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Süddeutsche Zeitung -NRW - 4.1.03

"Stille Revolution" in Köln
Gegen den Strom
Alternative basteln ohne Sozialhilfe an ihrer Utopie

Von Carsten Kempf

Köln - Es war vor zwei Jahren, als Heinz Weinhausen "nicht mehr funktionieren wollte". Sein Berufsleben schien in bester Ordnung. Weinhausen arbeitete in einem Kindergarten, "fünf Tage die Woche, öffentlicher Dienst, unkündbar". Doch dann tat er etwas, worüber andere angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt nur den Kopf schütteln können. Weinhausen kündigte und richtete sich dort ein, wo die "stille Revolution gelebt wird, wo alles Arbeit ist, und deshalb nichts mehr Arbeit ist."

Der Ort der "stillen Revolution" befindet sich nicht in einem fernen unbekannten Land, sondern im Kölner Stadtteil Mülheim. Hier liegt viel Industriegelände brach und die Arbeitslosenquote bei 14 Prozent. Weinhausens Dorado verbirgt sich hinter den Backsteinmauern einer einstigen Spirituosenfabrik. Hier tüftelt er jeden Morgen mit seinen 20 Mitstreitern an einer Alternative zur kriselnden Erwerbsgesellschaft, und die heißt "Sozialistische Selbsthilfe Mülheim" (SSM). Die "stillen Revolutionäre" sind zwischen einem und 60 Jahren alt, linke Haudegen versammeln sich hier genauso wie Punks oder studierte Politologen. Auf dem Areal, das die SSM 1979 besetzte, arbeiten und wohnen geistig Behinderte, ehemals Obdachlose und Ausgegrenzte mit jenen zusammen, die sich von den starren Regeln der Gesellschaft behindert fühlen. Sie verbindet ihre gemeinsame Aversion gegen eine Wirtschaftsordnung, die sich, wie sie meinen, durch Konkurrenz, Konsum und Gehalt definiert.

Vergilbte Friedenstaube
Ihren Lebensentwurf nennen sie "gelebte Utopie", aber auch die muss organisiert werden. Erste Regel ist die allmorgendliche "Abgabe der Arbeitsberichte", zu der Sven auffordert. Sven ist heute eine Art Ansprechpartner und Koordinator und heißt deswegen "die Verantwortung". Diese Position wird jeden Tag von der Runde neu bestimmt. Sven notiert die tägliche Arbeitsaufteilung, auf die sich die Anwesenden verständigen, die an einem großen Tisch unter einer vergilbten Friedenstaube sitzen.
Der 28-jährige Sven ist seit zwei Monaten bei der SSM. Bis vor einem halben Jahr studierte er Archäologie und arbeitete nebenher als freier Mitarbeiter in einem Verlag. Doch dann war seine Mitarbeit nicht mehr gefragt, die einzige Geldquelle brach weg. Als er keine Perspektive mehr sah, erinnerte er sich an die SSM, die er aus Kindertagen kannte, weil er mit dem Nachwuchs der Besetzer zur Schule gegangen war. Sven fragte an "und das Tor stand mir offen", erzählt er. Nun packt er für den alternativen Lebensentwurf an - ob in der Küche oder dem Kulturzentrum, das die SSM in Mülheim allmählich auf den Weg gebracht hat. Bei der SSM gilt alles als gleichwertige Arbeit: das Hoffegen genauso wie die Kinderbetreuung, das Entrümpeln ebenso wie die politische Mitarbeit in Foren zur Stadtteilentwicklung. "Dadurch kann sich jeder einbringen", meint Weinhausen. Allerdings: Ohne Kapital kann auch die SSM nicht wirtschaften. Ihr Geld verdient die Gruppe mit Umzügen und dem Entrümpeln von Wohnungen. Noch Brauchbares wird selbst verwendet oder im hauseigenen Möbel- und Kleiderladen verkauft. Mit einem kleinen Unterschied: Wenn die SSM mit ihrem Transporter ausrückt, folgt sie ihrem eigenen Takt "und nicht den Marktgesetzen von Leistungs- und Zeitdruck", so Weinhausen. Auch der geistig behinderte Freddy soll mithelfen können. Das Credo: Gerade Schwächere sollen Selbstständigkeit lernen.

Keiner der Mitglieder bezieht Sozial- oder Arbeitslosenhilfe, was der Stadtkasse laut SSM jährlich 100000 Euro an Sozialleistungen erspart. Das selbstbestimmte Wirtschaften bedeutet ein Leben mit minimalen Mitteln. Aus der gemeinsamen Kasse, in die alle Erträge fließen, bekommt jeder zweimal wöchentlich das gleiche Geld. Doch nicht alles wird bei der SSM geteilt. Jeder hat Anspruch auf eigenen Wohnraum.

Prädikat "Zukunftsprojekt"
Weinhausen liefert für den alternativen Lebensentwurf den ideologischen Überbau. Sie würden in Mülheim nach dem Wirtschaftsmodell des amerikanischen Soziologen Frithjof Bergmann leben. Praktisch sieht das so aus: "Ein Drittel unserer Arbeit leisten wir durch Entrümpelung und Möbelladen am Markt, ein Drittel unserer Bedürfnisse decken wir je nach Fähigkeit durch gegenseitige Hilfe ab und das anderer Drittel der Zeit wenden wir für das auf, was wir wirklich tun wollen." Weinhausens persönliche Passion ist der Aufbau des "Instituts für Neue Arbeit", das der SSM gegründet hat. Dort finden Seminare und Diskussionen mit Wissenschaftlern, Politikern und ähnlichen Initiativen aus ganz Deutschland statt. Die SSM-Praxis wird mit theoretischen Aufsätzen und Artikeln untermauert. Rainer Kippe, eines von zwei verbliebenen Gründungsmitgliedern, schreibt zur Zeit eine Doktorarbeit über die Initiative. Das soll zeigen: Die SSM ist kein Hort für weltfremde Sonderlinge, sondern eine Gemeinschaft von Überzeugungstätern, die konsequent das Wort Solidarität und Integration leben, "und das sozial- und krankenversichert", sagt Weinhausen. Ein Leben, das aber offenbar an die Substanz geht und nicht für jedermann ist. Neben Kippe ist nur noch dessen ehemalige Lebensgefährtin Ranne von Anfang an mit dabei.

Von den alternativen Gruppen, die aus der Studentenbewegung der sechziger Jahre hervorgegangen sind, haben sich bis heute in Köln zwei andere gehalten, weitere gibt es in Bielefeld und Dortmund. Die Ursprungsidee war, obdachlosen Jugendlichen, die aus Heimen entflohen waren, Unterschlupf zu bieten, meist gegen das Gesetz. Für die Kölner Stadtverwaltung war die SSM lange ein illegaler Reizpunkt, weil sie verfallene Lagergebäude besetzte. Nach einem jahrzehntelangen Kampf unterschrieb die Stadt schließlich 1993 einen Mietvertrag mit der SSM. Die Selbsthilfe darf seither die dank Renovierungsarbeiten erbrachten Leistungen 14 Jahre lang mietfrei abwohnen.

Aus Parteien und Kirchen fand die SSM immer wieder Fürsprecher. Das Düsseldorfer Sozialministerium zeichnete die Initiative sogar wegen ihres sozialen Engagements als "Zukunftsprojekt" aus. Ob Hilfe zur Selbsthilfe oder angewandte Stadtteilarbeit: Die SSM erfüllt seit Jahrzehnten jene Aufgaben, die auch das 1999 begründete Bund-Länder-Projekt "Soziale Stadt" propagiert. Dieses Projekt fördert bürgerliches Engagement und Selbsthilfe in gebeutelten Stadtteilen wie Mülheim mit großen finanziellen Aufwand.

 

 

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