Rüdiger Lutz:

Die achte Zukunft:
CORCORAN als Herausforderung an die sanfte Wende

Vor über 20 Jahren formulierte ich sieben Zukünfte aus Hunderten durchgeführter Zukunftswerkstätten und futurologischer Kongresse in der westlichen Welt, die sich als Standardrepertoire der Utopien und Visionen für die nähere und fernere Zukunftsentwicklung bis heute hielten (siehe: "Die sanfte Wende" Berlin 1984). Diesen in ihrer jeweiligen Richtung jeweils positiv und wünschenswert gedachten Szenarien muss nun heute ein neues Zukunftsbild hinzugefügt werden, welches in seiner Grundaussage erst einmal eine Dystopie und Horrorszenario darstellt: CORCORAN ist real ein Höchstsicherheitstrakt des State-Prison Systems in der Wüste Californiens, also ein Gefängnis in der Einöde und Verwahrungsort für die gefährlichsten Kriminellen Amerikas.

Welche futurologische Relevanz hat nun CORCORAN für die globale und lokale Zukunftsgestaltung? Aufgrund der heute weltweit sichtbaren Krisensituation von Naturkatastrophen bis hin zum globalen Terrorismus wird heute ein Ziel allgemein akzeptiert: Sicherheit für Individuum und Gesellschaft steht in jeder Hinsicht ganz vorne auf der Liste zukünftiger, wünschenswerter Entwicklungen. Erst Sicherheit ermöglicht alle anderen Ziele, wie Wohlstand, Wachstum, Freiheit und Frieden. Otto Schily spricht von einer notwendigen "Sicherheitsarchitektur" der Industriestaaten und meint damit die legalen und exekutiven Instrumente aller Länder und Staaten.

CORCORAN wird damit zum Archetyp der Futurologie, erst durch die Etablierung von Sicherheitsmassnahmen gegen Bedrohungen von Aussen und Störungen im Innern kann das System überleben. Die Grenzziehungen sind entscheidend für die Geschützten und die Ausgegrenzten, vor denen man sich schützen muss. In jedem Fall definiert sich das System durch die Grenzen, Mauern und Passagen dazwischen, die es sich gibt und geben muss (Sachzwang!) Wer wird nun interniert und wer ist extern? Wo ist drin und wo ist draussen? Kann ein Staat eine Stadt oder ein Haus absolut einbruchsicher bzw. ein Gefängnis ausbruchssicher gestaltet werden? Diese Fragen prägen die Atmosphäre &s CORCORAN. Wenn ich Teil des Systems bin, habe ich bestimmte Rechte und Privilegien. die klar geregelt sein müssen, auch die Kreditkarte, die IDs und Access-Codes bestimmen Status und Sein jedes Einzelnen.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein, aber CORCORAN regelt beides. Innenwelt und Aussenwelt werden durch das CORCORAN-Design gestaltet programmiert und gebaut. Aus Sicherheitsgründen müssen bestimmte Freiheitsgrade eingeschränkt oder optimiert werden, immer zum Wohle des Gesamtsystems. Dies versteht sich von selbst in Fragen der Verkehrsregelung (Rechts vor Links) oder des Gesundheitsschutzes (Nie ohne Gummi!), aber gilt dies auch für den Innenausbau und die Bewusstseinslage des Individuums? Wie weit geht die CORCORAN - Selbstbestimmung oder Fremdkontrolle? -Vidoeberwachung allerorten erinnert uns an eine ältere Dystopie: "1984" wurde zum Sinnbild diktatorisch-er Schreckensregime, ist aber heute schon ein alter Hut. Die heutigen Formen der Kontrolle und Manipulation sind subtiler und raffinierter geworden, alles im Sinne größtmöglicher Sicherheit. CORCORANS sind heute nicht nur die Gefängnisse und Heime, sondern auch die Freizeitparks, Senioren-Siedlungen und Hotelkomplexe, die Shopping-Malls und Innenstadt-Distrikte, die Schulen und Fabriken, Flughäfen und Bahnhöfe. In allen diesen Environments gilt die Sicherheitsarchitektur der Epoche, der allgegenwärtige Terrorismus erzwingt ein "design for crime", wie es schon in den siebziger Jahren in Fachkreisen erdacht wurde.

Niemand ist mehr sicher, nirgendwo und zu keiner Zeit, dies gilt für die exklusive Elite wie für die unfreiweillig Exkludierten bzw. Internierten, man sitzt entweder in einem goldenen oder einem asozialen Käfig, aber in jedem Falle hat man Mauern, Grenzen und Sicherheits-Gitter um sich herum. Die einzigen Wanderer zwischen den Welten, "die freien Radikalen" sind die Asylanten und Hacker, die mobilsten, aber auch gefährdesten und gefährlichsten Elemente des Systems.

Inside CORCORAN - die Innenausstattung der Machtstruktur und des Gesamtsystems der momentanten SS (Soical Security)

Entsprechend der Entwicklung und Ausformung des Industriekapitalismus und der sozialistischen Diktatur im Osten und Asien ist CORCORAN weitestgehend hierarchisch organisiert, d.h. das materialistisch-mechanistische Paradigma bildet die Seele des Systems und seiner Elemente. Gerade in Krisenzeiten wird dieses eigentlich obsolete Strukturmodell besonders intensiv herangezogen. Obwohl oft in neuem Gewand und modernistischer Oberfläche basiert es auf den Fundamenten hierarchischer Top-Down Architekturen, allerdings erweitert um die unbedingt erforderlichen Dynamisierungen an ihren Rändern und effektiven Kernen. "Flache Hierarchien" werden allzu rigiden Lineartypologien vorgezogen und mobile "Task-Forces" und flexible Teams müssen erstarrte Bürokratien ergänzen oder gar ersetzen. Leitungsfunktionen werden nun moderiert, Befehlsstränge eher begleitet als durchgesetzt, Zwangsmassnahmen durch Betreuungen ergänzt.

Solch sanfte Gewalt tritt nicht mehr brachial und dominant auf, sondern in Verschleierungen und Incentives, also Anreizen und Motivationsschüben. Sachzwänge erleichtern die Rechtfertigung willkürlicher Entscheidungen, die Technokratie wird humanisiert und das Laserschwert auf Paralyse und "numbing" geschaltet. Niemand wird bevormundet oder gar entmündigt, sondern durch Hinweise und Korrekturmassnahmen auf den rechten Weg geführt. Die Weltwirtschaft ermöglicht den Global Players eindeutig die Vorfahrt, ermöglicht aber allen Menschen daran mitzuwirken (z.B. als Ich-AG). Computer heisst nun einfach Microsoft und Getränke aller Art kommen von Coca-Cola. Internet ist Google und alle Autos sind eigentlich Volkswagen und Worldcars, egal von wem und wie produziert. Sämtliche Nahrungsmitteln werden zunehmend durch die Pharmakonzerne patentiert und produziert, alle Energieformen möglichst von immer weniger Transformatoren kanalisiert und geliefert. Information als Vektor wird zum Eigentum der Medien-Multis und die Wissenschaft selbst zum Prosumenten der entsprechenden Agenturen.

Das System generiert seine eigene Existenzberechtigung durch die Einzigartigkeit ihres Bestehens und muss zwangsläufig perpetuiert werden, da es schlichtweg keine Alternativen gibt. Schuld an dieser monokausalen Selbstreplikation ist niemand speziell, sondern das System an sich; somit erübrigt sich jegliche Systemkritik. Die Konsequenz fehlender Innovation ist natürlich die allmähliche Erstarrung und damit Selbstauflösung des Gesamtsystems.

Das Ende der Hierarchie und also der Tod des Drachens zieht sich jedoch in diesem Schneeball- und Pyramidenspiel scheinbar endlos dahin, da immer noch weitere Ressourcen und Kräfte zur Revitalisierung des kranken Systeme herangezogen werden, die Selbstausbeutung ist nicht so schnell abzuschaffen oder aufzulösen - Totgesagte leben länger, der König ist Schach, aber nicht matt.

Ablenkungen und Obskurantismen füllen das Vakuum der sinnentlehrten Lebenswelten, die "Spassgesellschaft" und die Erlebnisökonomie faszinieren durch ihre stroboskopartige Schnelligkeit und manische Hektik revolvergleicher Wiederholungen. Die neue Trance ist keine "relaxed existence", sondern eine Turbo-Ekstase des Irr- und Widersinns, die eine distanzierte Betrachtung und nüchterne Tatsachenerfassung gar nicht mehr will und zulässt. Das ständig Neue überstrahlt die ewigen Wahrheiten, die sowieso niemand mehr wissen will - zu lange wurden sie schon bemüht, sie sind "out".

Eine strukturelle Systemveränderung ist nicht angesagt, weil dadurch das bestehende, sichere CORCORAN infrage gestellt würde, und damit möglichen Gefahren und Bedrohungen Tür und Tor geöffnet wären, diesem Risiko will sich niemand aussetzen. Die Sicherheitsgürtel sind viel zu fest gezurrt und der Crash-Text wäre für das System viel zu gefährlich. Aussteigen geht sowieso nicht und Alternativen sind nicht in Sicht - also heisst es: Weiter in die Zukunft mit festem Blick auf den Rückspiegel geschaut - besser kann es nicht werden.!

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- Diese Seite ist zu Gast in "Annettes Philosophenstübchen" 2005/06 - http://www.thur.de/philo/gast/ruediger/lutz18.htm -