Interview 2006

Im Frühjahr 2006 war ich für einen Abendvortrag und ein intensives Diskussionswochende nach Stuttgart eingeladen. Es war ein wunderschönes Treffen mit vielen netten und interessanten Menschen.

 

In diesem Rahmen interviewte mich Mandus C. für die Zeitschrift "Kritische Masse". Das Ergebnis möchte ich hier vorstellen.

(Fotos von Thomas Bernhardt, Stuttgart)

Annette Schlemm ist politische Philosophin; in insgesamt drei Büchern, mehreren Beiträgen in politischen und wissenschaftlichen Büchern sowie Vorträgne und Diskussionsworkshops entwirft sie Utopien für eine freiere, gerechtere und nachhaltigere Gesellschaft. Unter anderem arbeitete sie zur Zeit der EXPO 2000 bei der Zukunftsutopie "Freie Menschen in freien Vereinbarungen" als Alternative zu dem konzern- & elitengesteuerten Zukunftsmodell der EXPO. In dem Buch "Surfende Schmetterlinge im politischen Chaos" wendet sie die Chaostheorie aus der Physik auf die Politik an. Beruflich lernte sie Landwirtschaft, studierte Physik und promovierte in Philosophie mit einer Arbeit über den Wirklichkeitsbezug von Naturgesetzen. Sie betreibt im Internet das „Philosophenstübchen“ (www.philosophicum.de).

Mir begegnete die Philosophin im Umweltzentrum Stuttgart, wo sie für den AK "Soziale Ökologie" im März 2006 einen Vortrag über "Marktwirtschaft gegen Natur" und mehrere Workshops leitete.

Was bedeutet "der Sinn des Lebens" für dich? (Also: Erstmal individuell im Gegensatz zu Leben allgemein... Was ist der Sinn für dich? Macht es Sinn, überhaupt nach einem Sinn zu suchen?) Was ist der Schlüssel zum Glück? (gerade in Bezug auf Lebensgestaltung...)

Es gibt keinen Sinn des Lebens, der uns vorgegeben wäre. Aber welchen Sinn wir unserem Leben geben können, hängt durchaus von der gerade vorliegenden historischen Situation ab, von der Welt, in die wir hineingeboren wurden und die wir dann in unserem Leben selbst mit verändern. Für mich bestand der Sinn meines Lebens zuerst darin, möglichst viele faszinierende Zusammenhängen zu verstehen. Der gestirnte Himmel über mir - ergreifend und einladend! Dass ich mich für so etwas "Abseitiges" interessierte, trennte mich natürlich erst einmal von den AltersgenossInnen, die bald an Familie und Geldverdienen dachten. Meine eigene Entwicklung verlief erst mal ziemlich isoliert, nur mit wenigen Freunden unter den Amateurastronomen. Eine Mitschülerin in der Berufsschule sagte mir einmal, dass sie mich beneide, weil ich auf einen Sinn im Leben zusteuere, was sie sich nicht zutraute. Der selbstgesuchte Sinn hat mich also einerseits in eine ziemliche Einsamkeit geführt. Aber er hat mir andererseits auch den Verlust menschlicher Kontakte erträglich gemacht. Im schlimmsten Fall hätte ich wohl immer gedacht, ich bräuchte keine anderen Menschen sondern nur die Erforschung der Sterne, um glücklich zu sein.

Aber ich hatte mehr "Glück": Ich traf - mit bereits 23 Jahren - auf Menschen, bei denen meine besondere Entwicklung auf Interesse stieß, bei der ich "ich selbst" bleiben durfte - aber auch genügend Anregungen fand, nicht bei dem zu bleiben, was ich hatte, sondern mir neue Felder zu erschließen. Das war diesmal vor allem die Politik. Im Nachhinein wird mein Eintreten für eine Verbesserung der Situation in der DDR, speziell im Jugendverband FDJ, eher als verwerflich angesehen, weil alles Sozialistische verdammt wird. Aber für mich war diese Zeit eine glückliche, weil ich bei allen Problemen doch noch Möglichkeiten sah, diese zu bewältigen und genau dabei fand ich Freunde, mit denen ich in kritischen Situationen durch dick und dünn gehen konnte. Da ich meine früheren Jugendjahre im wesentlichen alleine verbracht hatte, ist mir die Freundschaft nie selbstverständlich geworden, sondern ich kann mich immer wieder neu daran erfreuen und das Glück spüren. Irgendwo hab ich mal eine Definition von Glück gelesen, in der Glück vor allem in der Fülle und Tiefe an menschlichen Beziehungen gesehen wurde. Genau das gilt für mich jetzt. Auch wenn ich zu Vorträgen eingeladen werde und nette Menschen kennen lerne, wie hier in Stuttgart, hat das für mich eine ganz grundlegende Bedeutung, die weit über das Abarbeiten eines Vortragsthemas hinaus geht.

Wenn Du Dich mit Astronomie und dann mit Politik beschäftigt hast, ...Inwieweit ist es legitim, Gesetze für die Gesellschaft aus der Natur abzuleiten?

Gar nicht. Wer sich mit einer Wissenschaft für ein Gebiet der Welt genauer beschäftigt, wird feststellen, dass verschiedene Grundbegriffe für bestimmte Wissenschaftsgebiete so definiert sind, dass sie genau die Verhaltensmöglichkeiten in diesem Gebiet beschreiben können. Wenn wir nun davon ausgehen, dass die Realität in aufeinander aufbauenden Folgen von Strukturniveaus strukturiert ist, so werden Grundbegriffe für einfache, basale Niveaus (z.B. Physik) zwar auch noch in den höheren Niveaus (z.B. biotisches Leben) gelten - aber gerade das, was das Besondere dieser höheren Formen des Seins ausmacht, lässt sich damit nicht beschreiben. Ich kann das Herabfallen einer Katze von einem hohen Baum mit dem Fallgesetz beschreiben, die Katze wird dann aber aus der Sicht der Physik zu einem Massepunkt und schon die faszinierende Fähigkeit, immer auf den Füßen zu landen, bleibt für die Physik ein ewiges Wunder. Erst recht ist es nicht angemessen, das Verhalten von Menschen auf ihre physikalischen Eigenschaften wie etwa ihre Raumverdrängung zu reduzieren . Das klingt zwar schon von vornherein ziemlich blöd, aber menschliches Handelns aus der Biologie heraus begründen zu wollen, ist grundsätzlich nicht intelligenter. Auch ein Übergang zu so allgemeinen Theorien wie der System- oder Chaostheorie kann höchstens Ähnlichkeiten umschreiben, die dann aber das Besondere des menschlichen Verhaltens nicht enthalten.

Bei welchen systemtheoretischen Vergleichen gerät man in Teufels Küche?

Ich selbst komme von einer Naturwissenschaft her - und interessiere mich gleichzeitig für die Gesellschaft. Das verleitet natürlich dazu, das Fachwissen dann auch im politischen Bereich anwenden zu wollen. Die Kosmologie, mein Spezialgebiet, eignet sich von vornherein dazu nicht besonders. Aber in meinem zweiten fachlichen Steckenpferd, den Selbstorganisations- und Chaoskonzepten, habe ich dann schon viele Analogien gesehen. Wenn schon in der Natur die Kooperation eine enorm große Rolle spielt, wieso sollte dann in der Gesellschaft nur das Konkurrenzprinzip gelten? Wenn schon in der Natur auch bei durchaus gesetzmäßigen Vorgängen nicht alle Verhaltensweisen aller Dinge vorherbestimmt ist, wie sollte dann die gesellschaftliche Entwicklung vorherbestimmt sein? Dies ist alles nicht falsch, es zeigt, dass das menschliche gesellschaftliche Leben nicht etwas völlig anderes ist als die Natur; es zeigt, dass es Übergänge aus der nichtmenschlichen in die menschliche Natur gibt. Aber auf gar keinen Fall können Erkenntnisse aus der nichtmenschlichen Natur einfach 1:1 in die Gesellschaft übertragen werden. Da hilft auch nicht der "Trick", das scheinbar Aller-Allgemeinste aus den Wissenschaften in eine Art Systemtheorie zu stecken (z.B. die Kybernetik, oder auch modernere allgemeine Theorien wie die Selbstorganisations- und Chaoskonzepte). Solche Konzepte sind zwar möglich und bringen in begrenzten Anwendungsbereichen auch spannende neue Erkenntnisse, aber von ihnen her können keine Aussagen über die Gesellschaft begründet werden. Sobald die freie Entscheidungsfähigkeit menschlicher Individuen durch die Behauptung systemtheoretischer allgemeiner "Gesetze" eingeschränkt werden soll, hat man das spezifisch Menschliche in des Teufels Küche gegart und verbraten.

Aber gibt es nicht viel sehr unterschiedliche Bücher von Frederic Vesters "Neuland des Denkens" bis zu Elmar Altvaters fulminanter Kapitalismuskritik "Grenzen der Globalisierung", die gerade dadurch ihre argumentative Schlagkraft gewinnen, dass sie die Gesetze der Natur (Energetik - Entropie, Sprachen in Natur und Kultur, ...) auf die Gesellschaft anwenden? Ich persönlich habe dein Buch "Surfende Schmetterlinge im politischen Chaos" als ebensolches grenzen-sprengendes Werk aufgenommen - ist es nicht gerade ein Ausbruch aus dem unmenschlichen, alles isolierenden und parzellierenden kapitalistischen Verwertungssystems, wenn im Denken angefangen wird, diese Isolierung und Parzellierung aufzuheben?

Ich muss aber auch nicht von einem Extrem ins entgegengesetzte springen. Wenn ich oben meinte, es gäbe unterscheidbare Strukturniveaus und es mache Sinn, einen fallenden Stein mit einer anderen Wissenschaft zu untersuchen als eine fallende Katze, so behauptet das nicht gleichzeitig, dass alles voneinander isoliert sei und die Wissenschaften in getrennten Parzellen stattfinden würden. Eine ganzheitliche Einheit, wie ich sie als sinnvoll empfinde, muss in sich die genausten Kenntnisse und Untersuchungen innerhalb der unterscheidbaren Bereiche enthalten und in diesem Zusammenhang dann auch die gegenseitigen Beziehungen der Bereiche näher bestimmen. Natürlich empfinde ich die vielen Gemeinsamkeiten in allen Bereichen auch als spannend und bereichernd. Aber wenn man einmal durch alle Bücher der 80er und 90er Jahre zu diesem Thema durch ist, wird es auch irgendwann langweilig. Es wiederholt sich alles, wieder und wieder. Ohne das, was man dabei denkt, als falsch anzusehen, wird es dann wieder spannender, sich den einzelnen Gebieten zuzuwenden und zu schauen, ob die Gesamtschau neue Ideen für die Klärung von Einzelfragen bringt, die dann zum großen Teil auch wieder innerhalb der traditionelleren Wissenschaftsgebiete stattfinden. Es ist ja nicht so, dass es nur noch in den großen übergreifenden inter- und transdisziplinären Wissenschaften Fortschritte gäbe - ich verfolge gerade in der Archäologie oder der Kosmologie seit ca. einem Vierteljahrhundert eine enorme Bereicherung der empirischen Erkenntnisse.

Ist ganzheitlich gleich esoterisch? Was ist Esoterik und welche Form von Esoterik ist ablehnenswert?

Esoterik ist ein weiter Begriff - neuerdings sollen esoterische Mystik und Wissenschaftlichkeit sogar vollständig verschmelzen, so dass der übliche Vorwurf des Irrationalismus fehl zu gehen scheint.

 
Ich denke, der Erfolg esoterischer Ansätze ist vor allem dadurch zu erklären, dass die bürgerlich-kapitalistische Lebensweise eine individuelle Vereinzelung der Menschen erzwingt. Letztlich sind die gesellschaftlichen Verhältnisse so, dass jeder Mensch sein Leben nur auf Kosten anderer und auf Kosten einer intakten Natur leben kann. Oft sind wir schon so weit, diese Lebensweise auch gedanklich gar nicht mehr zu kritisieren, es scheint so, als ginge es gar nicht anders. Aber letztlich leiden wir unter der Entfremdung, die uns von den anderen Menschen, der Menschheit als Ganzes und letztlich auch den zerstörten eigenen Lebenschancen trennt. Dieses Leid versuchen wir aufzulösen durch das Eintauchen in eine heilende Ganzheit. Wenn wir beim Streben, wieder "ganz" und unentfremdet zu werden, vergessen, welche gesellschaftlichen Verhältnisse dafür verantwortlich sind, dann verfestigt unser esoterisches Abtauchen genau diese Verhältnisse und dies lehne ich ab.

Ein weiteres Problem des esoterischen Denkens ist die Gewohnheit, dem Getrennten zu vorschnell das vereinheitlicht-Ganze gegenüber zu stellen. Den Widersprüchen des Lebens soll die widerspruchsfreie Harmonie des Ganzen gegenüber gestellt werden. Im Extremfall sollen die besonderen Momente im Ganzen als Besondere sogar verschwinden. Es gibt aber noch andere Formen von Gemeinsamem, bei denen die besonderen Momente ihre Besonderheiten nicht nur behalten, sondern bei denen das Ganze überhaupt erst durch die Besonderheiten entsteht. Eine menschliche Gemeinschaft kann nicht aus gleichartigen Robotern bestehen, sondern braucht die Vielfalt individueller Besonderheiten.

Zwar bestehen, wie schon erwähnt, Bestrebungen, auch der Esoterik eine (fragwürdige) wissenschaftliche Basis zu geben, aber die populäre Esoterik ist immer noch von der Ablehnung des Rationalen bestimmt. Dabei wird vergessen, dass es verschiedene Formen des Rationalen gibt. Man kann durchaus viele Argumente gegen eine einseitige Ausrichtung der sog. instrumentellen Rationalität haben, wie sie im Kapitalismus durchaus vorherrscht. Aber das ist kein Argument dafür, das Rationale, die Vernunft grundsätzlich abzulehnen. Die Orientierung an der menschlichen Vernunft war in der menschlichen Geschichte unabdingbar, um über die Verschiedenartigkeit der Menschen und Kulturen hinweg auf etwas Gemeinsames bauen zu können. Das einfache Anwenden des Denkens und Wissens zum Zweck des Anpassens ans Gegebene, des Herummanövrierens unter einengenden Bedingungen, kann auch "Verstand" genannt werden. Die "Vernunft" beinhaltet dagegen auch die Fähigkeit, Gegebenes in Frage stellen zu können, seine Bedingungen zu erkennen und die Veränderbarkeit dieser Bedingungen in den Mittelpunkt zu rücken. Insofern ist Vernunft vor allem kritisch. Esoterik, die oft das Kind (Vernunft) mit dem Bade (Verstand) ausschüttet, würde uns ein wichtiges Mittel nehmen, die derzeit beherrschenden Verhältnisse in Frage zu stellen.

Aber brauchen wir, um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die wir in Frage stellen, auch tatsächlich verlassen zu können, nicht eine gewisse normative Grundlage für neue, nicht-kapitalistische Werte? Gerade um sich in politischem Kampf auch auf persönliches Risiko einzulassen, ist doch vielleicht eine ganzheitliche Spiritualität, die einen sich als Individuum nicht so wichtig nehmen lässt, eine wichtige normative Grundlage, oder?

Und was machen wir dann mit denen, die sich partout nicht an die vorgeschriebene Spiritualität halten? Ich lese aus Deiner Frage die Position heraus, dass die ganzheitliche Spiritualität "das Individuum nicht so wichtig nehmen lässt" und dass Du das als wichtig empfindest für den politischen Kampf. Das sehe ich ganz und gar nicht so - hier haben wir einen großen Dissens. Bewegungen, die die Aufopferung des Individuellen für das große Ganze forderten hatten wir gerade im vorigen Jahrhundert schon genug. Eine Politik, die das Aufopfern des Individuellen fordert und das spirituell absichern will, ist meines Erachtens nach nicht emanzipativ. Soweit ich das erfahren habe, beruht die Hoffnung auf Erfolg in einer emanzipativen Politik gerade darauf, dass Individuen es nicht mehr ertragen können, von wem auch immer in ihrer Individualität eingeschränkt zu werden und sich dagegen zur Wehr setzen.

Wenn du den Menschen als ein Objekt in der Evolution neben vielen anderen Lebewesen siehst - würdest du dann als spezifisch menschliche Natur die Fähigkeit sehen, durch Ausdrücken seines Selbst und Verständigung mit anderen Lebewesen diesen Evolutionskreislauf zu durchbrechen - oder wäre das "unnatürlich" und nicht wünschenswert?

Das Besondere der menschlichen Natur ist eine besondere Form von Individualität und ihr besonderer Gattungscharakter. Bezüglich der Individualität zeichnet Menschen aus, dass sie sich gegenüber ihren Lebensverhältnissen, den natürlichen und den gesellschaftlichen, bewusst verhalten können. Das heißt, sie können die Bedingungen ihres Lebens erkennen und bewusst verändern. Diese Lebensbedingungen sind nun wiederum spezifisch für die Gattung Mensch: Menschen produzieren ihre Lebensmittel durch kooperativen "Stoffwechsel mit der Natur", den Marx "Arbeit" nannte. Sie verwenden dazu Arbeitsmittel, die sie extra dafür herstellen und längerfristig verwenden (sie nutzen nicht nur wie Tiere Naturgegenstände kurzfristig dafür, ein bestimmtes Ziel zu erreichen). Der Selbstausdruck und die Verständigung sind mit diesen beiden miteinander verflochtenen Besonderheiten verbunden. Durch die menschliche Geschichte ist die reine "Naturgesetzlichkeit" der biologischen Evolution durchbrochen. Evolution geschieht nicht mehr mittels biologischer Mechanismen, sondern wird bewusst durch die Menschen gestaltet. Menschen sind also primär Subjekte ihre Geschichte (deswegen stimme ich der Formulierung in der Fragestellung nicht zu, sie wären "Objekt in der Evolution neben vielen anderen"). Insofern ist alle Geschichte, die quasi hinter dem Rücken der lebenden Menschen hinweg geschieht, "unmenschlich". Nur eine bewusst gestaltete Form von Entwicklung entspricht der Natur der gesellschaftlichen Menschen - es wäre unnatürlich, die Geschichte in nichtmenschlichen Begriffe fassen zu wollen.

Das Sein bestimmt das Bewusstsein oder Das Bewusstsein bestimmt das Sein? Welcher These stimmst du zu?

Wie fast immer stimmt keine der Behauptungen allein genommen hundertprozentig. Schon die Fragestellung ist nicht ganz stimmig - denn das Bewusstsein von Menschen gehört zu ihrem Sein, es gibt kein menschliches Sein ohne Bewusstsein. In dem Sinne, in dem Marx einst behauptete, das Sein bestimme das Bewusstsein, meinte er etwas anderes. Dabei ist mit "Sein" nicht das individuelle In-der-Welt-Sein gemeint, das es wie eben ausgeführt, bei Menschen nur mit Bewusstsein gibt, sondern das, was jedem individuell bewussten Menschen als seiende Welt in ihren einmal gegebenen Strukturen als Grundlage gegeben ist. Ich werde in Strukturen, in Verhältnisse hineingeboren, die mein Bewusstsein nicht willkürlich bestimmen und verändern kann. Darauf zu achten, fordert die Aussage, das Sein bestimme das Bewusstsein.

Du propagierst eine Abschaffung der Erwerbsarbeit und ein "Recht auf Faulheit". Das ist nun selbst unter Linken und Umweltschützern nicht gerade etwas gern gehörtes - wie kann die Grundversorgung trotzdem gewährleistet werden und worauf müssten wir verzichten?

Du fragst nach der Gewährleistung der Grundversorgung. Um die Versorgung welcher Bedürfnisse soll es denn gehen? Derzeit wird uns eingeredet, wir würden ohne den Zwang zur Erwerbsarbeit elendiglich verhungern. Aber dem stelle ich entgegen, dass wirklich menschliche Bedürfnisse durch Erwerbsarbeit immer weniger befriedigt werden, sondern dass durch den Zwang zu kapitalistischer Lohn- oder anderer ausgebeuteter Arbeit (bzw. ihr Fehlen unter diesen Zwangsverhältnissen) ihre Entwicklung geradezu verhindert wird. Ist nicht auch das Entspannen, das Faul-Sein-Dürfen ein menschliches Bedürfnis? Ist die Ausarbeitung der eigenen Kräfte, das Bewirken von Nützlichem für sich und andere Menschen nicht auch ein grundlegendes menschliches Bedürfnis? Warum sollte es nicht möglich sein, das zum guten Leben Nötige durch solche lust- und kraftvolle Betätigung der eigenen Kräfte - in Abwechslung mit entspannenden Pausen - zu erzeugen?

Ich meine, Menschen können mehr als die Grundversorgung in freiheitlicher Tätigkeit miteinander erzeugen und sie brauchen auf nichts zu verzichten, was sie für ein gutes Leben brauchen. Das einzigste, auf was zu verzichten ist, ist Ausbeutung von Mensch und Natur und sinnentleertes Jobben.

Was hältst du von John Zerzans Gedanken, die Zeitmessung als den Beginn der Herrschaft wahr zu nehmen? Wäre deren Abschaffung nach der von dir propagierten Abschaffung der Lohnarbeit wünschenswert?

Ich kenne diese konkreten Gedanken nicht. Ich glaube aber durchaus, dass die Zeitmessung zum selben Zeitpunkt unser Leben zu beherrschen begann, wie andere Faktoren, z.B. die Herrschaft des Geldes, die interessanterweise parallel zu laufen scheint mit der Einführung des regelmäßigen Taktes in der Musik (Eske Bockelmann) und andere Erscheinungen. Verschiedene Formen von Herrschaft, zum Beispiel patriarchale und feudale, hat es schon lange vorher gegeben. Das sind typischerweise Herrschaftsformen, in denen Menschen unmittelbar und in persönlicher Weise andere Menschen unterdrücken und beherrschen. Historisch relativ neu dagegen sind Herrschaftsformen, die ihre Macht gerade nicht nur in unmittelbar persönlichen Beziehungen haben, sondern sie in Sachzwängen und Eigengesetzlichkeiten verankern, die von allen einzelnen Personen - auch den Herrschern - relativ unabhängig werden. Das war das, was ich oben auch als "gesellschaftliche Verhältnisse" beschrieb. Solche Verhältnisse sind nicht nur eine Summe von Verhaltensweisen, sondern sie sind den konkreten Verhaltensmöglichkeiten vorgelagert, sie sind die Basis für Grenzen, die im Einzelverhalten nicht mehr unmittelbar überschritten werden können. Ein Sklave kann als Haussklave vom Herrn in Luxus gehalten werden, eine Frau kann vom Mann geliebt und auf Händen getragen werden. Der Lohnarbeiter muss in Konkurrenz zu seinem Kollegen sein Leben fristen und auch der Kapitalist überlebt nur, wenn er die Arbeiter ausbeutet oder die Welt ausplündert. Der Kapitalist, der sagt, ich bin gut zu meinen Arbeitern, kann das nur auf Kosten höherer Gewinne, die er woanders her zieht oder er geht selbst unter. Die Herrschaft von Takt, Zeit und Geld haben als gemeinsames Merkmal, dass sich das Tun der Menschen von konkreten Vorgaben löst und abstrakten Vorgaben unterwirft. Diese Abstraktheit der nichtsdestotrotz konkreten, realen gesellschaftlichen Welt kann genauer unter dem Aspekt des "Wertgesetzes" aus dem Marxismus diskutiert werden.

Aus meiner Sicht ist es notwendig, diese Form der "Wert-Vergesellschaftung" (Robert Kurz) abzuschaffen und Formen der Gesellschaft zu entwickeln, bei denen Menschen konkret über ihre Bedürfnisse (zu produzieren und zu konsumieren) verhandeln und über Freie Vereinbarungen ihre Kooperationen organisieren. Gegenüber der vorkapitalistischen Zeit werden diese Beziehungen letztlich auch global weitreichend und auf Grundlage vieler inzwischen entwickelter Grundlagen (Internet...) auch höher entwickelt sein als jene vor aller persönlicher oder sachlicher Herrschaft.

Aber beruht die Möglichkeit zur "Faulheit", zu Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsverringerung, zur "Freiheit" nicht auf den neuen technischen Möglichkeiten, uns sowohl von der Abhängigkeit von der Natur als auch von der Abhängigkeit von kleinen Machtgruppen zu befreien - und uns dafür in eine Abhängigkeit von den technischen Möglichkeiten zu begeben, mit deren Wegfall unweigerlich die Freiheit vorbei wäre?

Technik ist per se weder ein Heilsinstrument noch Teufelswerk. Sie ist ein Ergebnis menschlichen Wirkens. Das Problem mit Technik entsteht dann, wenn sie sich verselbständigt und von uns nicht mehr kontrolliert werden kann. Da die Erzeugung der Technik schon lange nicht mehr von uns selbst geplant wird, sondern nur noch dem Profitinteresse dient, entfremdet sich in ihr unsere schöpferische Tätigkeit als Ingenieur oder Programmierer von Anfang an von uns selbst. Was da passiert, kann man auch mit den Begriffen Entfremdung bzw. Verdinglichung bezeichnen. Der "Trick", damit umzugehen, ist immer, das Verdinglichte wenigstens gedanklich erst einmal wieder zu verflüssigen. Das Ding, das uns gegenüber steht ("Technik") verliert seine fremde Macht über uns, wenn uns klar wird, dass wir sie im Prozess der Bedürfnisbefriedigung selbst erzeugen. Es ist nicht die Technik, die uns das Problem macht, sondern die gegenwärtige Praxis, dass nicht wir über unsere Tätigkeit bestimmen, sondern die Kapitalinvestoren und Arbeit"geber".

Die Angst vor dem Verlust der Technik gibt sich dann auch: Zwar könnten die technischen Gerätschaften weg sein - aber in uns selbst stecken das Wissen und das Können, sie bei Bedarf wieder neu zu erzeugen.

Unter anderen gesellschaftlichen Verhältnissen, also wenn wir selbst über die Art und Weise unserer Bedürfnisentwicklung und -befriedigung bestimmen, hängt unsere Freiheit nicht vor allem von technischen Möglichkeiten ab (wie es in der Frage formuliert wird), sondern von der Art und Weise unserer menschlichen Beziehungen. Aber es ist nicht zu erwarten, dass wir Menschen dann auf technische Möglichkeiten wie das Internet, Computer, flexibel-effektive Produktionsmaschinerien u.ä. verzichten würden. Diese Ergebnisse menschlichen Wirkens werden sehr nützlich sein, uns einerseits in der produktiven Tätigkeit mehr Freude, andererseits mehr freie Zeit für andere Aktivitäten zu verschaffen.

Es gibt Behauptungen, dass irrationale Angst und die schädigende Wirkung der Stresshormone (Krebs, Infarkte,...) allein bezüglich der Angst vor Atomkraft wesentlich mehr Menschen umgebracht als die Strahlung. Wie stehst du dazu?

Das glaube ich nicht. Es ist nachgewiesen, dass es unglaubliche Umweltschäden und menschliche Dramen in den Gebieten gibt, in denen das Uran abgebaut wird; es ist klar, dass viele Regionen dieser Erde über Jahrhunderttausende durch den Abfall gefährdet werden. Allein dies ist selbstverständlich für die Menschen, die das mitkriegen, mit psychischem Stress verbunden. Die Angst und der Stress selbst sind aber nicht nur rein biologisch-psychisch hervorgerufen. In unserer Welt, in der Profitinteressen, also die Verwertungszwänge des Kapitals, unser Leben bestimmen, muss man auch Angst haben - wer da keine Angst hat, ist schon über die Maßen verhärtet. Wenn mir ständig die Welt als Feind entgegen tritt, in Form von Konkurrenten um den Arbeitsplatz, in Form von Bürokraten, die mich zum Umzug in eine nicht vorhandene kleinere Wohnung nötigen, in Form von Technik, die mir immer mehr entgleitet - wie anders als mit Stress und Angst soll ich da reagieren? Meine Antwort besteht natürlich nicht darin, in dieser Angst zu verharren, sondern sich mit anderen Menschen zusammen zu tun, etwas gegen die Ursachen dieser Ängste zu unternehmen.

Was bedeutet für dich "Revolution" und gab es deiner Meinung nach dies in der Geschichte der Menschheit jemals?

Im modernen Sinn wird mit "Revolution" nicht das Zurück-Rollen gemeint (wofür seine Wortteile eigentlich stehen), sondern das Entstehen von etwas völlig Neuem. So etwas gab es in der Geschichte der Menschheit ständig. Es scheint einmal eine Zeit ohne Herrschaft gegeben haben - die Entstehung von Herrschaftsstrukturen war eine solche Revolution. Innerhalb der Herrschaftsformen gibt es für zusammenhängende geschichtliche Gebiete durchaus auch Veränderungen, bei denen sich in relativ kurzer Zeit sehr viel änderte. Phasen relativer Gleichförmigkeit, auch Rückschritte und des Entstehens von Neuem gibt es immer wieder. Was uns jetzt endlich hoffentlich zu tun bleibt, ist jene Revolution, bei der nicht wieder nur eine Herrschaftsform durch eine neue abgelöst wird, sondern eine neuartige herrschaftsfreie Gesellschaftsformation entsteht, in der vielfältige verschiedene Lebensformen, die sich nicht gegenseitig bekämpfen, sondern einander ergänzen, existieren können.

Welche soziale Bewegung seit dem Ende des 2. Weltkriegs hältst du für die wichtigste? 68er, Hippies, Friedensbewegung, Umweltbewegung, Globalisierungsbewegung, ...?
 

Alle zusammen sind das Fundament der Hoffnung, dass Menschen ihrer Entfremdung entkommen können, dass sie nicht zu Robotern werden, wie Erich Fromm befürchtet hatte. Hier lässt sich nicht eine Bewegung gegen die andere ausspielen, sondern das Besondere, das Neue der neuartigen Emanzipationsbewegungen ist, dass sie erstmalig grundsätzlich nicht gegeneinander wirken (es ist ein kapitalistisch-bürgerliches Prinzip, dass sich etwas nur gegen etwas anderes, auf Kosten von etwas anderem, im bewertetem Vergleich mit etwas anderem entwickeln kann).
Dass die beteiligten Menschen leider noch zu oft im "Gegeneinander-" oder "Besser-sein-" Schema übereinander und ihre Bewegungen denken, sollten wir schnellstens zu ändern versuchen.
Annette Schlemm, vielen Dank für das Interview!


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