5 mit solchen Lappalien belästigt. Beruhigend zu wissen...

Jeder Planet, den wir erforschen, schwebt im unendlichen Kosmos. Noch keiner, den wir kennengelernt haben, war so schön wie die Erde. Seit ich weiß, daß wir alle nur dünnen Boden unter den Füßen haben, ist dieses Stückchen Sicherheit und Schönheit für mich um so wichtiger geworden. Auf der Erde liege ich manchmal auf dem Boden, fühle mich schwerelos im Weltraum schweben - während die Erde an meinem Rücken befestigt ist - sich sacht an ihn schmiegt.

Die Sterne über und neben mir nicken mir zu. Sie begleiten mich seit meinen ersten vorsichtigen Sternbildbestimmungen als Kind. Wenn ich sie - trotz allem - so weit entfernt sehe, bin ich ihnen eigentlich nicht näher gekommen. Aber sie sind immer in mir. Ich bin weit gekommen, aber manchmal verstehe ich die alte Rockband Berluc:"Nach Haus - war so lange fort...".

Heute waren wir im Botanischen Garten. Eine Regenhusche trieb uns in das Tropengewächshaus, und von hier hörte sich der Regen unwahrscheinlich einhüllend-beruhigend an. Dann brach die Sonne in den Tropenwald hinein und ließ die Blüten leuchten. Draußen begrüßten uns die Frühlingsblumen. Seit ein paar Tagen wird die Rückkehr des Winters mit Schnee und Eis angekündigt. Darf ich mich über die kleinen Knospen jetzt gar
 

An: A.Schlemm, Projekt "Social Fiction"

Forschungsergebnis:

Bei der Analyse dieser Tagebuchaufzeichnungen wurde festgestellt, daß alle Eintragungen zweifelsfrei von ein und derselben Person kurz vor dem Jahre 2001 auf dem Planeten Erde, Sonnensystem, angefertigt wurden. Die Fakten und Hintergründe beruhen auf der damaligen Realität (siehe http://www.thur.de/philo/).

Forschungsgruppe "Alternative Historizität" - gez. V. Jahmo

 

Zu weiteren Texten über Utopische Literatur ("SF")

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