Wesenslogik

Die Bedeutung Hegelscher Begriffsmomente ergibt sich aus deren Stellung im Gesamtsystem des Begriffs. Die Wesenslogik befindet sich zwischen Seins- und Begriffslogik (siehe die Kapiteleinteilung in der "Wissenschaft der Logik" und dem ersten Band der "Enzyklopädie").

1. Warum Seins- und Begriffslogik?

Die Philosophie des "Denkens ohne Arg" konnte noch annehmen, dass richtiges Erkennen und Denken die Welt, so wie sie ist, zu erfassen vermag. Denken und Welt kamen in der Erkenntnis zusammen. David Hume erschütterte diese Arglosigkeit. Aller Glaube an Thatsachen oder wirkliches Dasein beruht lediglich auf einem Gegenstand, der dem Gedächtniss oder Sinnen gegenwärtig ist, und auf einer gewohnheitsmässigen Verbindung zwischen diesen und andern Gegenständen... (Hume Untersuchung, S. 44) Immanuel Kant musste sich nun fragen, unter welchen Bedingungen objektiv gültige Erkenntnis überhaupt möglich sein kann. Er stellte fest, dass Sinnlichkeit und Verstand zusammen kommen müssen. Vor aller Erfahrung (a priori) vorausgesetzte Verstandesbestimmungen ("Kategorien") sind notwendig, um Erkenntnis zu ermöglichen, und diese treffen auf Anschauungen. Kategorien und Anschauungen werden schließlich (über den Schematismus) miteinander vermittelt. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. (Kant KrV, S. 95, B 75). Allerdings können wir damit nur die Welt, wie sie sich "für uns" darstellt, erkennen.
Es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstände unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mögen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne affizieren. (Kant Prolegomena, S. 41, § 13, Anm. 2)

Hegel trägt die Kritik des Erkenntnisvermögens mit, will aber die Trennung in erkennbare Welt "für uns" und das "Ding an sich" aufheben. Er geht aus vom Satz des Parmenides "Dasselbe ist Denken und Sein". Diese Einheit ist eine zwischen Seinslogik und Denklogik - fundamental für Hegelsche Dialekik, denn bei ihm lässt sich nicht trennen zwischen "Welt da draußen" und "Denklogik in unseren Köpfen". Trotzdem verschwinden die Besonderheiten von Seins- und Denklogik nicht in ihrer Einheit, sondern sind durchaus unterscheidbar. Daraus ergibt sich die Unterscheidung (nicht metaphysische Trennung!) von Seins- und Begriffslogik bei Hegel.

Die Seinslogik interpretiert das Denken vom Sein her, die Begriffslogik interpretiert das Sein vom Denken her. (Wladika 1999)

2. Warum Wesenslogik?

Würde Hegel bei dieser Zweiteilung stehen bleiben, würde nicht deutlich, wie ihre Einheit konkret vermittelt ist. Es stünde dann nebeneinander: a) die Unterscheidung von Seinslogik und Begriffslogik (z.B. in Form der philosophischen Disziplinen "Metaphysik" und "formale Logik") und b) die Behauptung ihrer Identität. Die Behauptung reicht aber nicht aus. Die Einheit muß gezeigt werden, die konkrete Vermittlung muß deutlich werden. Dies geschieht in der Wesenslogik. Das Wesen ist deshalb zu verstehen als Übergehen, bzw. Vermitteln des Seins in den Begriff. Aber Sein und Begriff sind hier erst äußerlich vermittelt. Der Begriff, das Denken hat hier erst in der Form des "Wesens". In Bezug auf das Wesen erweist sich das Sein als bloße Erscheinung, als bloßer Schein. Zwischen Sein/Schein und Wesen gibt es eine Beziehung - aber eine Beziehung ist noch keine (begriffslogische) Vermittlung.

3. Die Grenze der Wesenslogik

Wenn wir davon sprechen, dass Sein und Begriff im Wesen "erst äußerlich" vermittelt, d.h. aufeinander bezogen sind, müssen wir auch sehen, dass es eine andere Art von Vermittlung gibt. Die nichtäußerlicher (begriffslogische) Vermittlung wird ausgehend vom Begriff das Sein und das Wesen als Momente des Begriffs ableiten. Als solche Momente sind beide nicht mehr nur als Unterschiede, bzw. Gegensätze aufeinander bezogen, sondern es wird begriffen, dass das Sein auch den Begriff umschließt und der Begriff das Sein. Dies ist in der Wesenslogik noch nicht der Fall. Hier sind Sein und Denken (als Wesen) unabhängig voneinander vorausgesetzt und nur nach ihrer Beziehung gefragt, während in der Begriffslogik beide aus der begriffslogischen Form des Denkens abgeleitet, als vermittelt nachgewiesen werden.

Der Mangel der Wesenslogik im Vergleich mit der Begriffslogik besteht vor allem darin, dass die jeweiligen Gegensatzmomente als unabhängig voneinander gesetzt und erst "danach" miteinander in Beziehung gesetzt erscheinen. Die Momente beinhalten sich nicht gegenseitig, wie in der Begriffslogik. Deshalb wird in der Wesenslogik über Elemente, bzw. Teile (in einem Ganzen) gesprochen statt von Momenten einer (begriffenen) Totalität. Die Teile stehen in Beziehung zueinander - das erzeugt das Ganze. Die Teile werden dabei als selbständige angenommen. Als Momente einer Totalität sind die Momente keine selbständigen mehr, sondern sind durch die Totalität und durcheinander vermittelt. Das bedeutet: Es wird verständig gedacht (noch nicht vernünftig), indem als Element/Teil ein fixiertes Moment als Selbständiges genommen wird. Die Abstraktion von der inneren Widersprüchlichkeit (d.h., dass jedes Moment das andere auch enthält) bedingt die Statik der Wesenslogik (nicht umsonst ist das Wesen das Stabile, unveränderlich Bleibende gegenüber der entstehenden und vergehenden daseienden Dinge auf der Seinsebene). Das Wesen ist Verhältnis, Ordnung, "noch ganz äußerliche Einheit [...] noch nicht der freie Begriff" (Hegel WdL I, S. 445).

weitere Unterschiede
zwischen
Seins-, Wesens- und Begriffslogik
Solche Verhältnisse, bei denen einerseits das Allgemeine aus dem Besonderen, andererseits das Besondere aus dem Allgemeinen abgeleitet werden kann, sind noch nicht die "ganze Wahrheit", bei der das Einzelne als Besonderheit die Allgemeinheit in sich hat und als Allgemeinheit im Besonderen existiert. In dieser noch verstandesmäßigen Fixierung der Gegensätze ist der Übergang zur Vernunft noch explizit nicht vollzogen. Auch die einfache Summe verstandesmäßiger Reflexionen ist noch nicht ausreichend, sondern Vernunft ist eine neue Qualität der Logik - eben der Begriffslogik.

Während die Interpretation der Naturwissenschaften oft mit wesenslogischen Reflexionen auskommt (solange nicht die gesellschaftliche Praxis der wissenschaftlichen Tätigkeit untersucht wird), ist die begriffslogische Ebene für gesellschaftstheoretische Untersuchungen unabdingbar.

Im Rahmen der Wesenslogik kann daher das Lebendige und v.a. auch der Mensch nicht abgehandelt werden... (Wladika 1999l). Trotzdem bedeutet die Notwendigkeit des Weitergehens in die Begriffslogik KEINE ABWERTUNG des wesenslogischen Denkens. In der "Phänomenologie des Geistes" ) findet Hegel durchaus auch starke Worte der Würdigung dieses Denktypes: "Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten oder vielmehr der absoluten Macht." (Hegel Werke Bd. 3, 36) vgl. auch: Begreifendes Denken als Besserwisserei?

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Literatur:
Hume, David (Untersuchung): Eine Untersuchung in Betreff des menschlichen Verstandes. Übersetzt, erläutert und mit einer Lebensbeschreibung versehen von J. H. von Kirchmann. Berlin: L. Heimann, 1869 (Philosophische Bibliothek, Bd. 13).
Kant, Immanuel (Prolegomena): Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 1979
Kant, Immanuel (KrV): Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Orig.-ausg. Hrsg. von Raymund Schmidt. Hamburg: Felix Meiner Verlag 1993
Wladika, Michael (1999): Einführung ins Denken. Erläuterungen zu Hegels Logik. Band I. In: http://www.t0.or.at/~leohemetsberger/Logik/logikbuch%20Band%201/Band%201%20Index.htm
Wladika, Michael (1999): Einführung ins Denken. Erläuterungen zu Hegels Logik. Band I. In: http://www.t0.or.at/~leohemetsberger/Logik/logikbuch%20Band%201/Wiederholung%20IX.htm


 

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