Der Zukunftsforscher und Systemdesigner Rüdiger Lutz über seine Odyssee durch bundesdeutsche Anstalten der Sozialpsychiatrie und seine persönliche "spiritual emergence" in diesen CORCORANS seines neuen "achten" Zukunftsszenarios nach den sieben Zukünften der "Sanften Wende"

Haben Sie Visionen, Professor Lutz ?

Diese Frage wurde mir zu Beginn meines Aufenthaltes in einer psychiatrischen Einrichtung vom zuständigen Psychiater gestellt. Als ich gerade beginnen wollte etwas über Zukunftsforschung und meine Arbeit zu erzählen, unterbrach er mich routiniert: " Und Sie haben Halluzinationen?" was ich verneinte, worauf er in seinem Schema weiterfragte: "Sind Sie suizidal?". " Nein, nein" antwortete ich "Sie verstehen mich falsch - ich bin nicht gefährdet, ich bringe mich nicht um, ich bin nur in einem persönlichen Bewusstseinsbildungsprozess, den man "spiritual emergence" nennt, und dadurch bin ich in diese Situation und leider in die falsche Institution gekommen".
Doch das interessierte schon nicht mehr, er hatte keine Zeit und keine Lust sich mit Geistesgestörten länger zu unterhalten. Er hatte einen Gerichtsbeschluss über mich und wenn ich nun schon mal hier war, sollte ich das auch so bleiben, es wird ja sicherlich Gründe dafür geben. Dies war mein Eindruck bei mehreren solchen "Anhörungen" in der Sozialpsychiatrie. Wenn Du dort angekommen bist, dann gehst Du nicht mehr so leicht wieder weg, das "System" hat dich erfasst. Als Zukunftsforscher und Planer war ich Consultant to the WHO, der Weltgesundheitsorganisation und habe im Projekt "healthy cities" auch Einrichtungen der Psychiatrie in ganz Europa besichtigt. Aber da sah ich nur die neuesten Vorzeigeprojekte des jeweiligen Landes, nicht die Schattenseite der Sozialpsychiatrie, wie es sie überall gibt.
Wenn Supermodell Kate Moss wegen ihrer Kokaineskapaden in "Meadows" eincheckt, kommt sie nach fünf Wochen wieder "geheilt" heraus, wenn ein weniger prominentes und begütertes Mädchen mit Kokain erwischt wird, kommt es in die Sozialpsychiatrie und nicht so schnell wieder raus. Das ist der Unterschied zwischen CORCORAN light und CORCORAN dark, beides sind geschlossene Systeme, aber eben mit ganz unterschiedlichen Vorzeichen.
Ich nannte dieses Zukunftsbild CORCORAN weil gerade zu meiner Einlieferungszeit der Prozess über Michael Jackson in Kalifornien lief und er vor einer Zukunft im wirklichen CORCORAN, dem Höchstsicherheitsgefängnis des California State Prison Systems stand. Dort in der Wüste Kaliforniens wäre er dann mit Gefangenen. wie Charles Manson wohl für immer verwahrt worden - bislang gilt es als absolut ausbruchssicher. Zu seinem Glück befand ihn die Jury in allen Punkten für unschuldig - er gehört eben zur Kaste der CORCORAN light Fraktion.
Ebenso wurde zu meiner Zwangsinternierungszeit Prinz Ernst-August von Hannover wegen lebensbedrohlichem Alkoholgenuss in der Klinik an der Bauchspeicheldrüse operiert, natürlich in Monaco und war nach l0 Tagen auch wieder in Feiheit. Niemand könnte ihn zwangseinweisen - Er ist auf der "light side of the system".
Ich dagegen lernte die "underside of psychiatry" kennen und erlebte damit eine uns allen bevorstehende Zukunft, die sich aber mehr und mehr schon heute abzeichnet. Es ist die Diktatur der Sicherheitssysteme, alles muss unter Kontrolle und ständiger Beobachtung sein. Freiheit ist gefährlich und wird deshalb eingeschränkt, eben bis hin zur Freiheitsberaubung und Sicherheitsverwahrung.
Bei mir begann alles sehr unspektakulär. In meiner Zukunftswerkstatt in Freiburg besuchte mich ein Sozialarbeiter und wollte sich umschauen. Dies ist nicht ungewöhnlich, denn meine Zukunftswerkstätten sind immer recht offene Orte der Begegnung und des Austausch über futurologische Themen. Ein paar Schritte weiter ist das Goethe-Institut, die mir manchmal ihre Gastdozenten aus aller Welt schickte zur kurzfristigen Übernachtung und nicht weit ist auch die Uni mit ihren Studenten.
Sozialarbeiter und Sozialpädagogen habe ich in meiner Zukunftswerkstatt-Arbeit sowieso immer dabei und deshalb war der Besuch von Herrn Meier ( er könnte auch Schulze oder Müller heißen - Namen sind der Redaktion bekannt) nichts Besonderes. Als er dann noch erwähnte, dass er für die Stadt arbeite, fand ich das gut und gerade richtig, weil ich ja an dem anstehenden Projekt "bio-valley", der sozial-ökologischen Entwicklung der Achse Freiburg-Basel mitwirken wollte und deswegen Kontakt mit der Stadt suchte.
Doch seine "hidden agenda" hat er mir nicht verraten, nämlich dass er mein Betreuer werden und mich schließlich in die Sozialpsychiatrie verbringen sollte. An so etwas habe ich nicht im Traum gedacht, ich fühlte mich frei in Freiburg und ging meinen Projekten nach, wie ich es bisher überall getan habe, entsprechend offen und bereitwillig gab ich ihm alles, was er wollte, Einblicke und Zugänge.
Aus Kalifornien hatte ich ein sehr persönliches Zukunftsprojekt mitgebracht, nämlich das "spiritual emergence network", das ich im Esalen Institute in Big Sur bei ihren Gründern Stanislaw und Christina Grof kennengelernt habe und als Selbsterfahrungsprojekt nun durchlebte. Dazu muss man wissen, dass Dr. Stan Grof der berühmteste LSD-Forscher der Welt ist und durch seine Arbeit mit Tausenden von Menschen den individuellen Erweckungsprozess transpersonaler, psychologischer Stadien studiert hat. Auch seine Frau Christina hat diese "spritual emergeny" durchgemacht und ist heute als international renommierte Therapeutin insbesondere durch ihre holotrope Atemtherapie bekannt. Auch hat sie durch ihren Mann den eigenen Prozess vollzogen und ihre frühere Alkoholsucht überwunden.

Für mich war dies für meine Zukunftsforschung relevant und für meine ganz persönliche Entwicklung von großer Bedeutung. Wenn wir heute immer vom Pradigmenwechsel reden, von neuem Denken und ganzheitlichem Bewusstsein, dann ist das nicht nur eine neue Theorie, ein Konzept oder Modell, sondern ein existentieller Wandlungsprozess der eigenen Person, des Ichs in seiner Welt. Gregory Bateson, den ich auch nur von Esalen her kannte (eigentlich war er Regent der University of California at Berkeley), hat in "Geist und Natur" und "Schritte zu einer Ökologie des Geistes" dieses neue Paradigma skizziert. Fritjof Capra (Wendezeit), Charlene Spretnak, Ernst Ulrich von Weizsäcker und viele andere Pioniere des neuen Paradigmas stehen in dieser Tradition der großen Bewusstseins âEvolution (wie ich es mal nannte) in unserer Milleniumszeit.
Die stattfindende Konvergenz elektronischer Medien, von Chip bis Internet, die rasante Entwicklung ökologischer "sanfter" Technologien und die Verbreitung bewusstseinsverändernder, neuropsychologischer Verfahren und psychedelischer Substanzen, alle diese schon für sich speziell genommen innovativen Transformationen verschmelzen nun zu einer großen planetaren TranCeformation, die eine neue Qualität in unserer industriell-materialistischen Welt entstehen lässt. An dieser TranCeformation arbeite ich nun seit Jahrzehnten in meinen Zukunftswerkstätten und Future Labs mit vielen Menschen zusammen und erlebte nun auch die Emergenz der spirituellen Energie in meinem Allerinnersten.
Für die Rechts- und Sozialbürokratie wurde ich aber dadurch ein Fall für die Psychiatrie und somit interniert. Der äußere Anlass für eine potentielle "Eigengefährdung" war mein Alkoholkonsum, woraus man messerscharf schloss, dass ich psychisch gestört sein muss, also geisteskrank sei. Statt wie von mir gewünscht in eine Klinik transpersonaler Ausrichtung gehen zu können, wurde ich in die Verließe unserer bundesdeutschen Sozialpsychiatrie gesteckt, eben ein CORCORAN, der "dark side of the moon". Therapie und Behandlung gab es dort sowieso nicht, sondern reine Verwahrung - von Heilung und Regeneration war dort keine Rede, sondern eher von Gehorsam, Unterordnung, also Konditionierung.
Anfangs hatte ich keinen Ausgang, sondern war beschränkt auf ein Zwei-Mann-Zimmer und dem dazugehörigen Flur. Keine Außenkontakte, keine mir gewohnte Infrastruktur. kein soziales Leben. Für mich als bislang freiem Wissenschaftler ein Horror, aber mit System. Vom System war oft die Rede, weil ja niemand persönlich verantwortlich war, sondern immer nur das System an sich. Ich könnte auch keinen Schuldigen benennen. sondern es war gerade die Komplexität und Wechselwirkung aller Beteiligten, die das Ganze nicht fassbar machten. Der französische Philosoph Foucault hat dies in seinen Schriften sehr deutlich herausgearbeitet, wenn er Macht und Herrschaft als schwer zu identifizierende Akteure bezeichnete, während es immer relativ einfach ist, die Ohnmächtigen und Unterdrückten zu benennen. Die CORCORANS der Gegenwart sind auch nicht als Gefängnisse projektiert worden, sondern unsere Welt gerät allmählich dahin.
Unter dem Deckmantel der "Sicherheit-für-alle"-Maxime werden unsere Gebäude und Plätze, Strassen und Parks, Hotels und Wohnungen, Bahnhöfe und Flughäfen allesamt zu CORCORANS, die videoüberwacht, GPS-kontrolliert und baulich einbruchs- und ausbruchssicher gestaltet werden. Die letzte Dimension, die dazu noch assimiliert werden muss, ist das individuelle, persönliche Bewusstsein. Es ist ein Kampf um die Köpfe, so formulierte es der Systemwissenschaftler H.W.J.Rittel, neben Bateson, Churchman und Popper einer meiner Gurus dieses Genres.
Dass der anstehende Paradigmenwechsel keine einfache Angelegenheit darstellt, ist heute wohl jedem denkenden Mitglied unserer Gesellschaft bewusst. Wir reden seit Jahrzehnten von den Grenzen des Wachstums, vom notwendigen Umdenken und Umschwenken in Ökonomie, Ökologie und Technologie. Dennoch machen wir kaum Fortschritte, eher verschlimmern wir unsere fatale Situation. Auch meine damalige, hoffnungsvolle "sanfte Wende" wird täglich härter, weil wir noch den alten Kurs fahren. Armageddon, Apokalypse und allgemeine Apathie prägen die öffentliche Diskussion unserer Tage.

Aber es sind auch Anzeichen für eine Emergenz einer archaischen Wiedergeburt des Lebens in den realexistierenden CORCORANS zu beobachten. Die planetare TranCeformation hat schon eingesetzt und wehrt sich gegen die einengenden Feinde der Freiheit. Ob es die orange, leise Revolution in Osteuropa ist, die direktorganisierte Zivilgesellschaft oder die ökologischen Bioniere in Amerika, Asien und Australien, Afrika und Russland. Auch Internet hat emanzipatorischen Charakter, wie auch die lokalen Agendagruppen und Selbsthilfe-Netzwerke - überall ist ein Aufbruch sichtbar, noch kein Megatrend, aber eine Grundströmung ist vorhanden in Richtung Überleben und Nachhaltigkeit. Die Drachen und Dinos des Industriekapitalismus werden schwächer und sehen ihrem Untergang entgegen, sie sitzen zwar im goldenen Käfig, eben einem elitären CORCORAN, aber eben doch nur ein Käfig, den sie nicht verlassen können ohne "Eigengefährdung", sie sind Gefangene im eigenen System. Die Mauern und Barrieren müssen fallen, die Auflösung aller geschlossenen Systeme ist angesagt. Draußen in" der Welt und drinnen in unseren Hirnen und Herzen, welche wir öffnen müssen zur Verbindung mit den vorhandenen weiteren Dimensionen des Universums, dessen Teil wir sind. Eine solche TranCeformation bewirken und erfahren wir selbst, sie ist die nächste Entwicklungsstufe der Evolution, schon lange gedacht und immer wieder verlacht, aber einfach nicht gemacht, das ist die Crux und das Leid unserer Zeit.
Diese Crux muss nun zum Flux werden, das statische Bild des gefrorenen Terrors muss zum dynamischen Lösungsprozess tranCeformiert werden, Shiva muss wieder tanzen können.

Rüdiger Lutz

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