Rüdiger Lutz:

Dystopien, "unmögliche Zukünfte" und "educated guesses"

Bei der Entwicklung möglicher, wünschenswerter Zukünfte steht auch immer die Plausibilität des jeweiligen Szenarios zur Debatte. Wann aber fällt eine gedachte Zukunft aus dem Rahmen, ist so abwegig, dass man sie nicht weiter verfolgen sollte? In der praktizierten, gegenwärtigen Zukunftsforschungs-Praxis sieht es meist so aus, dass eine Dreier- oder Vierer-Lösung anvisiert wird. Also ein Extremszenario vor und eines nach dem schon (hidden) angedachten Ziels und eins mitten hinein - also Doom or Boom or Middle of the road. Dieser Dreisprung ist vor allem in politischen Zirkeln beliebt, aber nicht sehr fruchtbar. Die Extremszenarien dienen als Abschreckmanöver und das zentrale Ziel war vorhersehbar, also wenig innovativ, sondern eher eine Tauto-logie zum Parteiprogramm. Demgegenüber wird hauptsächlich oft aus wissenschaftlichen Instituten ein smör-gasboard von Zukünften offeriert, das in Hunderte von Szenarien münden kann. Dies ist dann für den überfor-derten Laien recht unverdaulich und nicht mehr handhabbar, weil die blosse Komplexität und Kompliziertheit so vieler Variationen eines Themas schnell ermüden. Weniger ist da oft mehr! In der Zukunftswerkstattarbeit erwiesen sich 5 -10 Szenarien als noch verträglich, was man auch wahrnehmungspsychologisch erklären kann (7 +/- 2). Auch die Ausgrenzung "unmöglicher Zukünfte" regelt sich durch einfache demokratische Abstim-mung, wobei natürlich die Toleranz und Grundstimmung einer Gruppe den Ton angibt. "Menschenrettende UFO's im Falle einer Öko-Katastrophe' fallen bei einer Lehrerguppe wohl weg, aber bei einem Team von Art-Directors für visuelle Medien ist das vielleicht ein Hammer-Hack.
Schwierig wird es auch bei der Einschätzung eines Szenarios als wünschenswerte Utopie oder als erschre-ckende Dystopie. So kann Computopia als Segen oder als Fluch gesehen werden, je nach Design der Aus-führung: Ist es Orwell's Alptraum "1984" oder der "Hacker-Ethik" (z.B. M.cKenzie Wark) verpflichtet ? Darüber entscheidet der gedachte Vektor, der dem Szenario-Designer vorschwebt, er gibt die Intention und Richtung vor. Beim Szenario und realen Artefact "Corcoran" wird es überdeutlich. Obwohl offensichtlich eine isolierte Verwahranstalt kann es unter heutigen Umständen für viele als "safe haven" und Sicherheits-Architektur gesehen werden. Schon in den siebziger Jahren formte sich ein neues Planungsfachgebiet. "De-sign for Crime" lieferte die Grundlagen für die bauliche Gestaltung sicherer und Kriminalitätsreduzierter Städte und Siedlungen. "Safety First" lautete die Parole und viele Nachbarschaften und Stadtteile verlangten nach entsprechenden Massnahmen zur Vorbeugung durch Strassenplanung, verstärkter Beleuchtung und totaler Videoüberwachung. My home is my castle wurde zur einbruchssicheren Trutzburg gegen die gefährliche natürliche und soziale Umwelt. Viele Altenparadiese sind heute nach diesen Vorstellungen erbaut worden. Die Bürger mauern sich freiwillig selbst ein, bauen ihr eigenes Gefängnis aus reinem Überlebens-trieb. Eine Schreckensvision, ein Alptraum wurde zum Wunschtraum: Corcoran wird zum Vorbild der Städ-tebauern. Doch erinnern wir uns. Die heutigen Städte begannen ebenfalls als Festungen und Verteidigungs-anlagen, die "Civitas" ermöglichte erst die Zivilisation, wie wir sie heute kennen. Aus der Not, der Beengt-heit und Dichte kamen die Errungenschaften der Moderne: Kanalisation und Abfallentsorgung, verdichtetes Bauen und Wohnen (bis zum Wolkenkratzer) Spezialisierung des Handwerks und Zentralisierung des Han-dels kamen erst in den "freien" Reichsstädten" zum Tragen. Heute, nach erfolgreicher Verstädterung aller Länder und Zersiedelung der Landschaft erleben wir also nun ein "archaic revival" der dezentralen, kleinen Einheiten in der Größenordnung von Dörfern und Wohn-Siedlungen. So ist z.B. heute ein moderner Super-markt auf der grünen Wiese größer als ein mittelalterliches Dorf und entwickelt sich zum alltäglichen Le-bensumfeld vieler Bürger, junge und ältere Menschen verbringen oft jeden Tag in einem Shopping-Center, wo es Restaurants, Kinos und Freizeiteinrichtungen gibt, die "Mall" wird zur Welt der nichtproduktiven, großen Klasse der Nur-Konsumenten gegenüber den Produktiven, die am Arbeitplatz in den hochverdichte-ten Stadtzentren ihre Zeit abarbeiten. Alle drei Sektoren, Produktion, Konsumtion und Wohnen können als Corcorans gestaltet werden, verbunden durch "sichere" Strassen, Wege und Bahnen (Bus, Bahn, Schiff) und koordiniert durch ein ausgeklügeltes Regelungssystem (GPS u.a.).
Durch die neuen luK-Medien wird diese Form der Umweltgestaltung aber auch schon wieder aufgelöst. High-TechInfrastrukturen benötigen keine zentralen Orte mehr, Sub-Urbia kann genauso eine Firma beher-bergen wie die Innenstadt und modernste Produktionstechniken werden immer flexibler und mobiler - die Produktion kommt zum Konsumenten, der jetzt "Prosumer" (A.Toffler) wird, allerdings haben wir für diese neuen Organisationsmodelle noch keine adäquaten Strukturen geschaffen, alle unsere gesellschaftlichen Institutionen basieren auf dem Industriezentrierten Produktionsschema, welches allmählich obsolet ist. Gegenüber der nicht wünschenswerten Dystopie eines notwendigen, zwingend erforderlichen Corcoran bildet sich somit ein neues Bild der Stadt heraus, das gegenwärtig noch in seinen Pioniertagen und Kinderschuhen steckt. Es ist wohl kaum die nostalgisch anmutende Landkommune der Hippiebewegung, sondern, und das ist ein "educated guess", eine nachhaltige Stadtentwicklung, eine Ökopolis, die natürliche und soziale Umwelt so organisiert, dass ein Leben in Freiheit und Sicherheit in verträglichen Dimensionen erlaubt.

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