Sieg bis zum Ende?

Die Zukunft "ist noch nicht geschrieben. Aber einige Aussagen über grundlegende Tendenzen sind möglich. Da wir die Zukunft selbst mitgestalten, ist es auf jeden Fall günstiger, dies mit dem Wissen der Trends und der Möglichkeiten der Einflußnahme zu tun - als lediglich kurzfristig agierend, ohne Verständnis für Zusammenhänge.

Viele Menschen hoffen, daß es einfach so bleibt, wie es ist. Sie haben sich arrangiert und befürchten, daß Veränderungen ihre Lage nur verschlechtern können. Sie berufen sich darauf, daß die jetzige Wirtschafts- und Lebensweise die effektivste und produktivste sowie demokratischste sei, die die ökologischen Probleme sicher auch noch in den Griff bekommen würde. Nach vielen Jahrtausenden des Heranarbeitens an diese Gesellschaftsform sei jetzt das "Ende der Geschichte" erreicht, was durch die Erfolglosigkeit der versuchten Alternativen bewiesen sei. Science Fiction wie die Perry-Rhodan-Reihe untermauert diese Ansicht, denn in ihrer Zukunft dominiert weiterhin eine kapitalistische Warenwirtschaft - diesmal ausgeweitet auf galaktische Maßstäbe. Hier sind dann auch die ökologischen Maßstäbe unerheblich geworden, denn Rohstoffe können beliebig importiert, Müll exportiert, umweltschädliche Produktion auf andere Planeten ausgelagert werden.

Allerdings sprechen gegen diese "weiter-wie-bisher"-Ideologie viele Tatsachen, die andeuten, daß die Menschheit vor dem Erreichen einer solchen kosmischen Zukunft auf ihrem Planeten selbst die Lebens- und Entwicklungsfähigkeit untergräbt, weil ihre Kraftentfaltung immer mehr destruktive Folgen zeigt (auch bei Perry Rhodan wurde die Zukunft durch das Auffinden eines Raumschiffes von überlegener Technik auf dem Mond beschleunigt und gelang nicht von selbst).

Das Leben innerhalb jedes Zustandes verändert die Bedingungen des eigenen Agierens irreversibel bis zu einem solchen Maß, daß die bisher vorherrschenden Prinzipien, Regeln und Gesetzmäßigkeiten nicht mehr funktionieren, weil ihre Bedingungen sich aufheben und sie den neu entstandenen nicht mehr entsprechen (vgl. Schlemm 1996, S. 199f.). Dies gilt auch für die Gesellschaft, bei der ihre Reproduktion soziale wie stofflich-energetisch-informationelle Veränderungen mit sich bringt, welche die Bedingungen für die Reproduktion selbst radikal ändern. Jede Reproduktionsform erreicht schließlich ihren "Grenznutzen".

Angesichts unübersehbarer Unsinnigkeiten der weltbeherrschenden Ökonomie wird immer öfter eingesehen:

 

"Wir erkennen nun allmählich, daß die Wirtschaftstheorie und -werte relativ, nur innerhalb eines bestimmten Bereichs im Hinblick auf Raum/Zeit/System wirksam, durch bestimmte Bedingungen begrenzt und nur unter diesen gültig sind." (Henderson, H., 1985).

 

Abgesehen von den "objektiven" Anzeichen der Erschöpfung der (zumindest teilweise) konstruktiven Rolle der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise stünde den darunter leidenden Menschen auf jeden Fall eine kritische Rolle mit dem Recht auf Veränderung zu. Es muß nicht erst "theoretisch ableitbar" sein, daß diese Gesellschaftsordnung abgelöst werden darf/muß!

Destruktivkraftentwicklung

Die kapitalistische Produktionsweise mag - historisch gesehen - insgesamt einen Beitrag für die Menschheitsentwicklung geleistet haben. Die Entwicklung der produktiven Kräfte durch ihre Mechanismen gibt eine Grundlage, die zur materiellen Reproduktion notwendige lebendige Arbeit zu reduzieren, was den Menschen endlich wieder mehr Lebenszeit freigibt. (Dabei ist nicht zu vergessen, daß der Kapitalismus den Arbeitsstreß in der uns bekannten Form erst erzeugte!).

Die kommunikative Vernetzung von entfernten Orten sowie moderne Produktionsformen (flexible Automatisierung) führen zur Möglichkeit von neuen Lebens- und Produktionskonzepten, die eher eine "Assoziation freier Menschen" ermöglichen als Fließbandfabriken im Volkseigentum.

Damit verbunden und darüber hinaus führt die erreichte Produktivität der Arbeit insgesamt zu einer neuen Etappe der menschlichen Entwicklung, die sich aus der Ökonomisierung des gesamten Lebens befreien kann (Nach-Ökonomische Gesellschaftsformation).

Zu vermuten ist zwar, daß diese Entwicklung nicht notwendig den Kapitalismus und gleich gar nicht mitsamt seinen konkreten Verlaufsformen (Faschismus) "objektiv erfordert" haben. Ich denke, auch frühere Revolutionen hätten andere Produktions- und Lebenskonzepte entwickeln können - wir können heute nicht sagen, daß sie alle "objektiv" aussichtslos gewesen wären, weil halt die "Bedingungen noch nicht reif" gewesen waren.

So, wie die Vergangenheit und Gegenwart nun einmal aussieht, bleibt uns nicht viel mehr, als wenigstens jetzt die Grenzen der herrschenden Gesellschaftsform und Produktionsweise zu bestimmen:

"Die Produktion als Selbstzweck ist fortschrittlich, solange sie auf die auf die Zwecke irgendwelcher lebendiger Menschen als ihre Grenze stößt,... Durch die Produktion neuer Bedürfnisse, Produkte und Genüsse, also durch die Produktion von Emanzipationsgeschichte" (Pohrt 1995, S. 182/183).

Diesen Fortschrittswert hebt der reale Kapitalismus aber selbst auf, indem er seine Profitrealisierung nicht mal mehr wenigstens "nebenbei" an die Gebrauchswerteigenschaften seiner Produkte bindet, sondern über die Finanz"innovationen" Mehrwert aus Optionen auf zukünftige Arbeit (und Rohstoffe etc.) zieht.

Diese "Erfindung" bewahrt ihn auch davor, mangels Ausbeutungserfolg einfach zusammenzustürzen. Dabei werden seine Kräfte inzwischen eindeutig zu Destruktivkräften, und das nicht nur in Form der Waffenentwicklung:

"Nicht mehr die (immer noch vorhandene) Ausbeutung von Arbeitskraft wird dabei zum übergreifenden Moment, sondern die existentielle Substanzvernichtung der Menschheit, die sich darstellt als rapide Externalisierung der Geschäftskosten des Systems..." (Kurz 1993, S. 1993).

Finanz"innovationen" gegen den Fall der Profitrate

Der an dieser Stelle oft angeführte tendenzielle Fall der Profitrate beschreibt, daß der gesamtgesellschaftliche produzierte Mehrwert relativ zum vorgeschossenen Kapital (als Summe des variablen Kapitals in Form von Löhnen und des konstanten Kapitals in Form von Kosten für Arbeitsgegenstände und Arbeitsmittel) abnimmt (abnehmender Grenznutzen). Ricardo stellte deshalb schon die These auf, daß die Profitrate bei fortschreitender Kapitalisierung sinken wird. Marx hat nun nicht etwa daraus den Untergang des Kapitalismus abgeleitet - sondern das Gesetz sogar abgeschwächt (als nur tendenzielles). Dieser Gefahr (aus Sicht der Kapitaleigner) der fallenden Profitrate (bei durchaus steigender Profitmasse) zu begegnen, bringt gerade die Dynamik in die kapitalistische Entwicklung. Einerseits führte gerade die gesteigerte Produktivkraft der Arbeit zum Fall der Profitrate - andererseits muß sie dann jedesmal neu gesteigert werden, um die Rate wieder (kurzzeitig) zu erhöhen. Diese sich aufschaukelnde Produktiv- (und -Destruktiv)kraftentwicklung ist der Motor der Dynamik des Kapitalismus (vgl. Bensch 1995).

Tatsächlich gibt es innerhalb dieser Aufschaukelungszyklen inzwischen aber eine neue Situation.

"Alle Welt bettelt in Umkehrung der früheren Postulate darum, normal ausgebeutet zu werden, und bietet sich hoffnungsvoll dar für die "Eroberung", aber das Kapital ist impotent geworden."

(Kurz 1993, S. 11/12).

 

Wie manch impotenter Mensch hat es aber nichtdestoweniger noch genug Macht, die Verhältnisse auf der Welt entscheidend zu gestalten, produktive Ressourcen zu vernutzen und zu zerstören. Seinem Niedergang überlassen - hinterläßt es einen toten Planeten und keine Hoffnung auf Neues und deshalb auch keine Freude bei denen, die wie Kassandra den endgültigen Kollaps vorhersehen.

Widerspruch zwischen Ökonomie und natürlicher und gesellschaftlicher Umwelt

Die Globalisierung führt immer mehr dazu, daß die lokalen Voraussetzungen der Produktion immer weniger von den Unternehmen selbst reproduziert werden brauchen. Neben dem Widerspruch zwischen produktiven Kräften und Produktionsverhältnissen entsteht ein Widerspruch zwischen dieser Produktionsweise)1 und den nicht mit reproduzierten Bedingungen der Reproduktion (Frauen, Natur, Infrastruktur) (nach Connor 1998). Anders gesprochen entsteht ein "Widerspruch zwischen kapitalistischer Systemlogik (Mehrwertproduktion, Kapitalakkumulation, Produktionsanarchie, geplanter Verschleiß etc.) und der Eigenlogik der natürlichen Lebensumwelt (biotische Kreisläufe, Regnenerationszyklen, Belastbarkeits- und Ressourcengrenzen etc.)" (Krauss 1997).

Angesichts dieser prekären Situation steht die Frage nach der Art und Weise der weiteren Menschheitsentwicklung verschärft vor uns. Es mag sein, daß sich die Agonie unserer Zivilisation noch einige Jahrzehnte hinzieht - in der Art, wie es moderne Cyber-Anti-Utopien (z.B. John Brunner) beschreiben. Es kann auch sein, daß eine oder mehrere aufeinanderfolgende (selbsterzeugte) Katastrophen den Niedergang beschleunigen, was eigentlich in jedem Moment geschehen kann (Tschernobyl...). Welche anderen Optionen haben wir noch?

Betrachten wir, welche produktiven Kräfte am Ende des 20. Jahrhunderts aktuell sind (Menschen mit den Produktionsmitteln der IuK, flexibler Automatisierung etc.), so zeigt sich, daß die Marxsche Überhöhung des werkzeugmaschinellen Industriesystems verabschiedet werden muß.

Marx und Engels forderten ausgehend von werkzeugmaschineller Produktion noch im Manifest: "Gleicher Arbeitszwang für alle, Errichtung industrieller Armeen, besonders für den Ackerbau." (Marx, Engels 1848, S. 481).

Dies wäre in der modernen Produktion eine verhängnisvolle Produktivitätsschranke und nur vergleichbar mit den unsäglichen Arbeitsformen in den Weltmarktfabriken der Schwellenländer.

Die angesichts der Massenarbeitslosigkeit oft bedauerte Produktivität moderner Produktionsmittel gibt historisch erstmalig die Möglichkeit, demokratisch, ökologisch und ohne Arbeitszwang das Notwendige erarbeiten zu können. Eine neue Lebensweise müßte sich nicht mehr "um die Arbeit herum" und vorwiegend ökonomisch gesteuert organisieren, sondern sich in einer "nachökonomischen" Gesellschaft neue Lebensziele stellen (wobei diese Ziele für verschiedene dezentral-vernetzte Lebensgemeinschaften durchaus unterschiedlich sein könnten).

Diese Aussage unterscheidet sich natürlich von den diskutierten Sozialismus-Modellen, in denen noch von einem wie auch immer gearteten Arbeitszwang "zur Errichtung der materiell-technischen Basis des Kommunismus" ausgegangen wird. Welche "materiell-technische Basis" soll denn noch geschaffen werden??! Wenn sich die grundlegende Bedürfnisstruktur nicht ändert, würde auch ein solcher Sozialismus weiter den kompensatorischen Bedürfnissen)2 hinterherlaufen und die Kompensationen nie abschaffen.

"Die Existenz des Kapitals eröffnet die Möglichkeit, die Geschichte unter die Bestimmung der Vernunft zu setzen. Ob diese Möglichkeit von den Menschen wahrgenommen wird, ist dann allerdings keine logische, sondern eine praktische Frage." (Pohrt 1995, S. 271).

Das Überschreitende: die menschlichen kreativen Kräfte

Die Geschichte ist deshalb keine Wiederholung des Immerselben, weil die gesellschaftliche Reproduktion in ihren Prozessen ihre eigenen Bedingungen irreversibel verändert. Einerseits wird z.B. die Umwelt irreversibel verändert und erzwingt u.a. eine Neuanpassung oder führt zum Untergang - andererseits verändern sich auch innere Charakteristika. In der Geschichte sind es hier die produktiven Kräfte, die wesentlich zu einer gerichteten Bewegung führen. Dazu gehören die Produktionsmittel. Marx erkannte, daß die Lebensform der Menschen davon bestimmt wird womit sie wie arbeiten. Dazu gehören aber auch die produktiven Kräfte und Fähigkeiten der Menschen selbst. Und wenn Kriege den größten Teil der materiellen Produktionsmittel zerstört hatten, waren es diese entwickelten produktiven Fähigkeiten der Menschen, die historisch nicht mehr zurücknehmbar waren, sondern in die Zukunft eingebracht wurden (und auch wieder die Produktionsmittel schufen).

Deshalb sehe ich die wichtigste Bewegung, die über die gegebene Gesellschaftsform hinausweist, in der Entwicklung der Fähigkeiten, Bedürfnisse und Kräfte der Menschen. Diese Entwicklung ist einerseits gegeben durch die steigenden Anforderungen an die Menschen in der Produktion ("Toyotismus") - andererseits wird diese "Triebkraft" immer weniger Menschen wirklich zuteil, weil die Mehrheit der Menschen aus der Arbeit ausgeschlossen oder wieder in erniedrigender Arbeit gefangen ist.

Die Grenzen der kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweisen liegen nicht mehr nur in der sozialen Verteilungsfrage und der ökologischen Überlebensfähigkeit.

Auch die Frage nach dem Eigentum an "Produktionsmitteln" muß stärker qualitativ hinterfragt werden. Es geht nicht nur darum, die jetzigen Produktionsmitteln in das Eigentum der arbeitenden Menschen zu überführen - sondern es muß neu gefragt werden: welche Produktionsmittel brauchen wir überhaupt wofür und wo? Nur 5% aller vorhandenen Autos bewegen sich im Moment im Straßenverkehr - die anderen zu bauen, könnten wir uns sparen und der Besitz an diesen Fabriken kann uns schnuppe sein. Die kasernenartig geführten Textilfabriken in Guatemala und anderswo wären abzubauen, damit wir hier in Europa unsere Textilien wieder selber herstellen und die Menschen dort sich um ihre Bedürfnisse kümmern können.

Hinzukommt, daß die "Herrschaft des Kapitals... bestimmbar ist als Zwang, nichts Ernsthaftes und Vernünftiges zu tun" (Pohrt 1995, S. 29), worunter mindestens ebensoviele Menschen meistens stumm leiden, wie unter materiellem oder monetärem Mangel. Diese verdrängten Bedürfnisse nach selbstbestimmter Tätigkeit ernst zu nehmen, sie unter den jetzigen Bedingungen z.B. bei den Kindern und Jugendlichen aktiv zu fördern, mag revolutionärer wirken als mancher politischer Aufruf und manche Demonstration.

Es sind ja nicht nur neue Bedürfnisse, die an die Grenzen der jetzigen Gesellschaftsform stoßen - auch die "ganz normalen" Bedürfnisse sind unter diesen Bedingungen nicht mehr zu realisieren: "Jeder unserer nachhaltigen Wünsche stößt an Systemgrenzen: Familie haben und in der Stadt leben, das ist etwas für Millionäre geworden; der Wunsch nach sinnvoller Arbeit ist ohne ihre radikale Umverteilung nicht mehr zu stillen, der Wunsch nach Gesundheit nicht im herrschenden Krankenwesen, der Wunsch nach Heimat nicht in aufgezwungener Dauermobilität, der Wunsch nach Muße nicht in einer Welt, in der es immer schwieriger wird, allein zu sein." (Greffrath 1998).

Daß die Menschen als Arbeitskraftverkäufer nicht ihr ganzes SELBST abgeben, sondern dieses der Vereinnahmung durch die erdrückende strukturelle Macht des Kapitalismus entgehen kann, ist die Voraussetzung dafür - aber keine Garantie.

"Die Revolution setzt immer die Menschen als historische Subjekte schon voraus, obwohl sie dies erst in der Revolution wirklich werden." Und: "Die Existenz dieses Subjekts ist... ihrerseits nicht logisch zu begründen" (Pohrt 1995, S. 277) - sondern nur praktisch zu leben.

Damit sind wir auch an den Grenzen der Theorie angelangt. Ich kann nicht mehr hoffen, wie Marx schlüssig die Kraft zu bestimmen, die uns mit Sicherheit retten kann.

Mit der Gefahr (des destruktiven Untergangs der Zivilisation) wächst auch die Möglichkeit anderer Entwicklungswege. Das Rettende wächst mit der Gefahr - verkündete Hölderlin. Allerdings setzt es sich nicht von allein, quasi automatisch durch.


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