Bertrand Russells

 
Widerlegungsversuch gegenüber Hegel

Russells logischer Atomismus und seine Grundlagen
Bertrand Russell war seit 1896 selbst Hegelianer. Er wollte eine vollständige Dialektik der Naturwissenschaften ausarbeiten mit dem Beweis, dass die gesamte Wirklichkeit ihrem Wesen nach geistig sei (Russell 1992, S. 41). 1898 studierte er in Cambridge und gemeinsam mit G.E. Moore begann er gegen die Philosophie von Kant und Hegel zu revoltieren. Moore trat für die Unabhängigkeit der Tatsachen von ihrem Erkanntwerden ein.

Ich stimmte dieser Absicht enthusiastisch zu, wollte aber darüber hinaus noch einige rein logische Fragen geklärt wissen, die Moore nicht ganz so brennend interessierten. (Russell 1992, S. 10) Russells Anliegen bestand darin, soviel Gewissheit wie möglich zu erhalten. Den größten Anteil an Gewissheit fand er in der Logik und Mathematik. Von der Außenwelt können wir nicht einmal wissen, ob es sie wirklich gibt. Also strukturierte Russell seine Anschauung von der Welt von der Logik und Mathematik her. Die Welt muß, wenn es sie denn gibt, so strukturiert sein, dass Logik und Mathematik funktionieren. Aus diesem Grund kann Hegel nicht Recht haben: Bei Hegel sind die Dinge nichts ohne ihre Relationen - nach Russell machen diese internen Relationen Mathematik aber unmöglich. Mathematik funktioniert nur für externe Relationen. Daraus ergibt sich die Auffassung, dass alles Komplexe aus einfachen Dingen bestehen muß, die nur durch (äußere) Relationen miteinander verbunden sind (vgl. Russell 1992, S. 65-66). Daraus ergibt sich, dass die analytische Methode, speziell der logische Atomismus angemessen ist. Das bedeutet, "dass alles, was über einen Komplex ausgesagt werden kann, sich durch Aussagen über die Bestandteile des Komplexes und ihre wechselseitigen Beziehungen so zum Ausdruck bringen läßt, daß der Komplex als Ganzes überhaupt nicht mehr erwähnt zu werden braucht." (Russell 1992, S. 161)

Daß der logische Atomismus nicht konsequent durchführbar ist, wies Wittgenstein später nach (1953/1977). Russell selbst begründete mit der Antinomie der Mengenlehre die Grundlagenkrise der Mathematik und trotz aller Bemühungen kann nicht eingeschätzt werden, dass eine "abschließende Begründung der Mathematik" (Poser 1992, S. 221), die vor allem in Richtung der Forderung nach Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit der Axiome gesucht wurde, gefunden wäre. Was den Anforderungen einer solchen Mathematik entspräche, "existiert in einem platonischen Seinsbereich" - nach Gödel gibt es "immer einen inhaltlichen Überschuß, der sich der vollständigen formalen Erfassung in einem Axiomensystem entzieht" (ebd.). Hier behält wohl doch Hegel Recht: Dieses Formelle muß daher in sich viel reicher an Bestimmungen und Inhalt sowie auch von unendlich größerer Wirksamkeit auf das Konkrete gedacht werden, als es gewöhnlich genommen wird. (Hegel WdL II, S. 167f.) Diese Begrenztheit der (formalen, analytischen) Alternative zu Hegel macht schon darauf aufmerksam, dass die aus ihr folgenden Argumente auch nicht "100%ig wasserdicht" sein müssen... Aber wenden wir uns dem konkreten Argument zu:

Das Argument gegen Hegel
Russell bezieht sich in seiner Kritik auf Hegels Bestimmung des Urteils. Die allgemeine Form eines Urteils ist die Aussageform "S ist P" (mit S: Subjekt, Gegenstand - P: Prädikat, Eigenschaft). Hegel interpretiert das "ist" als (später als widersprüchlich aufgezeigte) Identität:

Die soeben aufgezeigte Identität, daß die Bestimmung des Subjekts ebensowohl auch dem Prädikat zukommt und umgekehrt, fällt jedoch nicht nur in unsere Betrachtung; sie ist nicht nur an sich, sondern ist auch im Urteile gesetzt, denn das Urteil ist die Beziehung beider; die Kopula drückt aus, daß das Subjekt das Prädikat ist. (Hegel WdL II, S. 308) Auf diese Weise ist das Subjekt mit dem Prädikat identisch und umgekehrt. Es zeigt sich aber auch, dass beide nicht genau dasselbe sind. Einerseits ist das Subjekt eine Totalität von mannigfaltigen Bestimmtheiten, von denen das (genannte) Prädikat nur eine ist (S ist nicht nur P, Der Apfel ist nicht nur grün, sondern auch rund und sauer.). Das Subjekt ist dann gegen das Prädikat das Allgemeine. Andererseits kann man auch sagen, dass ein Prädikat ("Rundsein") noch anderen Subjekten zukommt (P ist nicht nur S. Auch ein Ball, ein Planet etc. ist rund.); es ist also gegenüber dem besonderen Subjekt (der Apfel, der Ball, der Planet) das Allgemeine. Diese zwei Bestimmungsmöglichkeiten (1. dass S und P identisch sind und 2. dass sie unterschiedlich, sogar gegensätzlich sind) bleiben nicht neutral einander gegenüber stehen. Sie entwickeln sich als Widerspruch - hin zum Schluß. Im Schluß zeigt sich das vorherige gegensätzliche Verhältnis von Besonderem und Allgemeinen vermittelt im Einzelnen. Die Einzelheit schließt sich durch die Besonderheit mit der Allgemeinheit zusammen; das Einzelne ist nicht unmittelbar allgemein, sondern durch die Besonderheit; und umgekehrt ist ebenso das Allgemeine nicht unmittelbar einzeln, sondern es läßt sich durch die Besonderheit dazu herab. (Hegel WdL II, S. 355) Als Einzelnes ist in diesem Kontext nicht das unmittelbar Daseiende (als vereinzelte Erscheinung) zu verstehen, sondern ein Besonderes, das das Allgemeine verkörpert; das als Besonderes, d.h. historisch gewordenes zugleich seinem allgemeinen Begriff entspricht (vgl.Hösle 1998, S. 235). Ich breche die Entwicklungsreihe der Gedankenbestimmungen hier ab.

Russell bezieht sich auf die Erkenntnisse der modernen Logik und betont, dass Hegel das "ist" des Prädikats mit dem "ist" der Identität verwechsle.

Infolge dieser Verwechslung glaube er "Sokrates" und "sterblich" müßten identisch sein. Aus der Tatsache, daß sie verschieden sind, schließe er nun nicht - wie jeder andere es tun würde -, daß sich irgendein Fehler eingeschlichen haben müsse, sondern vielmehr, daß hierin das zu Ausdruck komme, was er "Identität der Gegensätze" nennt." (Russell 1914/1926, S. 50) Seit der analytischen, speziell sprachphilosophischen "Wende" der Philosophie seit Anfang des 20. Jahrhunderts wird besonders viel Wert darauf gelegt, spachliche Unklarheiten zu beseitigen. Wittgenstein meinte sogar: Eine ganze Wolke von Philosophie kondensiert zu einem Tröpfchen Sprachlehre. (Wittgenstein 1953/1977) Frege (1879/1980), der Begründer der modernen Logik, hatte die Zuordnung eines Prädikats neu bestimmt. Er ging dabei davon aus, dass man jede quantorenfreie Aussage zerlegen könne in einen Nominator (was früher das Subjekt war) und "den Rest", der sich dann als Bezeichnung für den Nominator, also eine Eigenschaft auffassen läßt. Auch hier treffen wir darauf, dass die Analytizität, d.h. die Zerlegbarkeit vorausgesetzt ist. Unter dieser Voraussetzung hat Russell gegen Hegel natürlich Recht. Es klingt schon überzeugend: Hegel schlampt sprachlich-logisch, seine ganze Sprachakrobatik kann als Unsinn weggewischt werden! Sind wir uns jedoch der Voraussetzungen bewusst, die dahinter stecken? Hat Russell wirklich damit Recht, dass alle Prozesse der Welt auf diese Weise einfach zerlegbar sind? Daß es keine emergenten Eigenschaften, kein Ganzes zu Teilen gibt?

Gilt die Voraussetzung des Arguments?
Wir stoßen darauf, dass Streitpunkte in scheinbar nur logischen Fragen (ob die Fregesche oder die Hegelsche Form des Urteils angemessen sind), die sich als methodische Fragen erweisen (Dialektik oder Analytik), davon abhängen, wie wir die Wirklichkeit auffassen. Während die positivistischen und die analytischen Konzepte voraussetzen, die Welt bestünde aus der Ansammlung vereinzelter, unmittelbarer Erscheinungen, geht die Dialektik davon aus, dass jeder Bereich der Welt sich als umfassender Entwicklungszusammenhang für seine Momente darstellt und selbst Moment umfassenderer Entwicklungszusammenhänge ist. Für beide Weltsichten unterscheiden sich die Methoden grundsätzlich, so dass die Entscheidung nicht auf der Ebene der rein logischen Argumente liegt, sondern in deren tieferer Begründung zu suchen ist. Der Vorteil der Dialektik ist, dass sie ihre Voraussetzungen mit thematisiert und nicht verschweigt...

Warum die Beschränkung auf formale Logik?
Ein weiterer Mangel der Kritik Russells besteht darin, dass er ein Moment der Hegelschen Philosophie herausgreift und dabei die Komplexität Hegelscher Kategorien vernachlässigt, die sich mit dem von ihm genannten Problem beschäftigen.
So differenziert Hegel sehr nachdrücklich zwischen dem "Sein als Kopula des Urteils" und beispielsweise der Kategorie des "Existierens" (die Unmittelbarkeit in der Sphäre des Wesens), des Daseins (der Unmittelbarkeit in der Sphäre des Seins) und der Objektivität (der Unmittelbarkeit in der Späre des Begriffs) (vgl. WdL II, S. 406f.; zu den Sphären).
Auch an anderer Stelle erwähnt Hegel, dass der Sinn eines "ist" nicht einfach gegeben ist, sondern auf vielfältige Weise verstanden werden kann (vgl. Enz. II, S. 12).

Zu Hegels Auflösen der Welt in Beziehungen
Letztlich steht die Frage danach, wie das Allgemeine zum Gegenstand philosophischen Denkens gemacht werden kann. Dazu sind aus der Geschichte der Philosophie mehrere Möglichkeiten bekannt.

Typisch für das antike Denken war es, Dinge und ihre Eigenschaften vorzustellen und die substantivierten Eigenschaften (das Bewegliche, das Wahre, das Gute, das Schöne) als Gegenstand des Denkens/Wissens zu betrachten. Aristoteles unterschied die Wissenschaften nach ihren Gegenständen: "das Unbewegliche", das "Bewegte, aber Unvergängliche" und das "Vergängliche" (Aristoteles, Physik, S. 44).

Neuzeitliches Denken ist dagegen davon gekennzeichnet, dass nicht mehr das Subjekt das Unbewegte ist, dem die Bewegung dann als Eigenschafts-Prädikat zukommt, sondern dass die Bewegung ist selbst als Bewegung zum Gegenstand geworden. Die Bewegung selbst wird zum Subjekt (Wahsner 1996, S. 55). Dies geschieht z.b. in der Physik dadurch, dass jene Größen, die als Subjekte in den Gesetzesaussagen vorkommen, nicht mehr Eigenschaften substantivieren, sondern Verhaltensweisen. Die (träge) "Masse" substantiviert das Verhalten des Trägseins gegenüber Krafteinwirkungen, die Bewegungsänderung hervorrufen. Das Verhalten ist - im Unterschied zur Eigenschaft - immer auf Anderes bezogen, nie nur auf das isolierte Ding. Bei der schweren Masse ist das noch deutlicher: Schwer sind physische Körper nur gegeneinander. Wie bereits Cassirer (1910/1990) analysierte, ist der Bezug auf die Relationen wesentlich für naturwissenschaftliches Denken.

Daraus entsteht auch die Tendenz, die Gegenstände zu vernachlässigen, zwischen denen die Relationen existieren und alles in Beziehungen aufzulösen (Strukturalismus...). Besonders die Marxsche Kritik an Hegel (Kapital I, S. 27) bezieht sich auf dieses Auflösen des Gegenständlichen, "Materiellen".

Literatur:

Aristoteles: Physik. Übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von C. H. Weiße, Leipzig: Johann Amb-rosius Barth, 1829.
Cassirer, Ernst (1910/1990): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfrage der Erkenntniskritik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (reprograf. Nachdruck .d. 1. Aufl., Berlin 1910).
Frege, Gottlob (1879/1980): Funktion, Begriff, Bedeutung. Fünf logische Studien. Göttingen (Kleine Vandenheock-Reihe Bd. 1144)
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (WdL II): Wissenschaft der Logik II. (entspricht Werke 6). Frankfurt/Main: Suhrkamp. 1986
Hösle, Vittorio (1989): Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität. Hamburg: Felix Meiner Verlag
Marx, Karl, (Kapital I): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band. In: Karl Marx Friedrich Engels Werke, Berlin 1988, Band 23
Poser, Hans (1992): Stichwort "Mathematik". In: Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. Hrsg. von Helmut Seiffert und Gerard Radnitzky. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 206-214
Russell, Bertrand (1914/1926): Unser Wissen von der Außenwelt. Leipzig: Verlag von Felix Meiner 1926 (engl. Orig. 1914)
Russell, Bertrand (1992): Philosophie. Die Entwicklung meines Denkens.
Wahsner, Renate (1996): Zur Kritik der Hegelschen Naturphilosophie. Über ihren Sinn im Lichte der heutigen Naturerkenntnis. In: HEGELIANA. Studien und Quellen zu Hegel und zum Hegelianismus. Herausgegeben von Helmut Schneider. Band 7. Frankfurt am Main, Berlin, Bern, New York, Paris, Wien. Peter Lang Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag
Wittgenstein, Ludwig (1953/1977): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt


 
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