Zum Verhältnis von Allgemeinwissenschaften und Philosophie

Umfassender Bereich:


Wenn sich Naturwissenschaftler und Allgemeinwissenschaftler mit weltanschaulichen Problemen beschäftigen, tendieren sie dazu, diese Probleme mit Mitteln ihres eigenen Faches zu lösen, die allgemeinen Fragen damit zu beantworten. Entwicklung ist für Biologen oft nur und immer ein "Mutations-Selektions-Mechanismus". Für Informatiker ist oft alle Gesellschaftlichkeit nur durch den Informationsaustausch bestimmt. Kybernetik konnte noch einen Schritt weitergehen. Sie stellte eine neuartige Wissenschaft dar, die sich nicht mehr auf begrenzte Gegenstandsbereiche anwenden ließ, sondern der die konkrete Natur des Gegenstands egal sein konnte. Ihr "System"-Begriff verlor alle konkreten Qualitäten - konnte aber sinnvolle Aussagen über das Verhalten von allen Dingen, die sich als System bezeichnen ließen, machen. Hier kam zum erstenmal die Debatte über die scheinbare Ersetzbarkeit der Philosophie durch die sog. Allgemeinwissenschaften (oder Strukturwissenschaften) auf. In sozialistischen Ländern fiel in Ablehnung dieser Ersetzung dann längere Zeit die Allgemeinwissenschaft Kybernetik selbst mit untern Tisch. Kybernetik war in sich noch eindeutig begrenzt, weil sie nur Gleichgewichtsprozesse abbilden und steuern konnte und deshalb auf Evolutionsprozesse überhaupt nicht sinnvoll und umfassen anwendbar war.

Das modernere (und umfassendere) Konzept der Selbstorganisation leistet nun Ähnliches wie die Kybernetik, nun auf dem Gebiet der Nicht-Gleichgewichtsprozesse. Auch Evolution wird scheinbar erklärbar. "Etwas springt am Bifurkationspunkt." Was da warum springt, wird ausgeblendet. Qualitäten werden nicht betrachtet, denn das Bedeutsame auch am Selbstorganisationskonzept ist die universelle Anwendbarkeit.

Ich wäre nun die Letzte, die die Bedeutung der Selbstorganisationskonzepte herunterspielen würde, waren sie doch für mich heuristisch wesentlich auf meinem Weg zu einer von Offenheiten ebenso wie von Bedingtheiten geprägten Evolutionstheorie. Zwei Jahre beschäftigte ich mich fast ausschließlich mit dem Thema Selbstorganisation und nicht mehr so sehr mit Philosophie. Ich hätte die ganze Entwicklung des Kosmos und des Lebens auf der Erde in meinem ersten Buch mit Worten der Selbstorganisation "etikettieren" können - aber ich hätte kein Wort zu den wirklichen Prozessen in den qualitativ bestimmten Wirklichkeitsbereichen sagen können. Ich hätte behaupten können, daß da "etwas springt am Bifurkationspunkt", aber WARUM dieses qualitativ konkret Bestimmte an genau diesem Punkt Neues hervorbringen kann... hätte mich nicht interessiert.

Über qualitativ konkret bestimmte Widersprüche hätte ich nichts gewußt, ich hätte nur abstrakt-allgemein über das "Etwas an diesem Punkt" reden können. Es wäre vielleicht auch ein interessantes Buch geworden. Obwohl ich den Begriff "konkret-allgemein" damals noch nicht kannte, hat es mir dann aber mehr Spaß gemacht und mehr Erkenntnisse gebracht, dem "Gang der Dinge" konkret auf die Spur zu kommen. Die erneute Beschäftigung mit der Kosmologie, das Eindringen in biologische Erkenntnisse verhalf mir auch zu der Sicht, daß die Entwicklung nicht durch die schematische Behauptung der Dialektik in die Welt zu bekommen ist und auch nicht durch die Beschwörung von Bifurkationspunkten und "Attraktoren". Aus den konkreten - in der Sache selbst aufzuzeigenden - Widersprüchen ergeben sich Entwicklungsprozesse mit Sprüngen in Zyklen...

Dies macht aber immer noch nur eine Seite der Unterscheidung von Allgemeinwissenschaften und Philosophie aus.

Die Allgemeinwissenschaften glauben zwar auch, nicht ohne die Menschen auszukommen (Prigogine in "Dialog mit der Natur"), aber sie haben per definitionem (als Wissenschaften) andere Aufgaben und Ziele als die Philosophie. Sie reden nur über die Form von Weltprozessen und Mensch-Welt-Verhältnissen. Über den Sinn von Welt und Leben und über Gutes und Schönes vermögen sie (trotz der auch mich überzeugenden Schönheit der aus selbstorganisierten Gleichungen entstehenden Fraktalbilder) nichts zu sagen. Was ihre Vertreter dazu sagen, ist entweder originäre Philosophie (bestenfalls illustriert mit Beispielen aus den Allgemeinwissenschaften), oder gar nichts...

Abbildung: zum Verhältnis von Einzelwissenschaften, Allgemeinwissenschaften und Philosophie

(aus Schlemm, A.: Daß nichts bleibt, wie es ist... )


siehe auch:


siehe auch spätere, (bessere) Texte dazu:
Wichtige gute (wenn auch von den Jahren her meist alte) Literatur hierzu:
  • Hörz, Herbert (2001): Kybernetik als Philosophieersatz? Kybernetik in der DDR zwischen Euphorie und Verurteilung. Manuskript. (Vortrag bei der Gesellschaft für Kybernetik).
  • Warnke, Camilla (1974): Die "abstrakte" Gesellschaft. Systemwissenschaften als Heilsbotschaft in den Gesellschaftsmodellen Parsons, Dahrendorfs und Luhmanns. Berlin: Akademie-Verlag.
  • Warnke Camilla (1974/1981): Relativismus statt Dialektik? Zum Funktionalismus von N. Luhmann und H. Rombach. In: Peter Ruben, Camilla Warnke: Philosophische Schriften I. Aarhus, Paris, Florenz: edition etalon. 1981. S. 131-140.
  • Warnke, Camilla (1977a): Einführung. In: Heidtmann, B., Richter, C., Schnauß, G., Warnke, C., Marxistische Gesellschaftsdialektik oder "Systemtheorie der Gesellschaft"? Berlin: Akademie-Verlag. S. 7-24.
  • Warnke, Camilla (1977b): Gesellschaftsdialektik und Systemtheorie der Gesellschaft im Lichte der Kategorien der Erscheinung und des Wesens. In: Heidtmann, B., Richter, C., Schnauß, G., Warnke, C., Marxistische Gesellschaftsdialektik oder "Systemtheorie der Gesellschaft"? Berlin: Akademie-Verlag. S. 25-68.
  • Warnke, Camilla (1977c/1981): Dialektik und Systemdenken in der Gesellschaftserkenntnis. Thesen. In: Peter Ruben, Camilla Warnke: Philosophische Schriften I. Aarhus, Paris, Florenz: edition etalon. 1981. S. 146-160.
  • Bendmann, A. (1976): Zur Beziehung von Dialektik und General System Theory. In Weltanschauliche und methodologische Probleme der materialistischen Dialektik (Hrsg.: Günter Klimaszwesky). Berlin: Akademie-Verlag. S. 239-257.
  • Schnauß, Gerda (1976): Wesen und Gesetz in der Sicht verabsolutierten Systemdenkens. In Weltanschauliche und methodologische Probleme der materialistischen Dialektik (Hrsg.: Günter Klimaszwesky). Berlin: Akademie-Verlag. S. 70-86.
  • Wahsner, Renate (1991): Das Denken des Widerspruchs in der Naturwissenschaft, der Systemtheorie und der Dialektik der klassischen deutschen Philosophie. In: Das Denken des Widerspruchs als Wurzel der Philosophie.Kolloquium zum 60. Geburtstag von Camilla Warnke. Zentralinstitut für Philosophie. Berlin.



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